16.11.2001

Zweierlei Maß bei Biowaffen

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Zweierlei Maß bei Biowaffen

Die Anthrax-Attacken in den USA haben bei vielen US-Bürgern die Furcht vor einem bakteriologischen Krieg ausgelöst. Dabei ist ihnen kaum bewusst, dass die derzeitige Bedrohung auch eine Folge der unilateralen Strategie ist, die ihre eigene Regierung seit Jahren in Fragen der Biowaffen-Konvention eingeschlagen hat.

Von SUSAN WRIGHT *

DASS feindliche oder „verantwortungslose“ nichtwestliche Staaten biologische Waffen einsetzen könnten, diese Angst vor der „Atombombe der Armen“ wurde im Westen des öfteren geschürt. Dabei waren es in erster Linie die Industrieländer selbst, die diese Massenvernichtungswaffen in die Welt gesetzt haben – allen voran die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, die ehemalige Sowjetunion, Deutschland, Japan und Kanada.1 Zwar befürworten einige dieser Länder seit langem einen Abbau der biologischen Waffenarsenale, doch auf ihre anderen Massenvernichtungswaffen – besonders auf ihre Nuklearstreitkräfte – wollen sie aus Gründen der Landesverteidigung und zur Durchsetzung geopolitischer Ziele nicht verzichten.

Bereits 1968 plädierte die Labour-Regierung unter Harold Wilson für ein internationales Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen, um dem Protest gegen die britische Aufrüstung mit chemischen und bakteriologischen Waffen den Wind aus den Segeln zu nehmen.2 Die Beschränkung der Abrüstungsinitiative auf biologische Waffen hatte zwei Gründe. Zum einen wusste die britische Regierung – da sie ihren Vorschlag mit Washington abgestimmt hatte –, dass die Vereinigten Staaten niemals auf ihre chemischen Waffen verzichten würden. Zum anderen gaben ihre Berater zu bedenken, dass die Wirkung biologischer Waffen aufgrund der Abhängigkeit vom Wetter und der Gefahr genetischer Mutationen schwer abschätzbar, ihr Einsatz daher von zweifelhaftem Nutzen sei. Wilsons wissenschaftlicher Berater Sir Solly Zuckerman bezeichnete die Biowaffen daher als „eine überflüssige Belastung ohne militärischen Nutzen“3 .

Dahinter steckte die Überlegung, dass ein Verbot biologischer Waffen für die westlichen Länder keinerlei militärische Nachteile haben würde – schließlich konnten sie sich auf ihre Atombewaffnung verlassen –, dafür aber den unschätzbaren Vorteil, die Nichtatomwaffenstaaten der Möglichkeit zu berauben, sich mit billigen Massenvernichtungswaffen auszurüsten.4 Kurze Zeit nach der britischen Initiative, im November 1969, gelangte Washington zu derselben Einschätzung, und so beschloss Richard Nixon, das US-Biowaffen-Programm einzustellen und das von London vorgeschlagene Abkommen zu unterstützen. Seinem Hofberichterstatter William Safire diktierte Nixon in die Feder: „Wer Bakterien gegen uns einsetzt, muss mit einem Atomschlag rechnen.“5

So schrieb das Übereinkommen von 1971 über das Verbot von biologischen Waffen unter der Hand eine strategische Asymmetrie zwischen dem Westen und dem nichtwestlichen Teil der Welt fest. Während die Industriemächte ihren atomaren Schutzschild behielten, blieben den schwachen Staaten, die die B-Waffen-Konvention ratifiziert hatten, keine adäquaten Abschreckungsmittel. Nicht wenige dieser Staaten hatten darüber hinaus den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet.

Die strategische Asymmetrie wurde noch verstärkt, als die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Kalten Kriegs beschlossen, die so genannten Schurkenstaaten, die im Verdacht standen, chemische und biologische Waffen zu besitzen, mit drastischen Wirtschaftssanktionen zu belegen. Dabei maßen die westlichen Staaten im Nahen Osten mit zweierlei Maß. Während sie über das israelische Atomwaffenarsenal und die streng geheime Entwicklung von chemischen und biologischen Waffen in Ness Ziona fast totales Stillschweigen bewahrten, begannen sie gegen die arabischen Nachbarn Israels, die sich aus welchen Gründen auch immer für solche Waffensysteme interessierten, eine groß anlegte öffentliche Kampagne, die in einigen Fällen sogar Wirtschaftssanktionen einschloss.

Ihren Höhepunkt erreichte diese Politik mit der erzwungenen Entwaffnung Iraks. Während die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) unmittelbar nach dem Golfkrieg von 1991 das irakische Nuklearprogramm demontierte, wickelte die UN-Sonderkommission für die Vernichtung der Massenvernichtungswaffen in Irak (Unscom) 1998 große Teile des irakischen Bio- und Chemiewaffenprogramms ab. Das Wirtschaftsembargo wurde trotz der erfolgreichen Durchführung dieser Maßnahmen aufrechterhalten – eine Politik, die vor allem der Bevölkerung Leid zufügte, die Macht Saddam Husseins und seiner Gefolgschaft jedoch nicht im Geringsten erschütterte.

Die USA selbst, die so gerne Sanktionen gegen „Schurkenstaaten“ verhängen, zeigen im Übrigen wenig Neigung, die in der Biowaffen-Konvention vorgesehenen Maßnahmen mit Nachdruck umzusetzen. Im Gegenteil, sowohl die Clinton- also auch die Bush-Administration unternahmen alle erdenklichen Anstrengungen, die ohnehin schwammigen Bestimmungen des Übereinkommens noch weiter aufzuweichen.

Das Verbot der „Entwicklung, Herstellung und Lagerung“ von Bio- und Toxinwaffen wies von Anfang an große Lücken auf. So dürfen pathogene Wirkstoffe in begrenzter Menge durchaus entwickelt, hergestellt und gegebenenfalls auch gelagert werden, wenn sie der Produktion von Impfstoffen, Therapien, spezieller Schutzkleidung und ähnlichen Schutzvorkehrungen dienen. Die Forschung an biologischen Kampfstoffen findet in der Konvention keine Erwähnung, ist also de facto erlaubt. Ebenso wenig vorgesehen sind Überprüfungs- und Konstrollmechanismen. Und die Abgrenzung zwischen offensiver und defensiver Zielsetzung dürfte – den evidenten Fall der Lagerung einmal ausgenommen – recht schwer fallen, will man nicht zu einer höchst zweifelhaften Analyse der jeweiligen Absichten Zuflucht nehmen.

1995 begannen die Signatarstaaten über ein Zusatzprotokoll zur Verifikation des Übereinkommens zu verhandeln, das Kontrollbesuche sowie die Offenlegung aller relevanten Anlagen vorsah. Der durchaus begrüßenswerte Anlauf zu mehr Transparenz stieß in der Praxis jedoch auf fast unüberwindliche Schwierigkeiten, die nicht zuletzt der hartnäckigen Clinton-Diplomatie zu verdanken waren.

Bushs Vorgänger hatte sich zwar für die Konvention ausgesprochen, gab jedoch schließlich den Pressionen der Biotech- und Pharmaindustrie nach, die für ein schwaches Kontrollregime plädierten, um sich dem Blick internationaler Inspektoren zu entziehen.6 Die US-Unterhändler lagen ihren Amtskollegen so lange in den Ohren, bis Letztere den Einbau zahlreicher Hintertürchen akzeptierten, die das Inspektionsregime aufweichten und die Kontrolle weitgehend in die Hände der betreffenden Staaten legten. Überdies bestand Washington darauf, die Inspektion von militärischen Anlagen in Staaten mit größeren biologischen Verteidigungsprogrammen auf ein Minimum zu beschränken. Mit anderen Worten: Nur ein Bruchteil der amerikanischen Verteidigungsanstrengungen gegen Biowaffen sollte für die Inspektoren überhaupt einsehbar sein.

Gegen Ende der Neunzigerjahre hatte das Verifikations- und Kontrollprotokoll nach Ansicht vieler Experten jede substanzielle Qualität eingebüßt. Und schließlich mündete der erklärte Unilateralismus7 der neuen Bush-Administration in eine Offensive gegen weitere Abrüstungsanstrengungen. Am 25. Juli dieses Jahres lehnte Washington den Protokollentwurf in toto ab, und zwar mit der Begründung, er sei ineffizient und gefährde überdies die nationale Sicherheit Amerikas.8

Einen wesentlichen Grund für diese Entscheidung enthüllte die New York Times eine Woche vor den Anschlägen vom 11. September: Die US-Regierung wolle gewisse Aspekte ihres Biowaffen-Programms verheimlichen.9 Besonders beunruhigend sind dabei drei Projekte: erstens die Simulation einer Produktionsanlage für Biowaffen mit eigentlich harmlosen Organismen, die jedoch ähnliche Eigenschaften aufweisen wie die gefährlichen Mikroben, die in der bakteriologischen Kriegführung Verwendung finden; zweitens der Test einer nur unvollständig ausgestatteten Bakterienbombe, bei dem es vermutlich um die Optimierung ihrer Streueigenschaften ging; und drittens eine Blaupause für eine gentechnisch veränderte Sorte des Milzbranderregers, die gegen gebräuchliche Impfstoffe resistent ist.

Zumindest das zweite Projekt – der Bombenversuch – stellt eine flagrante Verletzung der Biowaffen-Konvention dar, die nicht nur die Entwicklung, Herstellung und Lagerung biologischer Kampfstoffe verbietet, sondern auch die Arbeit an entsprechenden Trägersystemen. Genau besehen bewegen sich allerdings alle drei Projekte so hart an der Grenze zu nicht erlaubten Aktivitäten, dass spitzfindige juristische Unterscheidungen kaum noch sinnvoll sind. Jedenfalls kann man sich leicht ausmalen, wie der Westen reagiert hätte, hätte er Ussama Bin Laden in den afghanischen Bergen bei ähnlichen Aktivitäten ertappt.

Die genannten US-Pläne unterminieren die B-Waffen-Konvention und stimulieren weltweit die Entwicklung neuer biologischer Waffensysteme. Schon in einem sehr frühen Entwicklungsstadium der Biotechnologie beschwor man das Katastrophenszenario, dass ein pathogener Wirkstoff entwickelt werden könnte, gegen den es keinerlei Schutz geben würde.10 Bereits 1975 gab es Stimmen, die ein völliges Verbot derartiger gentechnischer Exprimente forderten. Das Argument, solche Experimente seien für die Entwicklung geeigneter Impfstoffe unerlässlich, entbehrt jeder Grundlage. In der Natur kommen viel zu viele Krankheitserreger mit viel zu vielen veränderbaren Genen vor, als dass ein einzelner Impfstoff wirksamen Schutz geben könnte. In Expertenkreisen ist dies längst kein Geheimnis mehr; schon deshalb muss man sich fragen, weshalb die Vereinigten Staaten solche Projekte weiterverfolgen.

Seit dem 11. September unternehmen die USA verstärkte Anstrengungen zum Schutz gegen bioterroristische Anschläge. Der US-Kongress hat bereits 1,5 Milliarden Dollar für entsprechende Verteidigungs- und Zivilischutzmaßnahmen bewilligt. Ein Teil dieser Gelder mag zur Verbesserung des Zivilschutzes nötig sein. Das Fehlen demokratischer Transparenz lässt jedoch befürchten, dass das Maßnahmenpaket die Biowaffen-Konvention weiter aushöhlt, statt sie durch ein striktes Kontrollregime zu stärken. Das Gebot vollständiger Transparenz müsste für alle Institutionen gelten, die mit gefährlichen pathogenen Stoffen hantieren oder biotechnische Anlagen betreiben. Darüber hinaus müssten die Verbotsregeln der Konvention auf alle Veränderungen biologischer Wirkstoffe und alle Forschungen in diesem Bereich ausgedehnt werden, soweit sie militärischen Zwecken dienen. Ausnahmen von diesem absoluten und allgemein gültigen Verbot dürfte es nicht geben. Die gentechnische Forschung an Impfstoffen und Therapien gegen natürliche pathogene Stoffe müsste zivilen Laboratorien vorbehalten bleiben, die internationalen Regeln und Kontrollen unterliegen. Nur so könnte der Schutz der Bevölkerung weltweit gewährleistet werden.

dt. Bodo Schulze

* Wissenschaftshistorikerin, leitet zurzeit ein internationales Forschungsprojekt über bakteriologische Kriegführung und die Nord-Süd-Beziehungen an der Universität Michigan, USA. Mitautorin von „Preventing a Biological Arms Race“, Cambridge, USA (MIT Press) 1990.

Fußnoten: 1 Erhard Geissler u. John Ellis van Courtland Moon (Hg.), „Biological and Toxin Weapons: Research, Development und Use from the Middle Ages to 1945“, Oxford (Oxford UP) 1999. Gilbert Achcar, „Das Gespenst des Bioterrorismus“, Le Monde diplomatique, Juli 1998. 2 Dazu Susan Wright, „The Geopolitical Origins of the 1972 Biological Weapons Convention“, in: Dies. (Hg.), „The Biological Warfare Question: A Reappraisal for the 21st Century“, i. V. 3 Dazu UK Foreign Office, Ronald Hope-Jones to Moss, 4. Juli 1968, FCO 10/181, U.K. Public Records Office. 4 Siehe US Department of State, American Embassy London to State Department, 30. Juli 1968, Telegramm 11305, „UK Working Paper on Biological Weapons“, 30. Juli 1968, geheime Verschlusssache, RG 59, POL 27-10, französisches Nationalarchiv. 5 William Safire, „On Language: Weapons of Mass Destruction“, New York Times, 19. April 1998. 6 Dazu Susan Wright und David Wallace, „Varieties of Secrets and Secret Varieties: The Case of Biotechnology“, Politics and the Life Sciences 19 (1), Universität Maryland, USA, März 2000, S. 33–45. 7 Dazu Philip S. Golub, „Ein Kabinett des Kalten Kriegs“, Le Monde diplomatique, Juli 2001. 8 Elizabeth Olson, „U.S. Rejects New Accord Covering Germ Warfare“, New York Times, 26. Juli 2001. 9 Siehe dazu den Beitrag von Judith Miller, Stephen Engelberg und William J. Broad in der New York Times vom 4. September 2001 sowie dies., „Germs: Biological Weapons and America’s Secret War“, New York (Simon and Schuster) 2001. 10 Royston C. Clowes u. a., „Proposed Guidelines on Potential Biohazards Associated with Experiments Involving Genetically Altered Microorganisms“, 24. Februar 1975, Recombinant DNA History Collection, MC100, Institute Archives, MIT Libraries, Cambridge/Mass.

Le Monde diplomatique vom 16.11.2001, von SUSAN WRIGHT