16.11.2001

Prostitution ohne Grenzen

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Prostitution ohne Grenzen

Von FRANÇOIS LONCLE *

Irina ist Moldawierin. Mit 18 hat sie ihre Heimatstadt Chișinău verlassen, weil sie eine Anstellung als Kellnerin in Mailand in Aussicht hatte. In Begleitung eines Mannes trat sie die Zugreise durch Moldawien und Rumänien an. Nachdem ihre Papiere unterwegs konfisziert worden waren, musste sie mehrere Staatsgrenzen illegal beziehungsweise mit heimlicher Unterstützung der zuständigen Zollbeamten passieren. Schließlich landete sie in Albanien – und das Land sollte für sie zum Inbegriff der Hölle werden. Sie wurde mehrfach verkauft und fiel am Ende einem albanischen Zuhälter in die Hände, der sie zur „Eingewöhnung“ wiederholt vergewaltigte. Als sie sich weigerte, in den Straßen auf Kundenfang zu gehen, wurde sie geschlagen und an einen anderen albanischen Zuhälter weiterverkauft, der sie wieder misshandelte und vergewaltigte. Dann wurde sie in einem kleinen Flachboot, das von Radarkontrollen nicht erfasst wird, nach Italien verschleppt. Am Ende ihres Leidenswegs war sie erst angekommen, als die italienische Polizei sie aufgriff und in ein Flüchtlingsheim brachte.

Irina ist eine jener osteuropäischen Prostituierten, die im Westen zuweilen als „Nataschas“ bezeichnet werden. Ihr tragisches Schicksal steht für das tausender Frauen aus Osteuropa, das gegenwärtig neben Asien, der Karibik und Afrika eines der Hauptrekrutierungsgebiete für Prostituierte darstellt. „Das Geschäft mit der sexuellen Ausbeutung zwischen Ost- und Westeuropa boomt“, so der Interpol-Mitarbeiter Björn Clarberg. Im Zeitalter der Globalisierung nimmt auch der Frauenhandel globale Ausmaße an. Neben den herkömmlichen Mafiastrukturen entwickeln sich immer mehr Zuhälterringe, die in großem Stil operieren und erkleckliche Profite erzielen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Zerfall Jugoslawiens haben die Entwicklung des Frauenhandels begünstigt, der auf einem Nährboden von Armut und Elend bekanntlich besonders gut gedeiht. Oft werden die Frauen entführt oder unter Vortäuschung falscher Tatsachen angelockt. Es gibt freilich auch Frauen, die aus freien Stücken handeln. Sie hoffen, genug Geld zu verdienen, um eines Tages in ihre Heimat zurückkehren und ihre Familie ernähren zu können. Drei Viertel dieser Frauen sind zuvor noch nie auf den Strich gegangen.

In Sachen Frauenhandel ist Europa dreigeteilt: erstens gibt es die so genannten Lieferländer, das sind Russland, die Ukraine und Rumänien; zweitens die Transitländer, wie das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien und Albanien; drittens schließlich die Zielländer. Zu diesen zählen beispielsweise Italien, Deutschland und Frankreich. Das Ausmaß des Frauenhandels hat im Lauf der letzten Jahre kontinuierlich zugenommen, was zum Teil daran liegt, dass Prostitution ein ausgesprochen lukratives Geschäft ist. „Vor allem aber“, erklärt Gerard Stoudmann von der OSZE, „ist sie wesentlich ungefährlicher als der Drogenhandel. Bislang existiert eben noch kein international verbindlicher rechtlicher Rahmen zu ihrer Bekämpfung.“

Moskau gilt als einer der zentralen Umschlagplätze des Frauenhandels. Von dort aus werden der polnische, der asiatische und der deutsche Markt versorgt – so kommt zum Beispiel die Mehrzahl der 7 000 Berliner Prostituierten aus dem Osten. Nach Angaben von Eleonora Lutschnikowa, Mitarbeiterin der Moskauer Stadtverwaltung, gibt es etwa 330 russische „Unternehmen“, die derartige Geschäfte abwickeln. An die 50 000 Frauen werden alljährlich außer Landes gebracht. In Polen konzentriert sich die Prostitution von Ausländerinnen auf die großen Verbindungsstraßen in Richtung Deutschland. Dasselbe gilt auch für die Tschechische Republik, wo vor allem Frauen aus der Ukraine und Russinnen landen. In Bulgarien, so die Hilfsorganisation Animus, sollen den Zuhältern etwa 10 000 Frauen ins Netz gegangen sein. Zuweilen endet deren Odyssee auch tödlich, wie im Fall zweier junger Frauen, die in Griechenland als Animiermädchen arbeiten sollten, jedoch im Januar 2000 bei dem Versuch, die griechische Grenze zu überqueren, erfroren.

Für Rumäninnen und Moldawierinnen beginnt die Reise häufig in Temeswar, wohin sie von lokalen Anwerbern gelockt werden. Von da geht es entweder zum Arizona Market von Brčko, dem wichtigsten Schmugglerzentrum Bosnien-Herzegowinas, oder aber ins serbische Novi Sad. Dort hat sich ein regelrechter Sklavenmarkt entwickelt. Rumänische Menschenhändler bieten Ukrainerinnen, Moldawierinnen, Rumäninnen, Bulgarinnen und Russinnen zum Kauf an. Sie werden nackt zur Schau gestellt und für etwa 1 000 Mark von serbischen Zuhältern erworben, die sie erst einmal vergewaltigen und misshandeln, bevor sie sie nach Albanien weiterschicken. So erging es auch der 17-jährigen moldawischen Studentin Nicoleta, die von einem serbischen Zuhälter geschlagen und vergewaltigt und dann in Belgrad weiterversteigert wurde. Auf diesem Weg geriet sie in die Hände eines weiteren Serben und verbrachte zwei Monate in einem Bordell im montenegrischen Podgorica. Anschließend wurde sie für 2 500 Dollar an einen Albaner verkauft, der sie noch brutaler behandelte. Der schwedische Justizminister traf in Sarajewo auf eine junge Frau, die so ganze achtzehn Mal den Besitzer gewechselt hatte.

Ähnlich düster sieht es im Kosovo aus. Als die 50 000 KFOR-Soldaten, die Mitarbeiter der UN-Mission im Kosovo (Unmik) und diverser Hilfsorganisationen dort ankamen, schossen die Bordelle „wie die Pilze aus dem Boden“, so der örtliche Chef der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Pasquale Lupoli. Hier werden überwiegend Frauen aus Moldawien, der Ukraine, Rumänien und Bulgarien zu Preisen zwischen 1 000 und 2 500 Dollar an kosovarische Zuhälter versteigert. „Diese Frauen waren nichts als Sklavinnen“, befand der Carabinieri-Hauptmann Vincenzo Coppola, nachdem er 23 von ihnen in Priština und Prizren befreit hatte.1 Im letzten Jahr wurden aus den 350 bosnischen Bordellen lediglich 460 Frauen befreit – dem stehen schätzungsweise 10 000 Frauen gegenüber, die in aller Heimlichkeit in diesen Häusern „aufgenommen“ wurden.

Laut Gérard Stoudmann ist das ehemalige Jugoslawien die Drehscheibe des organisierten Verbrechens, „das seine Finger bis in die Spitzen des Staatsapparats im Spiel hat“. Julia Harston, die UN-Vertreterin in Sarajevo, bezeichnet Bosnien zugleich als „Ziel, Durchgangsstation und Ausgangspunkt des Handels mit jungen Frauen“. Der Frauenhandel sei „auffallend gut organisiert, ohne dass dabei nach Nationalität, ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit unterschieden würde“, bemerkt Vincent Coeurderoy, Chef der International Police Task Force (IPTF). In Mazedonien ist das Dorf Velezde ein regionales Zentrum der Prostitution. Allein in diesem Ort betreibt die albanische Mafia sieben Bordelle.2 Ein Zuhälter wie der berüchtigte Bojko Dilaler verdient hier mehr als 20 000 Euro im Monat.

Albanien hat eine Schlüsselrolle in diesem schmutzigen Geschäft. Christian Amiard, der Chef des von der französischen Regierung eingerichteten Zentralen Büros für die Bekämpfung von Menschenhandel (OCRTEH), hat schon einiges an Scheußlichkeiten zu sehen bekommen. Dennoch konnte er es kaum begreifen, dass in Albanien „regelrechte Lager existieren, wo die Mädchen vergewaltigt und abgerichtet werden, bis ihr Wille gebrochen ist“. Wenn die Frauen Widerstand leisten, schrecken die albanischen Zuhälter auch vor Folter nicht zurück: Sie fügen ihnen Verbrennungen und Elektroschocks zu, schneiden ihnen Gliedmaßen ab oder werfen sie einfach aus dem Fenster.

Tana de Zulueta ist Mitglied der Mafia-Untersuchungskommission im italienischen Parlament. Sie geht davon aus, dass „die Albaner ein regelrechtes Prostitutionskartell aufgebaut haben“, mit anderen kriminellen Vereinigungen Geschäftsverbindungen unterhalten und ihre Aktivitäten auch immer wieder ausweiten. So hatte sich etwa eine einflussreiche Bande, die in den Abruzzen ihr Unwesen trieb und schließlich von den Carabinieri zerschlagen wurde, auf den Handel sowohl mit Drogen als auch mit jungen osteuropäischen Zwangsprostituierten spezialisiert. Nach Angaben des Sozialministeriums arbeiten in Italien etwa 50 000 Prostituierte, die Hälfte von ihnen Ausländerinnen. Der Umsatz aus diesem Geschäft beläuft sich nach vorsichtigen Schätzungen der Polizei auf monatlich 93 Millionen Euro.

In Frankreich kam die Prostitution von Osteuropäerinnen im November 1999 ans Licht der Öffentlichkeit, als die von 23 Messerstichen entstellte Leiche der 19-jährigen Ginka aus Bulgarien auf einem Pariser Boulevard gefunden wurde. Die Prostituierten aus Osteuropa, deren Anzahl in den letzten zwei bis drei Jahren sprunghaft gestiegen ist, machen nach Angaben von Christian Amiard in Frankreich über die Hälfte der ausländischen Prostituierten aus. Diese sind inzwischen genauso zahlreich wie die französischen Prostituierten. In Nizza arbeiten vor allem Kroatinnen, Russinnen und Lettinnen, in Straßburg sind es Tschechinnen und Bulgarinnen, in Toulouse Albanerinnen. Ein bulgarischer Frauenhändlerring, der monatlich über 30 000 Euro abwarf, konnte in Nizza durch die Polizei zerschlagen werden. Zuvor wurde das erwirtschaftete Geld per Postüberweisungen in die Heimat geschafft und dort ins Immobiliengeschäft investiert. Etwa die Hälfte der insgesamt 7 000 Pariser Prostituierten sind angeblich ausländischer Herkunft, unter ihnen befinden sich an die 300 Albanerinnen. Claude Boucher, Vorsitzende der Pariser Hilfsorganisation Bus des Femmes, weist darauf hin, dass eine osteuropäische Prostituierte täglich zwischen 15 und 30 Freier bedienen muss. Andernfalls wird sie von ihrem Zuhälter geschlagen, da dieser von ihr erwartet, dass sie zwischen 3 000 und 6 000 Franc am Tag abliefert. Insgesamt erarbeiten die etwa 15 000 Prostituierten in Frankreich jährlich schätzungsweise einen Umsatz von 3 Milliarden Euro.

Die albanischen Zuhälterringe operieren häufig von Belgien aus, insbesondere von Brüssel, wo sie mit Kurden und Türken um die Kontrolle der Bordelle von Antwerpen konkurrieren, in denen 450 osteuropäische Prostituierte tätig sind. Von dort aus überwachen sie die jungen albanischen, kosovarischen oder moldawischen Prostituierten, die in Paris und anderen französischen Großstädten arbeiten. Dagegen wird die planmäßige Ausbeutung von Ukrainerinnen, Tschechinnen, Slowakinnen und Bulgarinnen vornehmlich in Deutschland organisiert, so zum Beispiel in dem nahe der deutsch-französischen Grenze gelegenen Städtchen Kehl, wo Zuhälter und Prostituierte im selben Hotel wohnen. Die deutsche Polizei ist machtlos gegen sie, weil sie sich in Deutschland keine Straftaten zuschulden kommen lassen. Jeden Tag überqueren die Frauen die Europabrücke, um in Straßburg auf den Strich zu gehen. Dort hat sich die Anzahl der Prostituierten innerhalb der letzten zwei Jahre verdoppelt.

Um dem Einhalt zu gebieten, hat die elsässische Hauptstadt im August 2000 eine Verordnung erlassen, die Fahrzeugen das Parken auf bestimmten Uferstraßen verbietet. In London haben die Behörden die Straßenbeleuchtung verbessert und die Verkehrsführung in den Rotlichtvierteln Tooting und King’s Cross neu geregelt, um die Freier abzuschrecken. Mit derartigen Maßnahmen erreicht man allerdings nur eine Verlagerung des Problems. Sie dokumentieren im Übrigen hauptsächlich, wie hilflos und überfordert die westlichen Länder dem Phänomen gegenüberstehen. Die Schwierigkeit liegt mitunter darin, dass das Geschäft mit der Prostitution auf der einen Seite von den liberalen Bestimmungen des Schengener Abkommens profitiert und dass ihm auf der anderen Seite die von Land zu Land verschiedenen gesetzlichen Regelungen und die national begrenzte Wirksamkeit rechtlicher Maßnahmen zugute kommen.

Westeuropa ist in der Tat schlecht vorbereitet auf das Problem. Nach wie vor stehen sich zwei Lager gegenüber: Die einen wollen die Prostitution reglementieren, die anderen würden sie am liebsten ganz abschaffen (siehe Kasten). Für die einen stellt Prostitution ein notwendiges Übel dar, das aus sozialen, gesundheitlichen und moralischen Gründen möglichst unter Kontrolle gehalten werden muss. Die anderen halten sie für grundsätzlich unvereinbar mit der Würde des Menschen, auf die auch das internationale Übereinkommen gegen Prostitution von 1949 Bezug nimmt. Nur in einem Punkt sind sich die europäischen Länder einig: dass Prostitution keine Straftat darstellt.

Auch wenn in der Prostitution die grundlegenden Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen ebenso zum Ausdruck kommen wie die zwischen Arm und Reich, zwischen Norden und Süden oder Osten und Westen – die französische Bevölkerung steht ihr offenbar ebenso gleichgültig gegenüber wie die Behörden. Martine Costes von der Organisation Metanoya hat darauf hingewiesen, dass die sexuelle Vermarktung des menschlichen Körpers wesentlich weniger Empörung auslöst als beispielsweise Organentnahmen zu kommerziellen Zwecken oder Geschäfte mit der Leihmutterschaft. Laut einer Sofres-Umfrage vom Mai 2000 halten 52 Prozent der Französinnen und Franzosen Prostitution für eine unabänderliche Gegebenheit. Auch heißt es manchmal, das so genannte älteste Gewerbe der Welt sei „ein Schutzwall gegen Vergewaltigungen“. Dieses Argument verschleiert jedoch eine tragische Wirklichkeit: 80 Prozent der Prostituierten sollen in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden sein. Prostitution ist kein Beruf, sondern Schauplatz der Ausbeutung von Frauen durch Männer.

Anstatt sich in die aufgeregte Debatte zwischen den Befürwortern einer gesetzlichen Regelung und den so genannten Abolitionisten zu verstricken, täte man besser daran, sich um die Frauen zu kümmern, die der Prostitution zum Opfer fallen, und sie – mit den Worten von Jacques Millard, einem Vertreter der französischen Hilfsorganisation Le Nid – von ihrem „täglichen Selbstmord“ zu befreien. Die Auffassung, dass die Prostitution unausrottbar sei, muss bekämpft werden. Frankreich und seine europäischen Partner sollten ein umfassendes Maßnahmenpaket entwickeln, das von Strafmaßnahmen über die Vorbeugung bis hin zu Wiedereingliederungsmöglichkeiten für die betroffenen Frauen reicht.

Eine Institution wie das französische OCRTEH, das derzeit über lediglich 14 Polizeibeamte verfügt, brauchte dringend personelle Verstärkung. Auf europäischer Ebene könnte nach dem Vorbild der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) eine entsprechende Behörde in Sachen Prostitution eingerichtet werden. Eine solche Institution könnte mehr Informationen über dieses vielschichtige und bislang schlecht erforschte Phänomen zusammentragen, erforderliche Maßnahmen ermitteln und sie vorantreiben.

Der britische Innenminister Jack Straw hat einmal gesagt: „Die Einzigen, die von einer verstärkten Zusammenarbeit in Europa etwas zu befürchten haben, sind die Kriminellen, die sich die Unterschiede zwischen den Gesetzgebungen zunutze machen.“ Insofern käme es darauf an, die nationalen Gesetzgebungen und die Strafprozessordnungen zu vereinheitlichen, indem Straftatbestände gemeinsam definiert und Strafmaße angeglichen werden. Derzeit riskieren Zuhälter in Deutschland eine Mindeststrafe von sechs Monaten Freiheitsentzug, in Irland sind es zwei Jahre, in Dänemark vier und in Frankreich ganze fünf Jahre Haft.

Europaweite Ermittlungsteams

NEBEN speziellen EU-Programmen wie Stop oder Daphne, die sich gegen Frauen- und Kinderhandel richten, beabsichtigt die Europäische Union im Rahmen ihrer gemeinsamen Innen- und Sicherheitspolitik (die so genannte dritte Säule der EU nach Maastricht), schärfer gegen das organisierte Verbrechen vorzugehen, und zwar sowohl durch die Gründung der neuen EU-Justizbehörde für grenzüberschreitende Ermittlungen, Eurojust, als auch mithilfe von Europol. So soll beispielsweise die Bildung gemeinsamer Ermittlungsteams gefördert werden. Im April 2001 hat es die Zusammenarbeit der deutschen, ukrainischen und österreichischen Polizei bereits möglich gemacht, einen Frauenhändlerring zu zerschlagen, der Weißrussinnen ausbeutete. Die Frauen waren zunächst in sächsische und thüringische Bordelle eingesperrt worden und dann an österreichische Etablissements weiterverkauft worden.

Obwohl der Druck von Seiten der Länder, die eine gesetzliche Regelung der Prostitution bevorzugen, groß ist, wurde mit der Unterzeichnung der UN-Konvention gegen grenzüberschreitendes organisiertes Verbrechen durch 124 Staaten im Dezember 2000 in Palermo ein wichtiger Schritt in Richtung internationale Zusammenarbeit getan. Das Zusatzprotokoll über Menschenhandel, das zwar nur von 80 Ländern unterzeichnet wurde, enthält laut Tana de Zulueta immerhin ein „innovatives Instrument“, indem es den Opfern von Zwangsprostitution eine Aufenthaltserlaubnis in Aussicht stellt.

Die Europäische Kommission prüft derzeit noch die Umsetzbarkeit einer solchen Aufenthaltsregelung, die in Belgien bereits seit 1995 und in Italien seit 1998 zur Anwendung kommt. So haben verschiedene Einrichtungen, darunter Payoke in Antwerpen, Pag-asa in Brüssel und Sürya in Lüttich, innerhalb von fünf Jahren bereits 700 Prostituierten, die mit den Polizeiermittlern zusammenarbeiteten, eine Ausbildungsmöglichkeit und finanzielle Beihilfen zur Verfügung gestellt. Eine Aufenthaltserlaubnis, wie sie durch die italienischen Behörden ausgestellt wird, ermöglicht es den Frauen, staatliche Sozialleistungen zu beziehen, zu studieren oder zu arbeiten. Nach Angaben der ehemaligen italienischen Sozialministerin Livia Turco wurden im Jahr 2000 insgesamt 600 solcher Aufenthaltsgenehmigungen ausgestellt.

Die französische Polizei dagegen zieht es vor, auch ohne dass eine Prostituierte Anzeige erstattet hat, Ermittlungen gegen Zuhälter aufzunehmen. Dieses Vorgehen mag zwar dazu beitragen, dass den Frauen Repressionen erspart bleiben. Aber ausländische Prostituierte haben nach wie vor einen schwachen Stand, solange sie als illegale Immigrantinnen gelten und jederzeit abgeschoben werden können. Deshalb müssten sie offiziell ausschließlich als Opfer betrachtet werden, was ihnen einerseits einen gewissen Schutz gewähren und ihnen andererseits die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglichen würde – das ist freilich leichter gesagt als getan. Neben Frauen wie Nicole Castioni, die nach fünf Jahren Straßenstrich auf der Pariser rue Saint-Denis heute im Genfer Parlament sitzt, oder Yolande Grenson, die heute die Organisation Pandora leitet, nachdem sie in Belgien 17 Jahre lang Prostituierte war, gibt es die zahllosen Frauen, denen der entscheidende Schritt nicht gelingen will. Die Gründe liegen auf der Hand: realitätsferne Gesetze, unzureichende Strukturen und Personalmangel. Eine Wiedereingliederungspolitik muss mit Nachdruck und Engagement verfolgt werden. Sie muss Beratung, Betreuung und Hilfsangebote umfassen und staatliche wie nichtstaatliche Akteure gleichermaßen einbeziehen. Eine solche Partnerschaft ist unabdingbar, da Prostituierte häufig davor zurückschrecken, vor den Behörden auszusagen. Ein trauriges Beispiel hierfür lieferte das Scheitern der 1960 in den französischen Departements eingerichteten Präventions- und Resozialisierungsstellen, von denen heute gerade noch fünf existieren.

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Vereine können als Vermittler von großem Nutzen sein. Dies musste auch Mireille Ballestrazzi von der Zentraldirektion der französischen Kriminalpolizei anerkennen. Es wäre folglich angebracht, die 1970 eingerichteten Departementalräte wiederzubeleben. Sie könnten ein sinnvolles Vorgehen vor Ort möglich machen, denn sie sind in der Lage, die Vertreter der verschiedenen Verwaltungsbereiche und der betreffenden Vereine und NGOs an einen Tisch zu bringen.

Bislang hat der französische Staat die Verantwortung für die Wiedereingliederung weitestgehend den Vereinen überlassen. Diese (wie z. B. Altair in Nizza, Cabiria in Lyon, Penelope in Straßburg, Le Pas in Dijon) sind zwar ausgesprochen engagiert und kennen sich in der Praxis gut aus, aber sie verfügen nur über begrenzte Mittel, während ihr Aufgabenfeld stetig wächst. Sie haben mit immer mehr Menschen zu tun, deren Sprachen und Kultur sie nicht kennen. So musste beispielsweise die Organisation Accompagnement Lieu d’Acceuil (ALC) im Departement Alpes-Maritimes unlängst eigens eine russische Vermittlerin einschalten. Sozialarbeiterinnen und Ehrenamtliche sollten – nach dem Vorbild des Sozialamtes für das Departement Loire-Atlantique – in Sachen Prostitution fortgebildet werden.

Außerdem müssen, wie auch von der sozialistischen Senatorin Dinah Derycke gefordert, die Geldmittel, die solchen Organisationen zur Verfügung stehen, dauerhaft aufgestockt werden. Derycke schlug darüber hinaus vor, mehr Unterkünfte bereitzustellen und die Maßnahmen vor Ort zu verstärken, eine finanzielle Beihilfe oder sogar ein Steuerfahndungsmoratorium einzuführen, Fortbildungsprogramme und berufliche Möglichkeiten für die Frauen anzubieten.

Insbesondere Italien hat auf diesem Gebiet Erfahrungen vorzuweisen, die für die anderen europäischen Länder lehrreich sein könnten. Erwähnt sei zum Beispiel die Casa Regina Pacis in einem kleinen apulischen Badeort namens San Foca, wo Pfarrer Don Cesare Lodeserto etwa sechzig Osteuropäerinnen beherbergt, die aus den Klauen der Zuhälter befreit worden sind. Oder Don Oreste Benzi, ein Priester in Rimini, der über 1 000 Prostituierten bei der Wiedereingliederung geholfen hat.

Auch die letzte italienische Regierung hat mit einer Fernsehkampagne das Ihre zu der Entwicklung beigetragen. Dies war nach Ansicht von Livia Turco „ein in Europa einzigartiges Experiment“, das auf zwei Ebenen wirkte: Zum einen führte es den potenziellen Freiern klar vor Augen, welche Gewalt den Prostituierten angetan wird. Und zum anderen bot es den Frauen einen Ausweg an: Auf der rund um die Uhr erreichbaren Notrufnummer sind in weniger als zwei Monaten 47 000 Anrufe eingegangen. Insgesamt haben an die 1 000 Ausländerinnen von dem Wiedereingliederungsprogramm profitiert. Gleichzeitig hat Italien sich verpflichtet, die Berufsausbildung abgeschobener nigerianischer Frauen zu fördern. Sie können unter anderem in einer Fortbildungsstätte im nigerianischen Benin City eine EDV-Ausbildung absolvieren oder das Hotel- und Gaststättengewerbe erlernen.

Dieses Beispiel veranschaulicht, wie wichtig Maßnahmen sind, die in und zusammen mit den Heimatländern der Prostituierten ergriffen werden. Dies gilt erst recht in Sachen Prävention. Die Internationale Organisation für Migration hat in Ungarn eine Präventionskampagne mit Hilfe von Broschüren und Fernsehspots durchgeführt. Und die Regierung in Sofia hat eine Liste aller Unternehmen veröffentlicht, die die Genehmigung haben, Arbeitskräfte fürs Ausland anzuheuern, um damit denjenigen, die mit Kleinanzeigen und trügerischen Arbeitsangeboten junge bulgarische Frauen anzulocken versuchen, das Handwerk zu legen.

Abgesehen davon, dass die Frauen vor den ihnen drohenden Gefahren gewarnt werden müssen, gilt es natürlich auch, die männliche Bevölkerung zu informieren. Ob Schmuggler, Zuhälter oder Freier – sie alle sind, wenn auch auf unterschiedliche Weise, an der Ausbeutung der Frauen beteiligt. Wenn die Zuhälter bestraft werden sollen, müssten dann nicht auch, wie in Schweden, die Freier sich auf Strafmaßnahmen gefasst machen? Oder soll man sie, wie in Kanada, therapieren? Sie umerziehen wie in Kalifornien?

In jedem Fall aber geht es darum, einen Denkprozess in Gang zu bringen. Da sollte man schon in der Schule ansetzen, wo man Jugendliche im Rahmen des Sexualkundeunterrichts über die grausame Wirklichkeit der Prostitution informieren und ihnen bewusst machen könnte, dass es sich dabei um eine schwere Verletzung der Persönlichkeitsrechte handelt; dass der menschliche Körper ein unveräußerliches Gut ist und dass es die glückliche Prostituierte nicht gibt.

dt. Miriam Lang

* Journalist

Fußnoten: 1 AFP, 24. April 2000. 2 Die internationale Gemeinschaft wartet nur vereinzelt und halbherzig mit Maßnahmen auf: Polizeirazzien in Bars, Ausweisung von zwei Dänen, die als Freier beschuldigt wurden, Entlassung einiger amerikanischer Offiziere und Einleitung von Ermittlungen, nachdem deutsche KFOR-Soldaten in Bordellen, die Minderjährige beschäftigten, angetroffen worden waren.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von FRANÇOIS LONCLE