Verlorene Krieger eines vergessenen Krieges
Von RAPHAËLLE BAIL *
AUGUSTO César Sandino, der Nationalheld des antiimperialistischen Kampfes in den Zwanzigerjahren, nannte den Norden Nicaraguas seine „vergessene Grenze“. Achtzig Jahre danach sind die Bewohner dieser Gegend erneut isoliert. Doch sie können sich wenigstens damit trösten, einen wichtigen Platz in der kollektiven Erinnerung einzunehmen: In den 1980er-Jahren war der Norden Schauplatz erbitterter Kämpfe zwischen der Sandinistischen Volksarmee (EPS) und dem Nationalen Widerstand, wie sich die Contras heute nennen. Das Bergland, las montañas, ist weitgehend kahl. Seine Wälder wurden durch unkontrolliertes Abholzen und Brandrodungen dezimiert. Heute leben hier die entlassenen Veteranen beider Lager. Sie sind wieder Bauern, bearbeiten ein Stück Land und warten auf den Bau der versprochenen Wohnungen, Schulen und Krankenstationen. Sie warten seit zehn Jahren.
Als der Diktator Anastasio Somoza 1979 stürzte und die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) die Macht übernahm, schlossen sich die landlosen Bauern und die teilweise proletarisierten Landarbeiter begeistert der Revolution an. Dagegen profitierten die katholisch-traditionalistischen Kleinbauern kaum von den großen Projekten der Sandinisten. Den Kreuzzug der Alphabetisierung ließen sie noch über sich ergehen. Aber die Agrarreform, die landwirtschaftlichen Genossenschaften, Staatsfarmen und Preiskontrollen – und gar der atheistische Marxismus und die allgemeine Wehrpflicht – gingen ihnen viel zu weit und trieben sie den Konterrevolutionären und ihrer Kriegsmaschine zu.
Der Krieg endete 1990, nach dem Wahlsieg der Vereinten Nationalen Opposition (UNO) unter Violeta Chamorro. Seine Bilanz war verheerend: 29 000 Tote und 28 000 Verletzte oder Kriegsversehrte, 350 000 Vertriebene in einem Land mit 3,8 Millionen Einwohnern. Für die Demobilisierung der vielen Soldaten (22 413 Männer bei den Contras, 86 810 Männer bei der Armee1 ) mangelte es an politischem Willen und an Geld. Auch die USA interessierten sich nicht für den Wiederaufbau des Landes, nachdem sie den Krieg mit Millionen Dollars genährt hatten. Nicaragua war außerstande, seinen Soldaten als den Akteuren eines der wichtigsten Abschnitte in der Geschichte ihres Landes einen würdigen Platz in der Gesellschaft zu geben.
In Jinotega befindet sich der Sitz der Partei des Nicaraguanischen Widerstands (PRN). Vor der Sprechstunde warten die alten Contra-Kameraden, bis sie an der Reihe sind. Sie hoffen noch immer, dass man ihnen für ihren früheren Einsatz irgendeinen Lebensunterhalt bietet. Alle beteuern, dass sie gegen den „Totalitarismus“ gekämpft haben. Und alle stellen fest, dass ihr Land ihnen dies kaum dankt: „Nach der Demobilisierung haben wir ein besseres Leben erwartet. Wir dachten, das Land wird uns eine echte Zukunft bieten.“
Dabei vollzog sich der Truppenabbau unter der Schirmherrschaft der United Nations Observer Group in Central America (Unoca) und der Internationalen Überwachungskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (CIAV-OAS). Beide sollten für die gesellschaftliche Wiedereingliederung der Contras sorgen. Geplant war die Schaffung von „Entwicklungsschwerpunkten“, die den Bedürfnissen der demobilisierten Soldaten gerecht werden würden. Da diese zu 71 Prozent Bauern sind,2 ging es in erster Linie um Land, Arbeitsgerät und eine Anfangsausstattung sowie um Wohnungen, Schulen und Krankenstationen in den regionalen „Entwicklungsschwerpunkten“.
500 000 Hektar Land wurden zwischen 1990 und 1992 vom Nationalen Institut zur Reform der Landwirtschaft (Inra) neu verteilt. Aber die Ergebnisse waren bescheiden, die Veteranen klagen unisono. „Nur wenige haben Land bekommen. Und selbst wenn man welches hat, ist das Eigentum nicht verbrieft“, erklärt Oscar Rojas aus Quilalí, einer Hochburg der Contras. „Damit können wir auch nicht zur Bank gehen, um Geld zu leihen, Werkzeuge zu kaufen und mit der Arbeit anzufangen.“
Die Kriegsrenten sind gesetzlich festgelegt, alle empfinden sie als bloße „Almosen“. Selbst ein Kriegsversehrter kommt mit 400 Córdobas (32 Euro) im Monat gerade auf ein Fünftel des Existenzminimums. „Die Lebensbedingungen sind heute schlechter als vor zehn Jahren. Das einzig Gute ist, dass der Krieg vorbei ist. Aber ich bin gar nicht sicher, ob Armut besser ist als Krieg“, meint Roberto, Kriegsinvalide und ehemaliger „Freedom Fighter“ im Solde Ronald Reagans. Damals bekam er wenigstens sein Essen und alle zwei Monate ein Paar neue Stiefel.
Alle nicaraguanischen Soldaten waren 1990 auf einmal Krieger ohne Krieg. Die Veteranen der EPS sind seitdem auch noch ideologisch verwaist. Der sandinistische Traum hatte eine ganze Generation mobilisiert und ein mächtiges Band der Solidarität geschaffen. Für sie ist das Ende besonders bitter: Werden sie sich, wie die Veteranen der Contra, einreden können, dass sich der Krieg „dennoch gelohnt hat“, obwohl ihnen eine rechte Regierung nach der anderen erklärt, sie seien nur die Bauernopfer eines verrückten, blutigen und archaischen Abenteuers gewesen?
„Wir sind aufs Land gegangen, um Lesen und Schreiben zu unterrichten. Wir haben Kaffee geerntet. Wir haben gegen die CIA gekämpft. Aber nach den Wahlen [von 1990] hat die Konterrevolution alles zunichte gemacht“, empört sich Jorge Montoya von der Vereinigung Pensionierter Militärangehöriger (Amir). „Unsere Kinder haben gar keine Ahnung mehr, wie schön der Kreuzzug der Alphabetisierung war.“ Es schmerzt ihn, sich für eine Politik aufgeopfert zu haben, die in der Versenkung der Geschichte verschwindet, und zugleich in Armut vor sich hin zu vegetieren.
Joaquín Cuadra, der frühere Chef des sandinistischen Generalstabs, meint: „Der Prozess der Truppenreduzierung war ein menschliches und materielles Trauma. Wir haben versucht, zu unseren Männern so gerecht wie möglich zu sein. Wir haben ihnen gegeben, was wir konnten.“ 1990 wurde die Armee in dem ausgebluteten und zerstörten Land radikal geschrumpft. Innerhalb weniger Monate schickte man 66 000 Wehrpflichtige nach Hause. Zwischen 1990 und 1993 wurden 8 000 Offiziere entlassen. Von 1989 bis 2000 schrumpfte die Armee von 97 000 auf 12 000 Mann. Obwohl 500 Millionen Dollar in diese Operation investiert wurden, obwohl es finanzielle Entschädigungen gab und Land und Häuser zugeteilt wurden, scheiterte die Wiedereingliederung wie bei den Contra-Veteranen am Fehlen von Eigentumsrechten und Programmen zur Weiterbildung und Neuorientierung.
Die Soldaten der Sandinistischen Volksarmee hätten sich, da sie „städtischer“ und „gebildeter“ seien, leichter an die Lebensbedingungen in Friedenszeiten angepasst, hört man immer wieder. „Falsch“, entgegnet Sergio Ortega von der Veteranenorganisation Amir, „es gab kein landesweites Programm zur Wiedereingliederung der Armeerentner. Wir haben versucht, die Initiative zu ergreifen, aber unsere Lebensbedingungen sind äußerst schwierig. Angeblich sind mehr als 60 Prozent der Compañeros arbeitslos. Viele sind nach Costa Rica oder in die USA ausgewandert.“ Den Compañeros begegnet man unter anderem als Taxifahrern in den Straßen von Managua, wo sie stolz von ihren Kriegsjahre erzählen. Manche arbeiten auch als bewaffnete Wächter in Kaufhäusern. Von allen Beschäftigungen entspricht diese Arbeit noch am ehesten dem Krieg – einem Krieg, den die meisten nicht hinter sich lassen können.
„Im Stich gelassen“ fühlen sich alle ehemaligen Soldaten Nicaraguas – von der Regierung, der Armee und der internationalen Gemeinschaft. In einer grausamen Ironie der Geschichte stellen Contras und Compas (so die freundschaftliche Abkürzung für Compañeros) heute dieselben Forderungen und beklagen dieselbe Ungerechtigkeit. Beide Gruppen leiden gleichermaßen unter dem Mangel an Anerkennung und den unsicheren Lebensverhältnissen. Obwohl die gesellschaftlichen Gräben noch sehr weitgehend parallel zu den politischen verlaufen, hat die bittere Realität, mit der beide Seiten zu kämpfen haben, den gegenseitigen Hass nach und nach aufgelöst. Die Aussöhnung des nicaraguanischen Volkes beginnt mit vorsichtigen gemeinsamen Initiativen der ehemaligen Kriegsgegner.
In San Rafael del Norte kommen 500 demobilisierte Veteranen der Demokratischen Vereinigung aus Volksarmee und Widerstand (Uder) gemeinsam über ihre Enttäuschung hinweg – mit Hilfe von Wiedereingliederungsprogrammen. Diógenes Díaz war sandinistischer Offizier und ist heute Vorsitzender der Uder. Von deren ersten Schritten erzählt er mit dem Humor eines Menschen, der schon viele Organisationen überlebt hat: „Eines Tages haben wir die AK-47 weggelegt und statt dessen einen Baseballschläger in die Hand genommen. Wir haben unsere eigene Liga aufgebaut. Baseball ist der Lieblingssport der Nicaraguaner, und so ist es uns gelungen, eine Art Brüderlichkeit herzustellen.“ Das gegenseitige Misstrauen schwindet allmählich. Jedenfalls ist es weniger groß als die gemeinsame Enttäuschung über die verlorenen Jahre nach dem Krieg.
Für den Soziologen Orlando Nuñez liegt das Scheitern der Wiedereingliederung an der mangelnden Hilfe internationaler Organisationen: „Nicaragua hat mit internationaler Hilfe auf dem Niveau des Marshallplans gerechnet. Stattdessen hat die OAS nur demobilisiert und sich um nichts weiter gekümmert.“ Tatsächlich umgibt die gegenwärtige Situation in Nicaragua ein merkwürdiges Schweigen. Als die USA und die Sowjetunion auf den Trümmern einer vormals echten Volksrevolution aneinander gerieten, berichteten hunderte von Korrespondenten über diesen Krieg. Doch seither ist das Land – eines der ärmsten der Welt – wieder völlig vergessen.
Die 90er-Jahre waren nachhaltig von gewalttätigen Rückfällen mehrerer „wiederbewaffneter“ Gruppen geprägt: Entführungen, Straßensperren und Racheakte dienten als Druckmittel, um von der Regierung die Umsetzung der Versprechen des Jahres 1990 zu erzwingen. Diese Gewalt ging teils von recontras (wiederbewaffneten Contras), teils von recompas (wiederbewaffneten Sandinisten) aus, in manchen Fällen sogar von revueltos (gemeinsamen Verbänden aus recontras und recompas).
Nach Orlando Nuñez haben manche Veteranen „aus der Gewalt eine Lebensweise gemacht: Aggressive Übergriffe, Banküberfälle, Entführungen und das, was man gemeinhin ‚Kriminalität‘ nennt – ihr ganzes Handeln ist von militärischen Denkmustern bestimmt. Die demobilisierten Soldaten haben nicht viel gelernt. Einerseits leiden sie unter der wirtschaftlichen und sozialen Lage, andererseits verschärfen sie diese noch.“ Doch wiewohl die Veteranen von der FSLN und der „harten Rechten“ für deren jeweilige kurzfristige Ziele missbraucht wurden, haben sie zumindest auf die Verzweiflung eines großen Teils der Bevölkerung hingewiesen. So haben etwa die Forderungen der Einheitsfront Andrés Castro (Fuac), der einzigen noch aktiven recompas-Bewegung in der Bergbauregion im Nordosten, ein deutliches ideologisches Profil: eine echte Agrarreform, die Zuteilung von Kooperativen an ehemalige Kämpfer und eine Grundversorgung im Bereich Schule und Gesundheit für alle Campesinos.
Die Fuac verurteilt auch konsequent den „Pakt“ zwischen den regierenden Liberalen und der FSLN. Er ermöglicht es beiden großen Parteien, Schlüsselpositionen im Obersten Gerichtshof, in der Obersten Wahlbehörde und in der Contraloria (dank ihres Kampfs gegen die Korruption heute die einzige noch glaubwürdige staatliche Institution) zu besetzen. Gleichzeitig wurden andere politische Akteure und Gruppen an den Rand gedrängt. Ob Strategie zur Wiedererlangung der Macht oder zynisches Manöver einiger sandinistischer Politiker, um ihre seit 1990 erworbenen wirtschaftlichen Vorteile und ihren Status als „neue Klasse“ neben den traditionellen Eliten zu sichern – el pacto hat die Öffentlichkeit beunruhigt und gespalten.
Die Fuac mag ein kleiner Funke der Revolution sein oder auch ein Haufen von Desperados: Sie hat es immerhin geschafft, das eingeschlafene Gewissen der Nicaraguaner zu wecken. Sie verweist damit nicht nur auf das völlige Versagen der Wiedereingliederung der ehemaligen Soldaten und die Verfehlungen gewisser sandinistischer Politiker, sondern auch auf den Schiffbruch eines Landes, das sich einst aus der Unterdrückung befreit hat.
dt. Herwig Engelmann