16.11.2001

Das Geheimnis des wahren Schotten

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Das Geheimnis des wahren Schotten

DER historische, demografische oder soziale Kontext ist in der Regel entscheidend dafür, wie ein Staat mit seinen regionalen Gruppen und Minderheiten verfährt. Entsprechend hat der autonome Status, der Schottland 1997 innerhalb des Vereinigten Königreichs zugesprochen wurde, seine Hauptursache vielleicht weniger in einem ausgeprägten kulturellen oder sprachlichen Partikularismus als vielmehr in der Ablehnung der von Margaret Thatcher vorangetriebenen Politik der sozialen Spaltung. Erste Schritte für eine Landreform, die vor allem die quasifeudale Macht der Großgrundbesitzer einschränken soll, hat das schottische Parlament jetzt in Angriff genommen.

Von VÉRÈNE NICOLAS und ALASTAIR MCINTOSH *

Nach dreihundert Jahren unter der Londoner Zuchtrute besitzt Schottland seit Juli 1999 wieder ein eigenes Parlament.1 Und nicht weniger als drei seiner acht wichtigsten Gesetzesvorhaben betreffen die Landreform. Im Juni 2000 sprach der englische Staatssekretär Brian Wilson vor dem Londoner Komitee der sehr einflussreichen Scotish Landowners’ Federation, der etwa 4 000 Mitglieder angehören, die nach eigener Aussage 80 Prozent des privaten Grundbesitzes in Schottland kontrollieren. Dabei meinte Wilson, in „der öffentlichen Politik hinsichtlich des Grundbesitzes in Schottland“ sei ein „irreversibler Wandel“ eingetreten. Und er erklärte die Landreform zum „Lackmustest, nach dem über das Parlament und die Exekutive ein Urteil gefällt werden kann“2 .

Wilsons schottischer Kollege Alasdair Morrison, Inselminister und Abgeordneter der Highlands, erklärte zum gleichen Thema: „Die Grundbesitzer, die sich seit Generationen an ihre Macht klammern und bei dem bloßen Gedanken in Panik geraten, sie könnten ihren nicht legitimierten Herrschaftsanspruch über die Kommunen der Highlands einbüßen [. . .] seien gewarnt: Wir stehen am Beginn eines nicht mehr aufzuhaltenden Reformprozesses.“3

Einen Monat zuvor, am 3. Mai 2000, hatte das schottische Parlament einstimmig die Abschaffung des Pachtbesitzes beschlossen und damit die 900 Jahre andauernde Feudalherrschaft über den größten Teil der 8 Millionen Hektar des Landes beendet. Das Gesetz hatte allerdings nur kosmetische Wirkung, denn immerhin bleibt ein Restbestand an Grundbesitz, der noch konzentrierter ist als in den meisten Ländern Lateinamerikas. Lediglich tausend Grundbesitzer (bei einer Gesamtbevölkerung von 5 Millionen) kontrollieren an die zwei Drittel der privaten Ländereien. Nach Brian rechtfertigt dies ein schrittweises Programm der Normalisierung, „denn die Verteilung des Bodens in Schottland ist nach vernünftigen Maßstäben anomal und untragbar“.

Das empfohlene Alternativmodell läuft auf eine Organisation in Landkooperativen hinaus. Damit sollen ländliche Kommunen ein Vorkaufs- bzw. Optionsrecht beim Erwerb der zu veräußernden Parzellen erhalten. Die Anhänger dieser Reform hoffen, dass die Bodenpreise nach dem Ertragswert festgesetzt werden, der von Regierungsexperten geschätzt statt von Spekulanten bestimmt wird.

Etwa zehn Kooperativen gibt es bereits. Die größte von ihnen entstand 1997 im Zuge einer Kampagne, die der damalige Besitzer mit der Französischen Revolution verglichen hat. Die Einheimischen hatten den Eigentümer, einen millionenschweren deutschenglischen Autoverkäufer, beschuldigt, ihr Zuhause als sein Privatrevier zu betrachten. Er habe sie in ihren Geschäften behindert und ihre Proteste gelegentlich mit einem Räumungsbescheid beantwortet. Nach langen Auseinandersetzungen erwarben die sechzig Einwohner von Eigg4 schließlich die 3 000 Hektar der Hebrideninsel und zahlten dafür 1,6 Millionen Pfund (2,7 Millionen Euro) – etwa die Hälfte dessen, was man erwartet hatte, ehe die „Agitation der Einheimischen“ den Markt „ruinierte“. Vier Jahre nach dieser „Volksrevolution“ gewährleisten die Unternehmen der Kooperative eine beispiellose Vollbeschäftigung, der Wald wurde nach und nach wieder aufgeforstet, wie er ursprünglich war, ein neuer Kai ist in Planung, und neuerdings gibt es eine Machbarkeitsstudie über ein Projekt „Eiggtricity“ – eine Wind- oder Wasserkraftanlage, mit der die gesamte Insel mit Strom versorgt werden könnte.

Inzwischen sind ehemals emigrierte Bewohner nach Eigg zurückgekehrt und haben ordentliche Verträge zur Bewirtschaftung des Ackerlands erhalten. Der Pachtzins dient heute der Entwicklung lokaler Infrastrukturen, statt Jachten, Privatflugzeuge oder Oldtimer des ehemaligen Besitzers zu finanzieren. Isabel MacPhail aus der Kooperative von Assynt – ehemals Privatgrund des internationalen Fleischbarons Lord Edmund Hoyle-Vesty – sieht in alldem das „Ende einer Kolonialherrschaft“, das neue Ideen freisetzt.

Gerade der Aspekt der Entkolonialisierung hat die Landreform zum wichtigsten Gesetzesvorhaben gemacht. Die parlamentarische Dezentralisierung beruht letztlich auf dem schottischen Verfassungsprinzip, wonach die Souveränität nicht bei der Königin in einem Londoner Parlament liegt, sondern beim Volk – bei der „Gemeinschaft des Reichs“. So formuliert es die Erklärung von Arbroath aus dem Jahre 1320, das erste schottische Verfassungsdokument.

Das erste schottische Parlament wurde im Zuge der Vereinigung des schottischen und englischen Parlaments 1707 aufgelöst. England fürchtete nicht ohne Grund, durch die „Entente cordiale“ zwischen Schottland und Frankreich in die Zange genommen zu werden. Das neue Parlament war jedoch alles andere als demokratisch. Tatsächlich wurde es von Kaufleuten und Feudalherren gelenkt, die sich weit mehr für die expandierenden Kolonialmärkte Englands interessierten als für die legitimen Erwartungen der einheimischen Bevölkerung. Trotz eines allgemeinen Widerstands wurde die Vereinigung des Jahres 1707 dem Volk denn auch aufgezwungen. „We’re bought and sold for English gold“, geißelte der schottische Nationalbarde Robert Burns die Schmiergeldaffären dieses „Schurkenpacks in der eigenen Nation“.

Kilt-Verbot und Privatisierung des Bodens

DER Volksaufstand gegen die Vereinigung gipfelte in der Stuart-Revolte von 1745, als Prinz Karl Eduard („Bonnie Prince Charlie“), aus Frankreich kommend, in den Highlands eine Armee aushob und bis 200 Kilometer vor London marschierte. Doch es fehlte an neuen Rekruten, und die Truppen des Maréchal de Saxe, die die Engländer eigentlich umzingeln sollten, blieben im Hafen von Dünkirchen – ein Sturm hatte die Flotte zertrümmert. Die schlecht geführte und demoralisierte Armee der Aufständischen trat den Rückzug an, im Jahr darauf wurde sie in Culloden bei Inverness endgültig aufgerieben. Die Engländer übten brutale Vergeltung: Dörfer wurden niedergebrannt, Frauen vergewaltigt, die jungen Männer (auch die von Eigg) als Sklaven in die Kolonien deportiert. In der Karibik findet man noch heute Farbige, die von schottischen Vorfahren wissen.

Nach der Schlacht von Culloden trugen Maßnahmen wie das Kilt-Verbot dazu bei, Führungsstrukturen und lokale kulturelle Besonderheiten endgültig zu zerstören. Der Boden war kein Gemeineigentum mehr, dessen Preis der Anzahl der Personen entsprach, die er ernährte. Fortan war er eine den Marktgesetzen unterworfene Ware, deren Wert sich nach der Menge der Wolle richtete, die neu gezüchtete Schafrassen auf ihm produzieren konnten. Diese „Säuberung der Highlands“ führte im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts zur Vertreibung einer halben Million Bauern, die das Heer der von der industriellen Revolution hervorgebrachten pauperisierten Arbeitskräfte auffüllten. Andere musterten bei den berühmten Highland Regiments of the British Empire an oder wanderten in die Neue Welt aus, wo sie ihrerseits die Einheimischen unterdrückten und von ihrem Land vertrieben.5

Der britische Staat, wie er sich im späten 18. Jahrhundert herausbildete, war nach Linda Colley „in erster Linie eine kriegsbedingte Erfindung. Der Krieg mit Frankreich konfrontierte die Briten – egal ob sie aus Wales, Schottland oder England stammten – immer wieder mit einem offensichtlich feindlich gesinnten Anderen.“ Das brachte sie dazu, sich kollektiv gegen diese Anderen zu definieren, und zwar „als Protestanten, die gegen die größte katholische Macht ums Überleben kämpften“. Der französische Gegner wurde abqualifiziert als „abergläubisch, militaristisch, dekadent und unfrei“.6

Großbritanien hat heute in sozioökonomischer und militärischer Hinsicht eine Schlüsselposition zwischen dem restlichen Europa und Amerika inne. Margaret Thatcher sprach geradezu liebevoll vom „besonderen Charakter“ der angloamerikanischen Beziehungen zu US-Präsident Reagan. Doch am Ende war es ihre seit 1979 betriebene Politik der gesellschaftlichen Spaltung – orientiert am Modell des amerikanischen Neoliberalismus –, die 74 Prozent der Schotten bewog, beim nationalen Referendum vom September 1997 für die Wiederherstellung des schottischen Parlaments zu stimmen und damit auf Distanz zu London zu gehen.7

„Die Einrichtung eines eigenen Parlaments in Schottland und einer Abgeordnetenversammlung in Wales sowie die verstärkte Bedeutung einer schottischen und walisischen Identität haben auf die englische Bevölkerung tief greifende Auswirkungen“, heißt es in dem Bericht „The Future of Multi-Ethnic Britain“, den eine von Lord Parekh geleitete Kommission im Oktober 2000 vorlegte.8 „Großbritannien ist eine Schöpfung jüngeren Datums, die ohne Kolonialismus und Empire gar nicht machbar gewesen wäre. Die gängigen Geschichtsauffassungen über Großbritannien müssen umgeschrieben werden [. . .]; gefordert ist eine Neuformulierung der englischen, schottischen und walisischen Geschichte, in der alle ihren Platz finden; ein Verständnis der sich wandelnden Identitäten; eine harmonische Relation zwischen nationalem Zusammenhalt, Partikularismus und Gerechtigkeit; eine Lösung des Rassimusproblems.“

Professor Christopher Smout untersuchte in einem Artikel für Scottish Affairs die Gründe, warum Schottland „für Historiker des Nationalismus ein notorisches Geheimnis bleibt“. Die schottische Identität sei eher staatsbürgerlich und geografisch als ethnisch bedingt. Dies lasse hoffen, dass Schottland eine multikulturelle Gesellschaft ohne diskriminierende Ausgrenzungen auszubilden vermag: „Die moderne schottische Identität hat sehr viel mehr mit dem Gefühl der Ortsverbundenheit zu tun als mit dem der Stammeszugehörigkeit. [. . .] Da der Stamm nicht zählt, wohl aber der Ort, darf man getrost davon ausgehen, dass es so etwas wie ethnische Säuberungen in Schottland nie geben wird.“9 Eine potenziell integrierende Vision wie diese steht in radikalem Gegensatz zum fremdenfeindlichen Nationalismus eines Haider oder Le Pen. Sie zeigt, dass ein Volk auf seine nationale Identität stolz sein kann, ohne andere zu bedrohen.

Die Dezentralisierung verleiht dem Parlament von Edinburgh weitgehende Autonomie, von der lediglich Verteidigung, Außenpolitik und Volkswirtschaft ausgenommen bleiben. Damit hofft Tony Blair, das altehrwürdige Großbritannien zum „cool Britannia“ zu machen. Worauf die noch Unentschiedenen in Schottland entgegnen: „Ja, aber nur, wenn ihr endlich aufhört, euch in unsere Angelegenheiten einzumischen.“

Wie kann eine Nation ein neues Bewusstsein erlangen? „Einmal im Laufe vieler Generationen“, meint Canon Kenyon Wright, ehemaliger Vorsitzender des schottischen Verfassungskonvents, der die Wiedereinrichtung des Parlament vorbereitet hatte,10 „erhält ein Volk die seltene Gelegenheit, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, selbstbewusst zu sagen, wer es ist und was es will, und die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen umzugestalten.“

1998 leitete Wright eine Erhebung über nationale Werte, die unter dem Titel „People & Parliament“11 die Nation zum Nachdenken über sich selbst bringen sollte. Bei dieser Art kultureller Psychotherapie wurden 3 500 Personen in 450 ausgewählten Gruppen gebeten, drei Statements zu vervollständigen. Die erste Frage sollte zur „Reflexion“ über die eigene Identität anregen: „Wir sind ein Volk, das . . .“ Bei der zweiten ging es um zukünftige „Visionen“: „Für das Jahr 2020 stellen wir uns ein Schottland vor, in dem . . .“ Und die dritte zielte auf das „Handeln“ im politischen Prozess: „Deshalb erwarten wir von unserem Parlament, dass es mit den Menschen in einer Weise zusammenarbeitet, die . . .“

Typisch war etwa die Reaktion einer ländlichen Gemeinde: „Trotz jahrhundertelanger Integration haben wir uns ein Gefühl von nationaler Identität bewahrt, die auf einer traditionellen Achtung vor Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit und allgemeiner Bildung beruht.“ Eine Gruppe von Wissenschaftlern sagte: „Wir haben andere Bedürfnisse als London und sind gegen Imperialismus.“ Die Mitglieder eines Fortbildungskurses gaben zu Protokoll: „Wir besitzen eine eigene nationale Identität, haben aber auch Identitäten auf Bezirks- und Ortsebene.“ Und Glasgower Schulkinder meinten: „Sehr wichtig sind für uns Gemeinschaftsgeist und ein gastfreundliches Land.“

In den Antworten kam immer wieder eine starke „Ortsverbundenheit“ zum Ausdruck. Diese half entscheidend, ein Gefühl von „Zugehörigkeit“ herauszubilden, aus der ein „Identitätsgefühl“ und damit auch ein „staatsbürgerliches Verantwortungsbewusstsein“ erwachsen konnten. Nur eine verschwindend geringe Zahl von Gruppen äußerte fremdenfeindliche Gefühle. Für die Mehrheit spielten die Werte sozialer und ökologischer Gerechtigkeit eine ganz vorrangige Rolle.

Aus einer neueren Studie geht allerdings hervor, dass sich Schwarze und andere ethnische Minderheiten in Wirklichkeit gar nicht so integriert fühlen, wie von den weißen Schottlands vermutet.12 Doch die starke Betonung der „heiligen Pflicht“ zu Gastfreundschaft und gegenseitiger Hilfeleistung bietet zumindest eine kulturelle Basis für die Bemühungen um eine gesellschaftliche Integration. „Milchbande sind stärker als Blutsbande“, lautet ein gälisches Sprichwort.

Aber wer ist denn eigentlich Schotte? „Das ist letzten Endes eine Frage vielfältig verschränkter Identitäten“, sagt Prinz Emmanuel Obike, Verwaltungsbeamter im Gesundheitsdienst und wohnhaft in Glasgow. „Sehen Sie . . ., ich bin Nigerianer, ich bin Schotte, und ich bin Jude! Der reinste Identitätenmix . . ., aber gerade das macht für mich den ,wahren‘ Schotten aus.“

dt. Matthias Wolf

* Mitarbeiter des Centre for Human Ecology in Edinburgh. McIntoshs Buch, „Soil and Soul: People versus Corporate Power“, das das Thema dieses Artikels ausführlicher behandelt, ist im September 2001 bei Aurum Press in London erschienen.

Fußnoten: 1 Philip Schlesinger, „Schottlands stille Unabhängigkeit“, Le Monde diplomatique, April 1998. 2 The Herald, Glasgow, 16. Juni 2000. 3 The Scotsman, Edinburgh, 15. Juni 2000. 4 Siehe Camille Dressler, „Eigg: the Story of an Island“, Edinburgh (Polygon) 1998. 5 Alastair McIntosh, Andy Wightman & Dan Morgan, „The Scottish Highlands in Colonial and Psychodynamic Perspective“, Interculture, XXVII : 3, Institut Interculturel de Montréal, 1994, S. 1–40, http://www.iim.qc.ca. 6 Siehe Linda Colley, „Britons: Forging the Nation, 1707–1837“, Yale University Press, 1992, S. 5. 7 Siehe „Understanding Constitutional Change“, Sonderheft von Scottish Affairs, 1998, www.ed.ac.uk/usgs. 8 Profile Books, London. Siehe http://www.runnymedetrust.org.uk. 9 „Perspectives on Scottish Identity“, Scottish Affairs, Nr. 6, 1994, S. 101–113. 10 Siehe Fußnote 1. 11 „People & Parliament: Reshaping Scotland? The People Speak“, 1999, siehe http://www.alastairmcintosh.com. 12 „Who’s a Real Scot? The Report of Embracing Multicultural Scotland“, Centre for Human Ecology, Edinburgh, 2000 http://www.che.ac.uk.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von VÉRÈNE NICOLASALASTAIR MCINTOSH