16.11.2001

Johan van der Keuken – Leben mit den Augen

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Johan van der Keuken – Leben mit den Augen

Von PHILIPPE LAFOSSE *

DIE Kamera folgt erst den Scheinen und Münzen der Zocker in einer Straße von New York und dann mit derselben akribischen Aufmerksamkeit den unzähligen Telefonen und der Betriebsamkeit der Amsterdamer Börse. Hier wie dort sind Spieltrieb und Gewinnsucht Antrieb der fiebrigen Geschäftigkeit. Nur dass man – so lässt sich schließen – das Geld an der Börse nicht sehen kann. „Geld, Gold und überhaupt alles, was mit Gier zu tun hat, sind meines Erachtens die einzigen Dinge, die einem das Recht geben, jemanden mitten in der Nacht aufzuwecken“, erklärt ein Anlageberater von seinem Bürosessel aus. Draußen, hinter der Fensterscheibe, nichts als Schnee, Matsch und Kälte. An einem Ort weit jenseits des Büroalltags sind Arbeiter mit Helmen am Werk. Man sieht sie nur im Gegenlicht. Bilder von der Statue eines brüllenden Löwen oder von hängenden Tierhälften in einem Schlachthof rhythmisieren den unaufgeregten Vortrag eines Hongkonger Bankchefs, der erklärt, dass der Wert des Dollars ebenso wenig überhöht sei wie der Preis eines Steaks, so lange es Leute gibt, die es kaufen.

Wir sind in Kathmandu, in Burkina Faso, in Paris und Rio de Janeiro, auch in Palästina, Tibet, Sarajevo und Peru, in Amsterdam und Mali. An diesen und allen anderen Orten ging es für Johan van der Keuken darum, „anwesend zu sein“ – also dort zu sein, wo die Menschen sind. Und darum, „irgendetwas Zeitloses in den Gesichtern und in den Existenzen festzuhalten“. Der niederländische Filmemacher, Fotograf, Kritiker und Schriftsteller hat in vierzig Jahren rund fünfzig (kurze, mittellange und abendfüllende) Filme gedreht. Filme mit großem Atem, die aus vielen ineinander verflochtenen Handlungssträngen bestehen und ständig zwischen Vorgriff und Rückblende hin- und herspringen; mit bescheidenen Mitteln gedreht und doch niemals exotisch. Filme der Verschmelzung – Welten und Körper durchdringen sich hier –, sie erinnern daran, „dass wir alle aus einem Stoff gemacht sind“.

Einfühlsam und redlich sucht und wählt die Kamera ihre Einstellungen. Sie nähert sich einem bestimmten Licht, einer bestimmten Wahrheit, versucht sie zu erfassen, angetrieben von dem Bestreben, „die Wirklichkeit zu berühren“. Sie lauscht und macht sichtbar. Nie führt sie irgendetwas vor.

„Was sie einfängt, ist eine Gegenwart, und sonst nichts“, erklärte der Filmemacher 1993: „Wir waren dort, wir sind dort. Etwas geschieht, und wir sind dabei. Etwas geschieht, weil wir dabei sind. Das genügt, um Spannung und Konfrontation zu erzeugen. Es geht nicht nur darum, den Ereignissen zu folgen und sie festzuhalten, sondern auch darum, sich selbst von den Geschehnissen provozieren und berühren zu lassen. Wesentlich ist, für die Spannung dieses provozierten Zufalls offen zu sein. Cinéma Vérité: ein Kino der Wahrheit unseres Körpers inmitten der Bewegungen, die um uns herum stattfinden. Direct Cinema: ein Kino der Verschmelzung von Körper und Kamera für die Dauer der Aufnahme, also so lange, wie man im Gleichklang mit all dem Unvorhersehbaren ist, das man selbst ausgelöst hat.“1

Ein Loch in einer Mauer. Es ist gerade groß genug, dass ein Mann hindurchschlüpfen kann. Darüber warnt ein Graffito: „Death“. Ein Latinoviertel in New York. Hier ist man vom Elend gelähmt, bedrängt vom ständigen Kampf ums Überleben. Und doch träumt man hier, improvisiert gelegentlich einen Tanz auf dem Bürgersteig. Es sind Augenblicke der Flucht und der Fröhlichkeit zwischen Häusern, die in Brand gesteckt wurden, um später für die Reichen wieder aufgebaut zu werden.

Von den Kindern der Favelas wechselt die Kamera zu den Drachenfliegern am Himmel. Sie gleiten langsam, wie müde Vögel. „Die Gleiter überfliegen die Favelas, die Elendsviertel“, erklärt der Regisseur. „Die Bewohner dieser Favelas sehen die Gleiter über ihren Köpfen. Sie selbst werden nie an einem solchen Gleiter hängen. Und die Reichen, die sich den Flug leisten können, werden nie auch nur einen Fuß in die Favelas setzen.“ Und schon schweben wir mit dem Filmemacher am Himmel: „Letzlich habe ich nichts zu verlieren. Es macht mir keine Angst, zu fliegen. Es ist eher angenehm, so weit über der Wirklichkeit zu schweben. Ohne das Leid der Armut und mit nur geringem Risiko, abzustürzen.“

Und immer wieder Gesichter, die aus dem Off über sich erzählen oder über die der Filmemacher erzählt. Ein Mund, ein Auge, ein Profil. Jemand posiert, ein anderer ignoriert die Kamera. Ein Schiff fährt langsam in den Hafen von Marseille. Unbekannte Gesichter lauern bekannten auf: einem Präsidenten, einem Minister. Ein Fotograf bringt ein Ehepaar in Positur. Es wird über die Arbeit gesprochen, über Arbeitslosigkeit und Empfängnisverhütung, über die Diskriminierung der Frauen und den Krieg aus der Sicht von CNN.

In den Dokumentarfilmen van der Keukens, dessen Vater der Meinung war, dass „die Sozialisten zu weit rechts stehen“, ist jeder Augenblick das Glied einer Kette und jeder Film ein Knoten in einem die Erde umspannenden Geflecht. Die Sprachen durchmischen sich – Englisch, Französisch, Niederländisch, Portugiesisch, Spanisch und die Sprache der Zeichen – und lassen Raum für Gesten, für das Schweigen, für ein Saxophon, das sich erhebt wie eine Klage. Städte und Berge erschließen sich, Wüsten ziehen vorbei – alle Farben und alles Schwarzweiß dieser Welt, der Rhythmus ihres Atems und das Wehen des Windes in den Zweigen.

In Prag gibt es zwei Männer, die ihre Tätowierungen vorzeigen und von ihrer elenden Existenz erzählen. Fußballfans stürmen ein Spielfeld, und in Marseille, wohin wir dem Regisseur gefolgt sind, hören wir Jugendliche über die islamische Religion sprechen. Wir hören die Stimme eines Investors, der mit unerschütterlichem Optimismus an die Anpassungsfähigkeit eines jeden Menschen glaubt, und bekommen dann Menschen zu sehen, die in Abfällen wühlen.

Über seine „Nord-Süd-Trilogie“ sagte van der Keuken 1974: „Während der gesamten Dreharbeiten ließ mich das Gefühl nicht los, dass ich ebenso gut ein schwarzer Schüler in Kamerun hätte sein können [„Dagboek“ – Tagebuch]; oder eine schwachsinnige, frühzeitig gealterte Frau im Getto von Colombo [„Het witte Kasteel“ – Das weiße Schloss]; oder ein Indio aus den Anden, der, jeder Hoffnung beraubt, sich mit Kokablättern oder Alkohol berauscht; oder ein Bewohner des Elendsviertels Villa el Salvador in der Wüste nahe der peruanischen Hauptstadt Lima [„De Nieuwe Ijstijd“ – Die neue Eiszeit]. Ich hätte auch funktionieren können wie jener Angestellte, ein Sklave im weißen Hemd, der in ‚Dagboek‘ einen Flur entlangspaziert. Doch wenn ich genauer hinsehe, merke ich, dass dieser Mann mir viel fremder ist als viele andere, die weiter entfernt leben.“2

Da wir nun einmal auf dieser Welt leben: Wie kann man sich in ein Verhältnis zu ihr setzen? Wie unsere Gegenwart verstehen – das, was ist, und das, was sein wird, nach Ihnen und nach mir? Letztlich geht es van der Keuken – bei aller Bescheidenheit – immer um den Ort und die Endlichkeit des „Ich“.

Auch als Krebskranker lässt van der Keuken von solchen Fragen nicht ab. Auch in „Entspannter Beobachter“ trotzt er der Welt, zusammen mit Nosh, seiner Lebensgefährtin seit 30 Jahren, und ausgestattet mit einer Digitalkamera. „Ich muss weiter filmen. Wenn ich keine Bilder mehr machen kann, bin ich tot.“ Mit Film und Tonausrüstung ziehen sie los, „wie wir es schon seit Jahren tun. Wir begeben uns in andere Lebensverhältnisse, in die Kälte und in die Hitze, in Wüsten und in Ballungsräume, immer der Allgegenwart des Menschen gewiss, der jedes Hindernis überwindet, und zwar dank der schönen Geschichten, mit denen er sich im Angesicht des Nichts Mut macht.“ Daraus entsteht der Film „De Grote Vakantie“ (Die großen Ferien). Um bis zum Schluss lebendig zu sein. Um bis ans Ende im Licht zu sein.

In den Kanälen Amsterdams funkelt die Sonne. Johan van der Keuken, der Alchemist des internationalen Dokumentarkinos, ist am 7. Januar 2001 gestorben. „Kunst könnte ein Mittel der Befreiung sein“, so glaubte er.

dt. Herwig Engelmann

* Journalist

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von PHILIPPE LAFOSSE