16.11.2001

Was Washington will

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Was Washington will

NACH den Plänen der Vereinigten Staaten ist der Afghanistankrieg nur die erste Etappe in einem weitreichenden Kampf gegen den Terrorismus. Doch schon der erste militärische Erfolg, die Eroberung von Masar-i Scharif durch Verbände der afghanischen Nordallianz, macht erneut die Widersprüche deutlich, mit denen die Strategen in Washington fertig werden müssen. Sollten die nicht paschtunischen Kräfte des Nordens in Kabul einrücken, wäre der Bündnispartner Pakistan aufs äußerste beunruhigt. Auch deshalb lohnt es, sich rückblickend zu vergegenwärtigen, welche politischen Optionen die US-Regierung hatte und welche Kontroversen sich zwischen Pentagon und State Department abspielten.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

Mit der Bombardierung Afghanistans seit dem 7. Oktober begann, was die Vereinigten Staaten „Krieg“ nennen. Dabei waren die strategischen Ziele, die George W. Bush vorschwebten, von Anfang an umstritten. Bereits unmittelbar nach den Attentaten am 11. September klopfte die amerikanische Führungsspitze in Camp David ihre Handlungsoptionen fest. Absolute Priorität hatte für sie ein Militärschlag gegen Afghanistan, wo das Hauptquartier Ussama Bin Ladens und seiner Organisation al-Qaida vermutet wird. Der Plan sah drei Etappen vor: erstens ein Ultimatum an das Taliban-Regime, das die Auslieferung Bin Ladens erwartungsgemäß ablehnte; zweitens den Sturz des Regimes und die Bildung einer neuen repräsentativen Regierung unter Einschluss von Vertretern der Paschtunen, mit dem Ziel, al-Qaida zu zerschlagen und Bin Laden wenn möglich gefangen zu nehmen; und drittens eine Militäroperation, um den Regimewechsel zu beschleunigen. Die Afghanistan-Operation war als erster Teil einer umfassenderen Aktion zur Zerschlagung des internationalen Terrorismus geplant, wobei die anderen Teilpläne auf später verschoben wurden, um den Erfolg der ersten Etappe nicht zu gefährden.

Dieser Plan war wie gesagt von Anfang an umstritten. Aus welchen Gründen der US-Präsident dennoch Anfang Oktober grünes Licht gab, mag die folgende Skizze der politischen Strömungen innerhalb seiner Regierungsmannschaft erhellen.

Für Überraschung sorgte die Haltung von US-Außenminister Colin Powell. Seine Ernennung zum Chef des State Departement galt allgemein als Zugeständnis an die ethnischen Minderheiten im Land. Mangels eigener internationaler Erfahrung suchte Bush einen weltpolitisch bewanderten Mann, der zudem von der Bürokratie des State Departement so unabhängig ist, dass man ihm zutraute, seine Autorität auch gegen den eingespielten Apparat durchzusetzen. Während der Golfkrise 1990–1991 hatte sich Powell von Präsident Bush sen. eine längere Vorbereitungszeit für den Militärschlag gegen den Irak ausbedungen. Seine engsten Mitarbeiter bezeichnen ihn einhellig als „rational denkenden Kopf“.

Gleichwohl entstand in den ersten acht Monaten von Powells Amtszeit der Eindruck, er könne sich mit seinen Ansichten nicht so recht durchsetzen. Als Befürworter einer weiteren Normalisierung des Verhältnisses zu Nordkorea musste er sich damit abfinden, dass Präsident Bush alle Maßnahmen ablehnte, die das Regime in Pjöngjang hätten stärken können. Dagegen konnte Powell entscheidend zur Beilegung der vertrackten Spionageflugzeugaffäre beitragen, die im März dieses Jahres zum Konflikt mit China geführt hatte. Und auch die Nahostpolitik Washingtons trägt deutlich seine Handschrift.

In der Überzeugung, das nahostpolitische Erbe der Clinton-Administration lasse einstweilen keinen Spielraum für neue Friedensinitiativen, hütete sich Powell, seine Autorität durch unvorsichtige Schritte in dieser innenpolitisch nach wie vor hochexplosiven Frage zu verschleißen. Allerdings konnte er Bush dazu bringen, den Bau neuer Siedlungen durch Israel wiederholt zu verurteilen. Nach dem Anschlag auf die Diskothek in Tel Aviv am 1. Juni blockierte Powell den Plan des israelischen Generalstabschefs Schaul Mofaz, die palästinensischen Territorien erneut zu besetzen und die Autonomiebehörde auszuschalten. Er unterstützte die Nahostinitiativen von Mitchell und CIA-Direktor Tenet, der entgegen der bereits einsetzenden Debatte in der israelischen Öffentlichkeit Jassir Arafat versicherte, das Weiße Haus betrachte ihn nach wie vor als alleinigen Repräsentanten der Palästinenser.

Zu Beginn der derzeitigen Krise hatte die Meinung des Außenministers innerhalb der US-Exekutive also erhebliches Gewicht erlangt, zumal er als ehemaliger Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs die traditionelle Rivalität des Verteidigungsministers nicht zu fürchten brauchte. Gleiches gilt für den Nationalen Sicherheitsrat: Condoleezza Rice pflegt zwar engen persönlichem Kontakt zu Bush, doch sie lässt keinerlei Zweifel daran aufkommen, dass sie den Außenminister als Boss anerkennt.

So besaß Colin Powell die nötige Autorität, um die strategischen Optionen durchzusetzen, die nach den Attentaten beschlossen wurden. Ussama Bin Laden war als Drahtzieher des fehlgeschlagenen Attentats auf das World Trade Center 1993 und der Anschläge auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam 1998 ausgemacht worden. Und obgleich dafür keine wasserdichten Beweise vorliegen, sprechen zahlreiche Indizien – einschließlich seiner eigenen Reden – dafür, dass er auch hinter den Attentaten vom 11. September steckt. Die USA versuchen daher nicht erst seit gestern, Bin Ladens Positionen in Afghanistan zu orten und seine Finanzquellen auszutrocknen. Die Konzentration auf Bin Laden folgt dem üblichen Schema, dass es in einem Konflikt stets von Vorteil ist, den Feind zu „personalisieren“ – obwohl al-Qaida bekanntlich von einem Kollegium geleitet wird. Was die derzeitige Regierung Afghanistans anbelangt, gibt es kaum jemanden, der den Sturz des Taliban-Regimes nicht für wünschenswert hielte. Und das afghanische Staatsgebiet, das seit langem Schauplatz eines bewaffneten Aufstands der Nordallianz ist, wäre strategisch zu isolieren, wenn sich die Nachbarländer neutral verhalten oder das Unternehmen aktiv unterstützen würden. Damit schienen die politischen und militärischen Voraussetzungen einer erfolgreichen Intervention gegeben.

Auf dieser Grundlage fällte Präsident Bush seine Entscheidung, und Außenminister Powell setzte sie um. Oberste Priorität besaß zunächst die Mitarbeit Pakistans. Zwar bezweifelte niemand, dass sich in Pakistan innenpolitischer Widerstand regen würde, aber die Loyalität der Armee, der Nachrichtendienste und der Polizei schien angesichts der spektakulären Umbesetzungen an der Führungsspitze gesichert. Je schneller das Regime in Kabul gestürzt würde, desto geringer wäre die Gefahr, dass die innenpolitische Situation in Pakistan außer Kontrolle gerät und die ganze Operation gefährdet.

Deshalb musste Washington sich weitere Stützpunkte verschaffen, vor allem in Tadschikistan, das an die von der Nordallianz kontrollierten Gebiete grenzt. Allerdings steht die tadschikische Regierung nach wie vor unter starkem Einfluss Moskaus. Duschanbe hat nicht nur die russische Armee zu Hilfe gerufen, um die bewaffnete islamistische Opposition in Schach zu halten, auch den Grenzschutz Tadschikistans nimmt die 501. Division Russlands wahr. Um nicht völlig von Russland abhängig zu sein, beschloss die US-Regierung, weitere Truppen in Usbekistan zu stationieren. Diese zentralasiatische Republik besitzt mehr Bewegungsfreiheit gegenüber Moskau, und ihr Territorium grenzt an die usbekischen Regionen Afghanistans, die Kabul ebenfalls die Loyalität aufgekündigt haben. Als Gegenleistung für Putins Hilfe stellte Washington jede direkte und indirekte Unterstützung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung ein und suspendierte alle Maßnahmen zur Schwächung der russischen Positionen in Zentralasien.

Die inneramerikanische Opposition

EUROPA klinkte sich bereitwillig in die Antiterrorkoalition ein. Dennoch war Washington sorgsam darauf bedacht, sich von den Verbündeten nicht dreinreden zu lassen, waren doch die Einwände, die etwa der französische Staatspräsident Chirac gegen die Bombardierung bestimmter Ziele in Serbien erhoben hatte, noch in lebhafter Erinnerung. Deshalb legte der US-Vertreter auf dem Ministertreffen der Nato am 26. September praktisch keinerlei Anforderungen vor. Zu diesem Zeitpunkt waren aber bereits einige britische Kampfeinheiten vor Ort, denn von Großbritannien, dessen Luftwaffe an der bis heute andauernden Bombardierung Iraks beteiligt ist, hat Washington weder Einwände noch Bedenken zu erwarten. Von den anderen Verbündeten erwartet Washington lediglich nachrichtendienstliche Erkenntnisse und einen symbolischen militärischen Beistand, der sie politisch auf die von den USA definierten Kriegsziele verpflichtet.

Im Nahen Osten musste Washington seine strategischen Ziele mit größerer Umsicht verkaufen. Zunächst versuchte man, die Regierungen der Region dazu zu bringen, die Anschläge zu verurteilen und dem Militärschlag gegen Afghanistan zuzustimmen. Im Gegenzug verzichteten die Vereinigten Staaten auf weitere Angriffe gegen Irak und unternahmen diplomatische Schritte, um die eskalierende Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern zu stoppen. Auch diese Vorschläge stammten von Außenminister Powell.

Gegen diese Politik formierte sich jedoch von Anfang an eine inneramerikanische Opposition. Afghanistan, so der Tenor der Kritik, sei auf der Szene des internationalen Terrorismus nur eine Randerscheinung. Bin Laden habe seine Al-Qaida-Kämpfer in den arabischen Staaten rekrutiert, und auch die anderen amerikafeindlichen Terrorgruppen stammten aus arabischen Ländern und würden von manchen arabischen Regierungen unterstützt. Dorthin sollten die USA den Krieg tragen, dort sei er zu gewinnen. Die Verfechter dieser Thesen fürchten vor allem um israelische Interessen. Ein amerikanischer Militärschlag solle zunächst einmal Irak ins Visier nehmen, um die strategische Lage im Nahen Osten zu verändern.

Bislang sind die militanten „Dissidenten“ noch in der Minderheit. Wie aus dem Außenministerium verlautet, stehen alle Dienststellen hinter der Entscheidung der Exekutive, nur ein hoher Beamter vertrete gegenteilige Auffassungen. Anders im Pentagon. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gilt bei vielen als zögerlich, während die Nummer zwei des Pentagons, Paul Wolfowitz, offen für eine Konfrontation mit Irak eintritt. Bekannte Leitartikler werben fast täglich für diese Idee, und immer wieder werden Informationen lanciert, wonach einige Attentäter Kontakte zum irakischen Geheimdienst unterhalten, für dessen Beteiligung an den Anschlägen aber keinerlei Beweise vorliegen.

Vor allem mit Blick auf die israelisch-palästinensische Problematik wirbelte die Kritik an Bushs Strategie einigen Staub auf. Nachdem sich der amerikanische Präsident am 1. Oktober offen für einen palästinensischen Staat ausgesprochen hatte, konterte der israelische Ministerpräsident Ariel Scharon, Bush verhalte sich wie die europäischen „Appeasement“-Politiker, als sie 1938 den Forderungen Hitlers in München nachgaben. Washington wies den Vergleich als „inakzeptabel“ zurück, Scharon entschuldigte sich, aber an der neuen Israelpolitik der US-Administration änderte sich kein Jota. Inoffiziell heißt es in Washington, Bushs Vision eines eigenständigen Palästinenserstaats schließe auch eine Teilung Jerusalems ein.

Dass die Erfolgsaussichten der amerikanischen Antiterrorstrategie in erster Linie von den Ereignissen im Nahen Osten abhängen, liegt auf der Hand. Als das State Department die Autonomiebehörde drängte, den Gewalttätigkeiten von palästinensischer Seite ein Ende zu bereiten, ließ Jassir Arafat eine Demonstration der Hamas auflösen und nahm dabei zwei Tote in Kauf. Im Gegenzug drängte die US-Diplomatie bei Scharon auf einen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus den palästinensischen Gebieten, der allerdings nach der Ermordung des israelischen Ministers Rechawam Seewi ins Stocken geriet.

Mit Blick auf Afghanistan könnte die US-Strategie aus dem Ruder laufen, wenn der angestrebte Regimewechsel zu lange auf sich warten lässt. Obwohl das Land nur wenige militärische Ziele bietet, gehen die Bombenangriffe unvermindert weiter, damit, wie es heißt, der Druck nicht einen Tag nachlässt.

Jedoch würde auch ein erfolgreicher Abschluss der Militäraktion gegen Afghanistan den Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach nicht beenden. So ließ Washington den UN-Sicherheitsrat wissen: „Wir könnten zu dem Schluss gelangen, dass unsere nationale Sicherheit weitere Aktionen gegen andere Organisationen oder Staaten erfordert.“1 Anders als die meisten Beobachter glauben, könnte eines der nächsten Ziele in Südostasien liegen. Nachdem die muslimische Abu Sayyaf eine ihrer Geiseln getötet hat, wird Washington die philippinische Regierung auffordern, die Separatistengruppe zu liquidieren, und die hierfür nötigen Mittel bereitstellen. Gleiches gilt für die malaysischen Terrorgruppen. An die indonesische Regierung dürfte die Bitte ergehen, die aufstrebenden muslimischen Strömungen zu bekämpfen, deren Demonstrationen gegen die US-amerikanischen Angriffe auf Afghanistan sich immer größeren Zulaufs erfreuen – eine Aufgabe, die einen langen Atem erfordert.

Vergleichsweise heikel gestaltet sich der Fall Saudi-Arabien. Wie sich zeigte, stammten die Attentäter des 11. September mehrheitlich aus dem Wüstenstaat. In den Vereinigten Staaten wurden nach den Anschlägen 173 saudische Bürger festgenommen, von denen 54 einen Monat später immer noch in Untersuchungshaft saßen. Für die amerikanische Regierung steht zweifelsfrei fest, dass höchste Stellen in Riad die Finanzierung der in Afghanistan, Ägypten, Algerien und – mit Zustimmung des Westens – in Bosnien und im Kaukasus operierenden Organisationen duldeten. Als Gegenleistung verpflichteten sich die nunmehr als „terroristisch“ eingestuften Gruppen, nichts zu unternehmen, was einem Aufstand wie 1979 in Mekka förderlich wäre.

Washington will dieses Verhalten der wahhabitischen Dynastie nicht länger tolerieren. In einem offenkundig von höchster Stelle inspirierten Artikel brachte die New York Times die in Regierungskreisen vorherrschende Stimmung auf den Punkt: „Mit stillschweigender Duldung Riads trugen Bürger aus Saudi-Arabien und ihr Geld zur Schaffung und Unterstützung der Terrororganisation Ussama Bin Ladens bei. [. . .] Riad hat sich geweigert, der Aufforderung Washingtons nachzukommen, die Konten Bin Ladens und seiner Verbündeten einzufrieren. [. . .] Washington darf nicht länger die Augen verschließen. [. . .] So zu tun, als komme aus Saudi-Arabien keine Unterstützung für den Terrorismus, beschert uns nur weitere Probleme.“2

Ob in Afghanistan, Pakistan oder Saudi-Arabien, im Jemen oder im Irak – die USA sind bestrebt, ihre Führungsrolle zu festigen und sämtliche politischen und sozialen Kräfte auszuschalten, die sich ihren Interessen gewaltsam widersetzen könnten. Doch so rational und durchkalkuliert ihre strategischen Zielsetzungen auch gemeint sein mögen, letztlich werden unvorhersehbare Zwischenfälle den Verlauf des Konflikts bestimmen. Auch Washington räumte vorsichtshalber ein, dass es sich um einen lang andauernden Konflikt handele. Die USA haben sich in ein Abenteuer gestürzt, dessen Ausgang alles andere als gewiss ist.

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Autor von „De Gaulle“, Paris (Perrin) 2000

Fußnoten: 1 Mitteilung des US-Vertreters John Dimitri Negroponte vor dem Sicherheitsrat. 2 New York Times, 14. Oktober 2001; abgedruckt in: International Herald Tribune, 15. Oktober 2001.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von PAUL-MARIE DE LA GORCE