16.11.2001

Das neue „Große Spiel“

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Das neue „Große Spiel“

SEIT rund zehn Jahren ist in Mittelasien ein neues „Grand Game“ im Gange, bei dem es darum geht, das durch den Zusammenbruch der UdSSR entstandene Vakuum zu füllen. Mit der Stationierung eigener Militärkräfte auf ehemaligen Stützpunkten der sowjetischen Armee in Usbekistan untermauert Washington seinen gewachsenen Einfluss in der Region. Doch die Einmischung Washingtons in den ehemals sowjetischen Republiken Mittelasien impliziert heikle Verhandlungen mit einer Reihe von Staaten, deren politische Interessen divergieren.

Seit 1991 versucht Washington, Russland aus dem Kräftespiel in Zentralasien und im Kaukasus herauszudrängen und zugleich den iranischen Einfluss zu minimieren. Dagegen wurden Turkmenistan und Usbekistan zur Zusammenarbeit mit Pakistan, die transkaukasischen Republiken zur Kooperation mit der Türkei gedrängt. Dieses „Grand Game“ geht auch um die Gas- und Öl-Pipelines vom Kaspischen Meer, die strategische Trümpfe bei der Kontrolle über die neu entstandenen unabhängigen Staaten darstellen.

Der Krieg in Afghanistan hat die Gewichte im strategischen Machtpoker verschoben. Die Pipeline-Pläne1 könnten an Bedeutung verlieren, während Luftwaffenstützpunkte, Einrichtungen der Geheimdienste und militärische Potenziale immer wichtiger werden. Zudem steht der Westen hinsichtlich seiner bisherigen Partner vor gravierenden Problemen. Die USA können sich nicht mehr uneingeschränkt auf ihre langjährigen Verbündeten Islamabad und Riad verlassen. Pakistan wie Saudi-Arabien lassen – zumindest offiziell – US-Bombern nicht von ihren Basen aus in Richtung Afghanistan starten. Deshalb war Washington gezwungen, mit Moskau über das Recht zu verhandeln, Militäroperationen von russischen Enklaven auf usbekischem Boden aus zu starten. Durch das Bündnis mit der afghanischen Nordallianz erhöht sich auch die logistische Bedeutung Tadschikistans als rückwärtige Basis für die Anti-Taliban-Koalition.

Der russische Generalstab duldet diese Militärpräsenz der USA nur widerstrebend: Zwei Tage nach den Attentaten in den USA erklärte der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow: „Ich sehe nichts, was eine Stationierung von Nato-Truppen in den zentralasiatischen Staaten rechtfertigen würde.“2 Aber Präsident Wladimir Putin war zur Kooperation mit Washington bereit. Was verlangt Moskau für seine Beteiligung an der „Antiterrorkoalition“? Die Eintrittskarte zum „westlichen Club“, wie von Washington versprochen? Eine Annäherung an die Europäische Union – gegen Preisgabe der alten Sowjetrepubliken im Osten? Den Beitritt zur Nato?

Der Krieg zwischen Georgien und der nach Unabhängigkeit strebenden Autonomen Republik Abchasien ist jüngst wieder aufgeflammt.3 Nach russischen Angaben haben georgische Rebellen mit tschetschenischer Unterstützung abchasische Dörfer überfallen. Unter dem Druck Georgiens erklärte sich Putin bereit, die russischen Friedenstruppen aus Abchasien abzuziehen. Ist dies ein Vorspiel zum Rückzug Russlands aus der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) – wie einige Kreise in Moskau befürchten – oder der Auftakt zu einer Truppenverlegung innerhalb Georgiens, dem „Tor zum Kaukasus“?

Die Türkei bekundet ihre Solidarität mit Washington klar und unmissverständlich. Der Luftwaffenstützpunkt Incirlik, von dem aus die US-amerikanischen Flugzeuge zu Kontrollflügen über den Irak starten, dient nun auch als Ausgangsbasis für die Luftschläge in Afghanistan. Darüber hinaus stellt Ankara Eliteeinheiten als Ausbildungstrupps für die afghanische Nordallianz ab. Die wirtschaftlich angeschlagene Türkei, die seit dem Ende des Kalten Krieges eine neue Rolle sucht, sieht hier eine Gelegenheit, gegenüber dem Westen ihre geostrategischen Vorzüge und Verdienste geltend zu machen. Gleichwohl sind die Türken – wie die Russen – entschieden dagegen, dass Washington den Krieg auf andere Länder ausdehnt, schon gar nicht auf den Irak.

Die Ungewissheit des Westens, was die künftige Rolle Saudi-Arabiens und Pakistans und ihre Bündnistreue zum Westen betrifft, lässt Washington und London immer stärker den geopolitisch wichtigen Iran hofieren. Dies wird durch den Umstand erleichtert, dass Washington als Hauptfeind inzwischen nicht mehr die libanesische Hisbollah, sondern sunnitisch-fundamentalistische Bewegungen sieht. Doch befürchtet der Iran die dauerhafte Stationierung von Truppen an seiner Nordgrenze. Zudem plant Teheran einen Ausbau seines Militärpotenzials, wie die Unterzeichnung eines Vertrages über Rüstungslieferungen von – schätzungsweise – mehr als 300 Millionen Dollar pro Jahr mit Moskau belegt.

Auch für Indien und Pakistan eröffnen sich mit der Destabilisierung Afghanistans neue Perspektiven. Beide bestimmen ihre Afghanistanpolitik unter dem Blickwinkel des Kaschmirkonflikts. Dass dieser nichts an Brisanz verloren hat, zeigt die Explosion einer Autobombe am 1. Oktober 2001 in Srinagar, der Sommerhauptstadt des indischen Bundesstaates Dschammu und Kaschmir. Und als am 15. Oktober US-Außenminister Colin Powell die Region bereiste, beschossen die indischen Streitkräfte entlang der Demarkationslinie pakistanische Truppen.

Das Kräftegleichgewicht in Kaschmir ist auch für China von Bedeutung, das seit vielen Jahren die pakistanische Armee gegen Indien unterstützt. Nicht minder beunruhigt zeigt sich Peking allerdings von dem wachsenden Extremismus der acht Millionen Uiguren, die in der Provinz Xinjiang leben. Sie sind mittlerweile in die islamistischen Strömungen ebenso involviert wie in den Drogenhandel der einschlägigen afghanisch-pakistanischen Netzwerke. Die chinesische Führung bemühte sich, die bilateralen Beziehungen zu den Taliban auszubauen, und am Tag der Flugzeugattentate in den USA befand sich eine hochrangige chinesische Delegation in Pakistan, um über eine wirtschaftliche Kooperation mit den Taliban zu verhandeln. Ein Dorn im Auge ist Peking auch die wachsende Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und Usbekistan, zumal wenn sich diese als dauerhaft erweisen sollte.

dt. Passet/Petschner

Fußnoten: 1 Siehe Olivier Roy, „Afghanistan: Die Taliban als Wächter der Scharia und der Pipeline“, Le Monde Diplomatique, November 1996. 2 AFP, Moskau, 14. September 2001. 3 Siehe Vicken Cheterian, „Georgien und seine vielen Abchasien“, Le Monde Diplomatique, Dezember 1998.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von Vicken Cheterian