Die langen Schatten des Großen Krieges
GESTERN hat man den zerstörten Körper eines gefallenen Soldaten gebracht, morgen wird ein legendärer Held diesen Ort verlassen“, beschrieb ein französischer Historiker 1920 die Verschleierung und Heroisierung der Gewalt, mit der man am Ende des Ersten Weltkrieges versuchte, die Trauer um die vermissten Toten in einen zusammenschweißenden Nationalmythos einzubetten. Doch weder die Beinhäuser der Gefallenen noch die Gedenksteine „für den Unbekannten Soldaten“, der auf fast keinem Friedhof fehlt, vermochten die Wunden zu schließen, die das grauenvolle Schlachten in die Herzen der Völker geschlagen hatte. Noch die heutige französische Literatur legt Zeugnis davon ab.
Von CARINE TREVISAN *
Am 25. Mai 2000, fast ein Jahrhundert nach seinem Tod, wurde in Frankreich der Leichnam eines im April 1917 gefallenen kanadischen Soldaten exhumiert, um ihn endlich in seine Heimat zu überführen. Von diesem Soldaten weiß man nichts – weder Namen noch Alter noch Herkunft. Known unto God (nur dem Herrgott bekannt), wurde ihm die höchste militärische Ehre zuteil: Stellvertreter aller Kanadier zu sein, die während des Ersten Weltkriegs in Frankreich gefallen und ohne Grab geblieben waren. Vor dem Sarg dieses Toten, als „unbekannter Soldat“ endgültig der Anonymität geweiht, wurden Reden um Reden gehalten – Gedenkreden, Festreden, Trostreden: „Sie werden nicht altern wie wir, die wir sie überlebt haben . . . Wir werden sie in Erinnerung behalten.“
Achtzig Jahre danach steht im Zentrum der Erinnerung an diese Katastrophe, mit der das Jahrhundert begann, die Trauer. Eine verdeckte Trauer, die aber umso nachdrücklicher ist, als die – schon im Verlaufe des Krieges strittig gewordenen – Gründe des Massakers und die Werte, in deren Namen man gekämpft hatte, in den Augen späterer Generationen jede Bedeutung verloren. Der Sinn, der dem Tod auf dem Feld der Ehre beigemessen wurde, der ihn durch eine symbolische Wendung erträglich machen sollte – man stirbt „für“ Frankreich, „für“ die Freiheit, „für“ die Verteidigung der Zivilisation gegen die Barbarei oder gar dafür, dass es nie wieder Krieg gibt –, verdunkelt sich in dem Maße, in dem der zeitliche Abstand zu dem Ereignis wächst. Heute wird dieser Tod mehr und mehr als ein nicht wieder gut zu machender Verlust empfunden.
Trotz der großen kollektiven Anstrengungen, den Toten, die nicht begraben werden konnten – weil sie unter zumeist grauenhaften Umständen starben –, ein letztes Geleit zu geben, haben bereits in den Kriegs- und Nachkriegsjahren zahlreiche Davongekommene und Hinterbliebene den schwer zu lindernden Schmerz über ihren Verlust bezeugt. In der Öffentlichkeit wurde die Kriegstrauer nicht verleugnet, ganz im Gegenteil, sie wurde mit Mahnmalen und einem aufwendigen Totenkult massiv in Szene gesetzt, aber der Schmerz wird dadurch nicht erträglicher, dass er das Los der Allgemeinheit ist. Die Trauernden von 1914 mit ihrem ganz persönlichen Verlust, den einem niemand abnehmen kann, fanden nicht immer Trost in der Glorifizierung des Todes auf dem Schlachtfeld oder in der Idealisierung des tapferen Soldaten – einem Diskurs, der durch die Bedingungen des industriellen Krieges in seinen Grundfesten erschüttert war.
In „Ceux de quatorze“ beschreibt Maurice Genevoix den Kämpfer weniger als Franzosen, der aufgerufen ist, sein Land zu verteidigen, denn als ein Kampftier, bestenfalls ein automatisiertes Wesen, das zu „dumpfem Leiden“ fähig ist. Ganz gleich, welchen Aspekt man hervorhebt – ob die Opferrolle des Soldaten in einem Krieg, in dem er die, die er tötet, fast nie zu Gesicht bekommt, aber ständig von denen umgeben ist, die an seiner Seite fallen, oder umgekehrt die neue Brutalität menschlicher Wesen, von denen man nicht geglaubt hatte, dass sie, im Genuss des höchsten Standes der Kulturentwicklung, dazu fähig wären1 –, dieser Krieg hat die Prinzipien der patriotischen Trostbezeugungen außer Kraft gesetzt, die das Grauen überdecken, um den Tod in etwas Denkbares und Bewundernswertes zu verwandeln. Mit Blick auf die Zeremonie, in deren Verlauf die Franzosen 1920 den Körper ihres „unbekannten Soldaten“ auswählten, hat Roland Dorgelès das ganze Ausmaß der Verschleierung und Verbrämung der Gewalt in folgende Worte gefasst: „Gestern hat man den zerschmetterten Körper eines Soldaten gebracht; morgen wird ein legendärer Held diesen Ort verlassen.“2
Trotz der nie dagewesenen Bemühungen um eine Verherrlichung, wenn nicht gar Heiligung der im Kampf Gefallenen, trotz der Errichtung eines Denkmals, das man als abschließendes Ritual betrachten kann, als ein Zeichen, dass das Totenhaus geschlossen und die Trauerzeit beendet ist, bleiben die Tränen des tief empfundenen Leids und drängen uns, die Möglichkeit einer kollektiven Verlustbewältigung in einem Massenkrieg neu zu hinterfragen. Die Hinterbliebenen, die in den Zwanzigerjahren die offiziellen Gedenkfeiern und gesellschaftlichen Trauerrituale füllten, waren taub für die staatsbürgerlichen Reden, die das nicht zu Rechtfertigende zu rechtfertigen und die Gefühle unter Kontrolle zu bringen versuchten. Das Leitmotiv war immer gleich: „Trocknet eure Tränen, die Toten haben etwas Besseres verdient, und sie allzu lange zu beweinen kann für sie nur bedeuten, dass sie umsonst gestorben sind, dass wir die Ideale, für die sie gekämpft haben, verleugnen.“
Doch so leicht lässt sich die Grausamkeit dieses Krieges und die Gewalt, der die Körper ausgesetzt waren, nicht auslöschen. Eine Schwelle der Gewalt wurde überschritten, und dieses Trauma kann man nicht „mildern“ – eine „Verrohung“ des Konflikts, wie der Historiker George L. Mosse es zutreffend genannt hat3 –, eine beispiellosen Missachtung der Würde des Menschen, ja des Todes selbst. Aus dem Kopf gerissene Gesichter, zerfetzte Münder, buchstäblich pulverisierte Körper, geschändete Leichen und ihre Verwendung als belangloses Material (als Schutzschilde, Orientierungspunkte, um sich in den Schützengräben zurechtzufinden). Dem Euphemismus, der abgehobenen Sprache oder Abstraktion der feierlichen Gedenkrede, die – eine Art Transsubstantiation des Fleisches in das Wort – den Tod entrücken lässt, entspricht in viele Zeugnissen eine Sorge um anatomische Präzision, rohe Bilder eines hässlichen Todes, die grauenvolle Wirklichkeit von Leichen, derer sich niemand mit der üblichen Fürsorge angenommen hat – im Unsäglichen modernde Leichen, widerwärtiger Unrat und doch der Überrest menschlicher Körper. Es ist das letzte Bild des vielfach gemarterten Toten, das sich so mit unwiderstehlicher Gewalt in die Texte und Erinnerungen der Überlebenden eingräbt, ein Bild, das nie vollständig erlischt.
Die Erfindung des unbekannten Soldaten ist hier besonders vielsagend. Den Trauernden, die ihre Toten nicht gefunden hatten, musste ein Körper gegeben werden, ein Grab, an dem sie sich versammeln konnten. Doch dieser Körper, ausgewählt unter acht auf dem Schlachtfeld exhumierten Leichen und am 28. Januar 1921 unter dem Arc de Triomphe begraben, war eine Abstraktion – kein Fleisch mehr, sondern ein Zeichen, stellvertretend für alle nicht identifizierten Körper, aber auch dazu bestimmt, die „französische Tapferkeit“ des siegreichen Soldaten, den Opfergeist und Heldenmut zu verewigen.
Der Trauernde hingegen hat das dringende Bedürfnis, sich „seinen“ Toten zu retten, sich wieder anzueignen, was ihm vom Staat genommen und dann vom Krieg zermalmt wurde. Aufgebracht über das, was er für zivilen Raub hält, lehnt er es ab, die Seinen in den namenlosen Überresten der großen Beinhäuser wiederzuerkennen, will er den anonymen Körper des unbekannten Soldaten nicht geschenkt bekommen, sondern erfindet eigene Formen und Praktiken, den Verlust und die Abwesenheit zu bewältigen. Dem opulenten Kriegerdenkmal setzen die Hinterbliebenen fragile private Reliquienschreine entgegen, in denen Bruchstücke persönlicher Gegenstände – eine Art Ersatz für den verschwundenen oder in der Ferne begrabenen Körper – auf Friedhöfen aufbewahrt werden, die oft als Kasernen post mortem erscheinen. Hier der kollektive Versuch, der Trauer ein Ende zu setzen – „Ihr, die wir euch so oft umherirren sahen [. . .], den Namen, die Spur eures Geliebten suchend [. . .], kommt her, zum Beinhaus der Gefallenen. Hier ist das Grab, das wahrscheinlich etwas von ihm enthält“, erklärte Hochwürden Ginisty bei der Einweihung des ersten Teils der Gedenkstätte von Douaumont im Jahr 1927 –, dort die unnachgiebige, manchmal wahnsinnige Beharrlichkeit, mit der die Familien die Suche nach den Toten oder ihren unwahrscheinlichen Gräbern betreiben.
Das Desaster des Ersten Weltkriegs hat alle Dimensionen gesprengt: Wir wissen, wie gering schon bei früheren Kriegen der Unterschied zwischen den Toten einer Schlacht und einem Haufen Unrat war, den man wie Abfall beseitigt; und ein ganzes Jahrhundert lang hat sich das Bild der Frau, die über der vergeblichen Suche nach dem Körper ihres Sohnes, Bruders oder Geliebten wahnsinnig wird, alptraumartig wiederholt.
Umso mehr springen die Vorkehrungen ins Auge, die für die eingangs erwähnte Zeremonie im Mai 2000 getroffen wurden. Der Sarg des unbekannten Kanadiers wurde am Fuß des Denkmals von Vimy aufgestellt, am höchsten Punkt der Crête de Vimy, wo im April 1917 mehr als 10.000 Soldaten starben. In die Mauern dieser kolossalen Gedenkstätte – auf einem Sockel aus 11.000 Tonnen Beton und hunderten Tonnen Stahl, besetzt mit Statuen, für die man 6.000 Tonnen Kalkstein aus einem Steinbruch an der Adria herbeigeschafft hatte – wurden die Namen von 11.285 kanadischen Soldaten eingraviert, die in Frankreich gefallen und ohne Grab geblieben waren . . . Die monumentale Ausstattung und der pompöse Festakt scheinen eine genaue Umkehrung dessen, was fehlt: identifizierte, nach bestimmten Ritualen begrabene Körper.
Totgeburten abwesender Körper
DASS die Trauer so nachhaltig ist und die Toten auf den riesigen Soldatenfriedhöfen an der Front des Großen Krieges uns manchmal so seltsam nahe vorkommen, liegt nicht nur daran, dass uns kaum zwei oder drei Generationen von ihnen trennen und sie, Zeugen einer vergangenen Geschichte, doch noch zu uns gehören: Sie kehren auch auf unerwartete Weise in unsere Gegenwart, unsere Reden und unsere Geschichten zurück. Das zeigt sowohl der Erfolg eines Films wie Das Leben und nichts anderes (1989) von Bertrand Tavernier, als auch die Bedeutung, die dieser Krieg in einer neuen Form von Autobiografie annimmt, die sich mit der Suche nach der eigenen Herkunft befasst und Forschungen über die Verstorbenen anstellt, die ein Schattenleben führen.4 Die Frage nach der Identität läuft dabei über die Erkundung einer Hinterlassenschaft: Was ist mein Erbe? Welche Phantome suchen mich heim? Wie soll man die Verbindung zu den eigenen Vätern denken, wenn die Geschichte sie zerstört hat?
Man lese nur die Romane des französischen Schriftstellers und Nobelpreisträgers Claude Simon, in denen der abwesende Körper des seit 1914 verschollenen Vaters allgegenwärtig ist; oder die des Schriftstellers Jean Rouaud, in dessen erstem Roman (Die Felder der Ehre, 1990) bereits der Soldatentod als der heimliche Ursprung aller späteren Trauerfälle in der Familie des Erzählers erscheint; oder der Literaturwissenschaftler und Erinnerungsforscher Pierre Bergounioux, der vom Ersten Weltkrieg schreibt: „Ich war dort durch jene, die sich in mir eingenistet haben.“5 In Fortführung des unvollendet gebliebenen und 1994 posthum veröffentlichten Romans Der erste Mensch von Albert Camus setzen sich die Kriegswaisen oder Nachkommen von Kriegswaisen mit der Amputation eines Teils der Wurzeln ihrer Identität auseinander.
Diese Texte sollen denen, die in der Versenkung der Geschichte verschwunden sind, einen eigenen Körper und ein persönliches Gesicht zurückgeben, sie der eisigen Buchführung der großen Zahlen, der Masse der Toten entreißen. Dem anonymen Grab des Vaters von Claude Simon, dem dunklen Schicksal des Vaters von Camus – der, als Zuave für den Einsatz im „Mutterland“ mobilisiert, schon 1914 in einer „unverständlichen Tragödie“ fern seiner leiblichen Heimat Algerien fiel – entspricht so das mit dem Namen des Sohnes gezeichnete Buch, das im Namen des stummen Vaters Zeugnis ablegt. Die Armenierin Janine Altounain, in gewissem Sinne ein wahres Wunderkind – ihre Eltern gehören zu den wenigen Überlebenden des Genozids von 1915 –, hat in erhellender Weise die schwierige Aufarbeitung beschrieben, die ein Nachkomme auf den Spuren der Gewalt leisten muss, wenn seine Vorfahren Opfer einer kollektiven Katastrophe waren: Oft haben die durchlebten Gräuel die Betroffenen auf immer sprachlos gemacht.6 „Man muss das Schweigen der Geschichte zum Reden bringen“, schrieb Jules Michelet, der Historiograph der Französischen Revolution (1798–1874) „ihre furchtbaren Orgelpunkte, an denen sie nichts mehr sagt, und die gerade ihre schlimmsten Untertöne sind.“7
Für die Rückbesinnung auf die blutigen und katastrophalen Anfänge des 20. Jahrhunderts lassen sich nun, an seinem Ende historische Gründe anführen: Der Zusammenbruch des kommunistischen Blocks, der Fall der Berliner Mauer, die Neuordnung der von 1918 überkommenen Landkarte Europas und, seit der Zerstörung Sarajewos – Ort der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich – das Gefühl einer unheilvollen Wiederholung des Vorfalls, der als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt. Man kann sich das Interesse aber auch mit der schwierigen und komplexen Genese der Erinnerung an den Großen Krieg erklären. Es sieht alles danach aus, als hätte in den Dreißigerjahren, beim Übergang der Nachkriegszeit in eine neue Vorkriegszeit, die nötige Ruhe für die Ausarbeitung eines solchen Gedächtnisses gefehlt, während sie nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Konfrontation mit dem unfassbaren Grauen der Judenvernichtung unterbrochen und verdeckt wurde.
Nachträglich in Erinnerung gebracht, erlaubt der Große Krieg die Frage nach der psychischen Einprägung unvergleichlich grausamer Ereignisse in ein generationsüberschreitendes Gedächtnis. Die Grausamkeit dieses Krieges tritt bei der Rückkehr zur Frage des Verlustes und der neuen Erfahrung der Barbarei in aller Schärfe hervor. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Arbeiten, insbesondere von Antoine Prost, mit denen die historiographische Erneuerung der Ereignisse von 1914–1918 eröffnet und die Grundlagen einer Kulturgeschichte des Zweiten Weltkriegs gelegt wurden – unter anderem repräsentiert durch die Beiträge der leitenden Historiker des 1992 begonnenen Historial de la Grand Guerre de Péronne – mit den Gedenkstätten oder der unvorstellbaren Hölle des „Gedächtnisorts“ par excellence, Verdun, befassen.
Unter dem gleichen Blickwinkel setzt sich der amerikanische Historiker Jay Winter in seiner eindrucksvollen Untersuchung Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History mit diesem Krieg auseinander;8 ähnlich auch Stéphane Audoin-Rouzeau, die in ihren fünf Berichten über die Trauer Hinterbliebener spürbar macht, wie schwer es trotz ursprünglicher „Billigung“ des Krieges ist, den Tod auf dem Schlachtfeld zu akzeptieren.9 Auch in dieser Hinsicht war der Erste Weltkrieg ein auslösendes Moment: Er hat nicht nur die unvorstellbare Barbarei hervorgebracht, deren Erbe das Jahrhundert prägen sollte, sondern auch die ersten theoretischen Texte zur Trauer – Freuds grundlegender Artikel Trauer und Melancholie erschien 1916.
Die Zerstörung der Erde ist ein Gemeinplatz aller Kriegsberichte, wobei die Verheerung der Landschaft ihr ganzes Ausmaß in Szenen mit Gasangriffen erreicht, die der Natur unwiderruflich ihr vertrautes Aussehen nehmen. Wichtiger als die Entstellung der Landschaft, die vor allem den Blick des Ästheten schockiert, scheint mir jedoch die Unfruchtbarkeit einer von Stahl und Leichen strotzenden Erde. Die sich selbst überlassenen Gebeine sind hier nicht mehr der symbolische Keim künftigen Lebens, und die Vorstellung von der Erde als Fundament, Ort der „Verwurzelung“ in Sinne von Barrès, wird zutiefst erschüttert.10 Während des Krieges zeigt die Erde, ganz im Gegenteil, ihr unbeständiges Gesicht: Sie scheint nur noch Dreck und Schlamm zu sein, eine gefräßige Masse, die alles verschlingt und lebendige Körper unter sich begräbt. Der jüngste Fund massiver Vorkommen von Granaten aus dem Ersten Weltkrieg, die ein ganzes Dorf zum Exodus gezwungen haben, verwandelt das, was in den Zwanzigerjahren einer melancholischen oder morbiden Vorstellung angerechnet werden mochte, in eine düstere Prophezeiung.
Als die Hauptpersonen eines vergessenen Romans aus den Zwanzigerjahren, Baltus le Lorrain, Verdun entdecken, das „Land der Toten“, richtet sich ihr Augenmerk auf das fast endgültige Versiegen des Pflanzenlebens: „Da herrschte eine Lebensfeindlichkeit, ein Verbot für Wurzeln und Samen. Überall in der weiten Landschaft jenseits des Saums, der sich unbestimmt und zackig in der Ferne verlor, sah man die Gestalt der bloßen Erde, ohne Bäume, ohne Ernte, ohne Gras. Welche Plage hatte sie so unfruchtbar gemacht?“11 Diese Erde ist nicht nur tot, sie ist vergiftet. Der Boden gibt nichts anderes mehr zu ernten her als Eisenschrott und Knochen. Statt Leben zu erzeugen, scheint er nur Tote zu gebären. In Le Réveil des morts (1923) von Roland Dorgelès ist es ein Bauer, der beim Pflügen seines Feldes Tote zum Vorschein bringt, wie Geburten – Totgeburten – aus dem Schoß der Erde. Tatsächlich gab die Erde der Schlachtfelder noch das ganze Jahrhundert hindurch Tote wieder her. Der Philosoph Paul Ricoeur, eine Kriegswaise, erzählt, er habe lange nicht gewusst, ob sein Vater wirklich tot war – die Kinder hatten nur einen Vermisstenbescheid erhalten. Erst 1932 wurde sein Körper „beim Pflügen eines Feldes“ gefunden.12
Durch die Entdeckung solcher makabrer Überreste und immer noch bedrohlicher Blindgänger einer mörderischen Kriegsmaschinerie entsteht eine Art gegenwärtige Vergangenheit, die das Maß des zeitlichen Abstands außer Kraft setzt. Dieser Krieg, der angesichts der furchterregenden Fortschritte bei der Verfeinerung und Schlagkraft der Vernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts geradezu prähistorisch anmutet, bewahrt in dem, was die Erde von ihm preisgibt, bis heute seine dumpfe, erschütternde Gewalt. In den Nordregionen und der Picardie fördern die Archäologen, die den Boden neuer Autobahnabschnitte und Bahntrassen untersuchen, laufend Überreste aus dem Ersten Weltkrieg zutage – Munition und Kriegsgerät, aber auch „Gräber“ von Menschen. Die Auffindung solcher Spuren bleibt nicht nur dem Zufall überlassen. Bekanntlich hat die Aushebung eines Massengrabs, in dem 1991 die Gebeine des seit 1914 verschollenen Romanciers Alain Fournier gefunden wurden, erstaunliches Interesse hervorgerufen.13 Der Archäologe, gewöhnlich mit der Erforschung einer fernen Vergangenheit befasst, berührt hier einen Bereich, der nicht der Geschichte vergangener Zeiten angehört, sondern dem Gedächtnis. Die Gebeine, die er ans Licht bringt, gehören keinem Toten, der ihn heute nichts mehr angeht, sondern vielleicht einem seiner Nächsten, der ihn nicht auf eine ferne, fremde Welt verweist, sondern auf seine vertraute Umgebung, manchmal die der eigenen Familie.
dt. Grete Osterwald
* Dozentin an der Universität Paris 7 – Denis Diderot. Autorin von „Les fables du deuil. La Grande Guerre: mort et écriture“, PUF. „Perspectives littéraires“, Paris 2001.