16.11.2001

Kinder der Glotze

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Kinder der Glotze

GEWALTBEREITE Jugendliche, konzentrationsschwache Schulkinder, überforderte Lehrer und Unterrichtskonzepte, die sich am Fernsehen orientieren – die Bilanz der antiautoritären Ansätze der späten Sechziger- und Siebzigerjahre in Sachen Schule und Unterricht fällt nicht gerade positiv aus. Dass Schulen vor allem das (richtige) Konsumieren einüben, dass die Ausbildung der Kritikfähigkeit dabei auf der Strecke bleibt und die Vernunft vor den Verlockungen der Zerstreuung kapituliert, wird in der Regel billigend in Kauf genommen. Bleibt die Frage, ob mit der Fabrikation eines Individuums fließender Identität eine Entwicklung angestoßen ist, an deren Ende das Verschwinden des mit einem kritischen Bewusstsein ausgestatteten Subjekts steht.

Von DANY-ROBERT DUFOUR *

Der Neoliberalismus hat nicht nur die über Jahre und Jahrzehnte gewachsenen kollektiven Instanzen von Familie, Gewerkschaften, Parteien sowie der Kultur überhaupt im Visier, er zielt vielmehr auch auf die Zerstörung des seiner selbst bewussten Subjekts, wie es im Verlauf der Neuzeit Gestalt angenommen hat.1 Die Fabrikation des neuen, „postmodernen“, unkritischen und „psychotisierenden“ Subjekts ist das Ergebnis eines erschreckend effizienten Unternehmens zweier zentraler Institutionen: des Fernsehens einerseits und des neuen Schulwesens andererseits, das sich durch die vorgeblich „demokratischen“, dabei jedoch stets auf die Schwächung der Kritikfähigkeit ausgerichteten Reformen der letzten dreißig Jahre erheblich verändert hat.

Die Zurichtung der Kinder durch das Fernsehen beginnt sehr früh. Noch bevor die Kinder heute in die Schule kommen, sind sie bereits mit Fernsehbildern überfüttert. Das anthropologisch Neue daran ist, dass sie oft schon fernsehen, bevor sie sprechen können.

Die Überschwemmung des familiären Raums durch diesen ununterbrochenen Bilderfluss wirkt stark auf die Entwicklung des künftigen Subjekts ein. Wir geben dem Inhalt der Bilder die Schuld, verurteilen zum Beispiel Gewaltdarstellungen und merken dabei nicht, dass das Medium selbst gefährlich werden kann, unabhängig von dem, was es verbreitet. Schließlich gab es auch in den Märchen, die einst unsere Großmütter erzählten, allerlei Kinder fressende Ungeheuer, die den heute verbreiteten blutrünstigen Gestalten in nichts nachstanden.

Es besteht jedoch ein nicht zu unterschätzender Unterschied zwischen dem eindeutig imaginären Universum des Ungeheuers im Märchen, das das Kind zwingt, dieses Universum als eine andere Welt (die Welt der Fiktion) zu denken, und dem ausgesprochen realistischen Universum der Fernsehunterhaltung mit ihren Gewalttaten, Vergewaltigungen und Morden, die keine Distanz zur wirklichen Welt hat. Gewiss bewirkt das Fernsehen durch den Vorrang, den eine allgegenwärtige und aggressive Werbung in ihm einnimmt, in der Tat eine frühzeitige Fixierung der Kinder auf den Konsum, doch das Problem liegt nicht allein im Inhalt der Bilder, sondern auch im Medium selbst.

Die Familie – der Ort der intergenerationellen Vermittlung von Kultur – findet sich durch das Fernsehen zunehmend auf eine kümmerliche Rolle reduziert. In der Generation der „Fernsehkinder“ hat es den Eltern die Erzieherrolle praktisch abgenommen. Und das reduzierte Zeitbudget der Familie für die transgenerationelle Kulturvermittlung zeitigt bereits Wirkung – bis hin zum Zusammenbruch des symbolischen und psychischen Universums.

Das symbolische Universum hängt mit einer wesentlichen Fähigkeit des Menschen zusammen, die ihn vom Tier unterscheidet: der Fähigkeit, zu sprechen, sich selbst als sprechendes Subjekt zu begreifen und sich, im nächsten Schritt, an seine Artgenossen zu wenden, ihnen Zeichen zu übermitteln, die etwas repräsentieren sollen. Um Zugang zur symbolischen Funktion zu haben, genügt es, man selbst zu sein und ein System zu integrieren, in dem „ich“ (als Anwesender) zu einem „Du“ (als einem anderen Anwesenden) von „ihm“ spreche (einem Abwesenden, gleichgültig, wer oder was das ist).2 Es sind diese grundlegenden symbolischen Bezugspunkte, die es uns erlauben, die fundamentalen Unterscheidungen zwischen dem Ich und dem Anderen, dem Hier und dem Dort, dem Davor und dem Danach, zwischen der Anwesenheit und der Abwesenheit zu treffen.

Dieses System nun, das den Zugang zur symbolischen Funktion und einer gewissen psychischen Integrität garantiert, wird im Wesentlichen durch das Mittel des Gesprächs weitergegeben: Die Eltern wenden sich an ihr Kind. Sprechen ist die Weitergabe von Erzählungen, Überzeugungen, Eigennamen, Genealogien, Riten, Pflichten, Kenntnissen, sozialen Beziehungen usw. – vor allem aber ist es die Weitergabe der Sprache selbst. Die eine Generation gibt die menschliche Fähigkeit, zu sprechen, an die nächste weiter, so dass sich der Angesprochene seinerseits in der Zeit (jetzt) und im Raum (hier) als ein Ich identifizieren und sich, ausgehend von diesen Bezugspunkten, in seinem Reden den Rest der Welt vergegenwärtigen kann. Dieses Gespräch von Angesicht zu Angesicht erzeugt die Fertigkeit, in einem doppelten Register zu sprechen: Es gibt den lautlichen wie den gestischen Ausdruck, und transportiert werden mentale Bilder – wenn der andere zu mir spricht, sehe ich, was er mir sagen will. Diesen Transport des Gespräches von Generation zu Generation kann das Fernsehen gefährden.

In dem Fall nun, dass die symbolischen Bezugspunkte Zeit, Raum und Person nicht sicher fixiert sind, wird das äußere Bild zu einer Art Auswucherung der inneren Bilder oder Phantasmen, die den psychischen Apparat heimsuchen – während der Betreffende keinen Zugriff mehr auf den richtigen Schlüssel hat. So können die Bilder auf den, der sie wahrnimmt, einstürmen, ohne fixiert zu werden oder sich in einen beherrschbaren kumulativen Prozess einzureihen, und das Subjekt unter ihre Abhängigkeit zwingen.

Schule des totalen Kapitalismus

FÜR unseren Fall heißt das, dass der Fernsehkonsum die Gefahr birgt, das Subjekt von einer Beherrschung der symbolischen Kategorien Raum, Zeit und Person immer weiter zu entfernen. Es trübt seine Wahrnehmung und vermehrt die symbolische Konfusion und die phantasmagorischen Reihungen. Was also zur Disposition steht, ist nichts weniger als die diskursive Fähigkeit des Subjekts.

Das Fernsehen kann jedoch nicht nur zu Fehlleistungen im Feld der Symbolisierungen beitragen, wie man naiverweise annehmen könnte. Es birgt auch die Gefahr, die Zugänge zur Symbolisierung überhaupt weiter zu verschütten.3 Dies gilt übrigens für alle sensorischen Prothesen, nicht nur für das Fernsehen, sondern für sämtliche Telematiken, die eine Fernpräsenz vortäuschen, die also ein Hier nach dort und ein Dort nach hier transportieren: von den Videospielen über die Mobiltelefone (die den Menschen heute rund um die Uhr begleiten) bis hin zum Internet. Sie bergen allenthalben die Gefahr einer Konzentration der Kompetenzen bei den einen und einer zunehmenden Konfusion bei den anderen. Manche Subjekte können sich gleichsam von raum-zeitlichen Zwängen befreien, während andere sich in keinem Zeit-Raum mehr verorten können.

Kein Wunder, dass viele Lehrer heute die bittere Feststellung treffen, die Kinder, die sie vor sich haben, seien „keine Schüler mehr“ und „hörten nicht mehr zu“.4 Sprechen tun sie wahrscheinlich auch nicht mehr. Nicht dass sie stumm geworden wären, im Gegenteil. Aber sie haben die größten Schwierigkeiten, sich in ein Gespräch einzureihen, das jedem abwechselnd seinen Platz zuweist: mal den des Sprechenden, mal den des Zuhörenden. Sie können nicht mehr in einen Diskurs eintreten, der es dem einen (dem Lehrer) erlaubt, auf Vernunft gründende Aussagen (ein in Generationen akkumuliertes und ständig aktualisiertes Wissen) zu formulieren, und dem anderen (dem Schüler), sie so weit wie nötig zu diskutieren.

Es ist offensichtlich, dass viele Lehrer keine Mühe scheuen und sich – oft über ihre Kräfte hinaus – verausgaben,5 um die jungen Menschen wieder in die Position von Schülern zu versetzen, damit sie selbst ihre Aufgabe als Lehrer wahrnehmen können. Das Neue ist aber, dass in dem Maße, wie die Schüler gehindert sind, Schüler zu sein, die Lehrer mehr und mehr daran gehindert sind, ihren eigentlichen Beruf auszuüben. In den dreißig Jahren „demokratischer“ Reformen haben ihnen die verantwortlichen Politiker und die Pädagogikspezialisten gepredigt, dass sie sich von ihrem veralteten Erziehungsanspruch zu verabschieden hätten. So wies der frühere Minister Claude Allègre die Lehrer an, ihre „altmodische Ausrichtung“ abzulegen, die sich in dem alten Motto zeige: „Die Schüler sollen mir zuhören, denn ich bin derjenige, der Bescheid weiß.“ Und anstelle des Begriffs „Schüler“ führte Allègre die neue Kategorie „der Jugendlichen“ ein: „Was diese Jugendlichen wollen, ist interaktiver Unterricht.“6

Im Namen der Demokratie an der Schule nimmt man also in Kauf, dass es keine Schüler mehr gibt. Wozu dann noch Lehrer? Das Modell, das Politiker und Pädagogikexperten den angeblich „veralteten Unterrichtsmethoden“ entgegensetzen, ist letztlich das der Talkshow, wo jede und jeder „demokratisch“ seine Meinung äußern kann. So wird alles zur intersubjektiven Angelegenheit. Es gibt nicht mehr die kritische Anstrengung, den eigenen Standpunkt immer wieder zu überprüfen, ihn aufzugeben, andere Ansätze zu erproben und anzunehmen, die womöglich weniger borniert, weniger oberflächlich und besser durchdacht sind. Ein Lehrer, der seine Schüler mitreißt und sie ständig neu dazu anstiftet, ihre Kritikfähigkeit auszubilden und zu schärfen, ist eine unerträgliche Vorstellung geworden. Das ist der Feind, den es zu besiegen gilt, weil er den Standpunkt der „Jugendlichen“ nicht respektiert. Nicht wenige Pädagogikexperten „erklären“ so die Gewalt an den Schulen: als Reaktion der „Jugendlichen“ auf eine ungebührliche Autorität des Lehrers.

Wenn sie sich zur Gewaltanwendung gezwungen und Machtbeziehungen ausgesetzt sehen, dann deshalb, weil ihnen kein anderer Ausweg gezeigt worden ist: Sie sind darauf abgerichtet, die Berufung auf Vernunft und geduldige, diskursiv-kritische Gedankenarbeit zu meiden. Anders als es der gängige Pädagogenvorwurf gegen die Lehrer nahe legt, lässt sich somit unschwer vorhersagen, dass die Schüler umso mehr der Gewalt verfallen werden, je weniger sie sich auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis einlassen. Wo es keine Berufung mehr auf die Vernunft und stattdessen eine ausgeprägte Berufung auf die Gewalt gibt, tritt genau das in Kraft, was Jean-Claude Michéa „die Schule des totalen Kapitalismus“ genannt hat7 – das heißt eine Schule, die nach dem Verlust der kritischen Vernunft lauter frei flottierende, allen Konsumzwängen ausgelieferte Individuen hervorbringt. In dieser Schule dürfte man hauptsächlich „alle erdenklichen Formen der Ignoranz “ erlernen können.

Folglich werden jene Lehrer umerzogen werden müssen, die darlegen, dass es nichts zu vermitteln gibt und man sich stattdessen auf die nutzbringende Auslebung augenblicklicher Gefühle zu konzentrieren hat. Sogar an den Universitäten greift eine Tendenz Raum, die sich dagegen sträubt, den „Jugendlichen“ stringentes Denken abzuverlangen. Stattdessen komme es darauf an, ihnen Zerstreuung anzubieten, sie zu animieren, sie „demokratisch“ nach Lust und Laune durch die Interaktionen zappen oder ihr Leben erzählen zu lassen und ihnen vorzuführen, dass die Errungenschaften der Logik bloßer Machtmissbrauch sind. Vor allem gelte es, ihnen zu beweisen, dass es nichts zu denken, dass es kein Objekt des Gedankens gibt: Alles komme auf Ichbestätigung und die damit zusammenhängende Haltung an, die zu verteidigen sei, so wie eben jeder gute Konsument seinen Interessen und seiner Ichbestätigung nachgehe. Geht es also einfach nur darum, gewitzte und konsumgeübte Kretins zu schaffen?

Aller Wahrscheinlichkeit nach wollen die Pädagogen das gar nicht: Sie wollen sich nur an jenen Zustand anpassen, in welchem sie die „Jugendlichen“ heute in der Schule antreffen. Damit treiben sie freilich im Namen des Mitgefühls die Zerstörung der Schule nur weiter voran. Der Gebrauch, den man von den Diensten der Pädagogen gemacht hat, belegt nur einmal mehr, wie es der Neoliberalismus verstanden hat, sich die libertären Ansätze der Sechzigerjahre zunutze zu machen.8

Die schulischen Einrichtungen und die Universitäten nehmen also eine große Menge junger Menschen auf, die sich treiben lassen und für die der Erwerb von Wissen zur nebensächlichen Beschäftigung geworden ist. Eine neuartige, „weiche“ Institution bricht sich Bahn, halb Jugend-, halb Kulturzentrum, halb Tagesstätte und halb soziale Einrichtung, durchaus vereinbar mit gewissen Formen von schulischen Vergnügungsparks. In den noch vorhandenen Restbereichen der Wissensproduktion und -reproduktion wird den neuen Technologien eine glänzende Zukunft prophezeit.

Unterdessen werden Formation und Reproduktion der Eliten – ebenfalls eine entscheidende Funktion der „Schule des totalen Kapitalismus“ – immer ausschließlicher von Eliteschulen, am besten von den anerkannten Privatschulen und -universitäten der USA übernommen (wo die jährlichen Studiengebühren 30 000 Dollar betragen). An diesen Bildungsgängen wird weiterhin das harte, kritische Unterrichtsmodell gepflegt.

Die Fabrikation des unkritischen Individuums mit fließender Identität ist also keineswegs Zufall: Diese Aufgabe erledigen Fernsehen und Schule mit großer Zuverlässigkeit. Der kapitalistische Traum besteht nicht nur darin, die Herrschaft der Ware bis ans Ende der Welt auszudehnen (Stichwort: Globalisierung), wo dann alles und jedes Warencharakter erhielte (die Rechte an Wasser, am Genom, an lebenden Arten, am Kauf und Verkauf von Kindern oder menschlichen Organen usw.), sondern auch darin, den herkömmlichen Privatangelegenheiten, die bisher jedem Einzelnen überlassen waren (Ausbildung der Subjektivität, der Sexualität etc.), Warencharakter aufzuzwingen.

Wir stehen in dieser Hinsicht an einem entscheidenden Wendepunkt. Denn wo das Subjekt als solches angetastet wird, sind nicht mehr nur die Institutionen in Gefahr, die wir gemeinsam haben, sondern auch und vor allem das, was wir sind. Dann wird nichts mehr einem totalen Kapitalismus Einhalt gebieten können, in dem alles, ausnahmslos alles, Teil der großen, weiten Warenwelt sein wird: die Natur, alles, was lebt, und die Gefilde des Imaginären.

dt. Holger Fliessbach

* Philosoph, Professor an der Universität Paris-VIII, Verfasser u. a. von „Folie et démocratie“, Paris (Gallimard) 1998.

Fußnoten: 1 Siehe „Les désarrois de l’individu-sujet“, Le Monde diplomatique, Februar 2001. Wie der große Historiker Fernand Braudel schreibt, entstand die Moderne „irgendwann zwischen 1400 und 1800“ und ist daher zeitgleich mit dem Kapitalismus. 2 Siehe Dany-Robert Dufour, „Les mystères de la trinité“, Paris (Gallimard) 1990. 3 Wie diese Konfusion aussehen könnte, davon vermittelt der Film „Benny’s Video“ (1993) von Michael Haneke ziemlich überzeugend eine erschreckende Vorstellung. Man sieht darin einen Jugendlichen, der zu seinen Eltern rein funktionale Beziehungen unterhält und dessen Kontakt zur Welt einzig über das Medium Videofilm vermittelt ist. Als sich ihm ein kleiner Teil dieser Welt realiter präsentiert (in Gestalt eines jungen Mädchens), reagiert er auf eine vollkommen verfehlte Weise, nämlich mit einem Verbrechen. 4 Siehe Adrien Barrot, „L’enseignement mis à mort“, Paris (Librio) 2000. 5 Vgl. die vielen Fälle von Depression bei Lehrern, die der frühere Minister Claude Allègre als Folge von Medikamentenmissbrauch abtun zu dürfen glaubte. 6 In Le Monde, 24. November 1999. 7 Jean-Claude Michéa, „L’Enseignement de l’ignorance“, Castelnau (Climats) 1999. 8 Zur Integration des libertären Protests in den Neoliberalismus siehe Luc Boltanski und Eve Chiapello, „Le Nouvel esprit du capitalisme“, Paris (Gallimard) 1999. Siehe auch: Serge Halimi, „Vom Protest zur Lobby“, Le Monde diplomatique, April 2001

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von DANY-ROBERT DUFOUR