14.12.2001

Ortegas Reuebekenntnis war doch vergebens

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Ortegas Reuebekenntnis war doch vergebens

IN Nicaragua sind die Errungenschaften der sandinistischen Revolution längst wieder zerstört. Während der Regierungszeit von Präsident Arnoldo Alemán hat die Korruption ein nie da gewesenes Ausmaß erreicht. Das Land befindet sich ökonomisch und sozial im freien Fall. Mit einem ausgesprochen moderaten Reformprogramm war die Sandinistische Befreiungsfront FSLN unter Daniel Ortega bei der Präsidentschaftswahl am 4. November nicht chancenlos angetreten. Umfragen sahen Ortega knapp vor Enrique Bolaños, dem Kandidaten der Konservativen. Doch der hat am Ende mit der Unterstützung der Vereinigten Staaten gewonnen.

Von FRANÇOIS HOUTART *

„Ohne Somoza wird Nicaragua frei sein!“ Am 17. Juli 1979, nach mehr als zehn Jahren Kampf gegen die von den Vereinigten Staaten seit 1936 unterstützte Diktatur des Somoza-Clans, kam in Nicaragua die Sandinistische Befreiungsfront FSLN an die Macht. Die junge Revolution begann mit einer Agrarreform, einer Alphabetisierungskampagne für 400 000 Menschen und einem Programm zur öffentlichen Gesundheitsversorgung im ganzen Land. Die Revolutionäre überführten das Eigentum der Somozas in Staatseigentum. Weil es sich um eine eigenständige Revolution handelte, die sich vom Dogmatismus vorangegangener Bewegungen befreit hatte, fand sie im ganzen Land Unterstützung und Sympathien. Der Erfolg der Sandinisten beflügelte die Aufbruchstimmung in der gesamten Region: „Wenn Nicaragua gesiegt hat, wird auch El Salvador siegen!“, sangen die Aufständischen im Nachbarland. In Mittelamerika war eine neue, große Hoffnung geboren.

In Washington sah man mit großem Missfallen, dass Havanna und in geringerem Maß auch die Sowjetunion nun ein Land unterstützten, das man so lange Zeit unter Kontrolle gehabt hatte. Präsident Ronald Reagan verhängte 1980 ein Embargo. Die CIA wurde angewiesen, den bewaffneten Widerstand gegen die Sandinisten zu organisieren, auszurüsten und auszubilden. Diese Truppe – „Contra“ genannt – rekrutierte sich aus den alten, nach Honduras geflüchteten Garden des Somoza-Regimes. Obwohl Daniel Ortega am 4. November 1984 die Präsidentschaftswahlen mit 63 Prozent der Stimmen gewann und über 500 internationale Beobachter die Rechtmäßigkeit der Wahl bestätigten, setzte die Contra ihre Angriffe fort. Als sie vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag verurteilt wurden, beeilte sich Washington, diesen für nicht zuständig zu erklären (siehe den Artikel von Noam Chomsky auf Seite 14). Die US-Intervention war von Skandalen wie der Iran-Contra-Affäre begleitet, die erst 1986 publik wurde. Die Reagan-Administration hatte Erlöse aus geheimen Waffenlieferungen an das Chomeini-Regime im Iran unter Missachtung des US-Kongresses an die Contra weitergeleitet. Die Bilanz der Contra-Aggression waren 29 000 Tote und die Destabilisierung des Landes.

Ende der 1980er-Jahre hatte sich der revolutionäre Elan erschöpft. Das US-Embargo würgte die Wirtschaft des Landes ab, der Krieg zwang zur Aufrüstung, der globale ökonomische Druck zu strikter Sparpolitik. Zudem hatte die Revolution zwar die landlosen Bauern begünstigt, die Kleinbauern jedoch vergessen. Die wurden jetzt zur sozialen Basis der Contra. Obwohl drei Priester in der Regierung vertreten waren, verdammte die Kirche unter Führung des Erzbischofs von Managua, Obando y Bravo, mit Zustimmung des Papstes das Regime. Die engagierten Christen waren damit ausgegrenzt.

Bei den Wahlen im Februar 1990 hatte die Sandinistische Front nicht mit einer Niederlage gerechnet. Trotz erheblicher sozialer Errungenschaften in der Bildungs- und Gesundheitspolitik und auf dem Gebiet von Ernährung, Landreform, Wohnungsbau und Sozialversicherung hatten die Bürger genug vom Krieg, von den Zwangsrekrutierungen vieler junger Männer, von ständigen Sparmaßnahmen und steigenden Lebenshaltungskosten. Die Opposition hatte Frieden, Wohlstand und ein Ende des US-Embargos versprochen. 54,2 Prozent der Wähler entschieden sich für Violeta Chamorro. Nach ihrer Niederlage erklärten sich die FSLN und ihr Spitzenkandidat Daniel Ortega zu einer demokratischen Machtübergabe bereit.1

Trotz aller Probleme der Nachkriegszeit sorgte eine stillschweigende Übereinkunft zwischen Violeta Chamorro und den führenden Sandinisten für einen relativ friedlichen Übergang. Diese ganze Periode stand allerdings, sieht man von der sozial verheerenden Politik der neuen Regierung ab, völlig im Zeichen der piñata. Das ist ursprünglich ein Spiel auf Kindergeburtstagen, bei dem ein Topf voll Bonbons zerschlagen wird, von denen die Mitspieler möglicht viele an sich zu raffen versuchen. Als politische Vokabel bezeichnet piñata die Tatsache, dass etliche Führungskader der Sandinisten sich staatliche Besitztümer unter den Nagel gerissen hatten. Und zwar entweder um zu verhindern, dass das Staatseigentum an die neue, alte herrschenden Klasse zurückfiel, oder um sich für die im revolutionären Kampf gebrachten Opfer zu entschädigen – in einigen Fällen allerdings auch aus purer Habgier.2 Die Sandinisten wurden aber nicht nur durch dieses moralischen Versagen geschwächt, sondern auch durch die internen Konflikte zwischen „Reformern“ und „Orthodoxen“, wobei Letzteren autoritäre Methoden vorgeworfen wurden. Der ehemalige Vizepräsident Sergio Ramírez, zahlreiche Funktionäre und Intellektuelle wie die Brüder Fernando und Ernesto Cardenal, einige Priester und ehemalige Regierungsmitglieder verließen die Partei, die von Daniel Ortega nach wie vor mit eiserner Hand geführt wurde. Zwar hielt die sandinistische Basis treu zur FSLN, doch die in dieser Zeit gemachten Fehler ermöglichten es dem ultrakonservativen Arnoldo Alemán und seiner Liberal-Konstitutionalistischen Partei (PLC), die Präsidentenwahlen am 20. Oktober 1996 zu gewinnen.

Inzwischen haben zehn Jahre neoliberale Politik, Anpassungsprogramme und Marktöffnung große Teile der Bevölkerung an den Rand der Erschöpfung gebracht. Der Soziologe Oscar René Vargas fasst die Probleme zusammen: „Unternehmen werden privatisiert. Mit der Liberalisierung des Handels werden die lokalen Klein- und Mittelbetriebe ebenso wie die landwirtschaftliche Nahrungsmittelproduktion für den Binnenmarkt einer vernichtenden Konkurrenz ausgesetzt. Das Einfrieren der Kredite an landwirtschaftliche Genossenschaften schafft schrittweise die Agrarreform wieder ab. Unter den führenden Vertretern des Sandinismus verlieren fortschrittliche Denkweisen immer mehr an Boden. All das hat bewirkt, dass dies heute ein völlig anderes Land ist als das Nicaragua, das mit der sandinistischen Revolution geboren wurde. Und all das hat es den Regierungen der Neunzigerjahre ermöglich, eine konservative Restauration zu festigen.“3

Auf der politischen Ebene hat sich die FSLN in den letzten zehn Jahren wie eine normale Oppositionspartei verhalten. Seit den Wahlen 1996 versucht sie, ihr Eintreten für die Erwartungen der breiten Bevölkerung mit der Achtung der Normen einer parlamentarischen Demokratie zu verbinden und zugleich die Interessen derjenigen ihrer Mitglieder wahrzunehmen, die sich inzwischen in das „neuen Bürgertum“ integriert haben.

In der letzten Legislaturperiode schlossen die regierenden Liberalen mit führenden Politikern der Sandinistischen Front einen politischen „Pakt“. Der regelte Fragen wie die Bildung von Wahlkoalitionen, das für eine Parlamentsbeteiligung notwendige Quorum für die Kleinstparteien (bei den letzten Wahlen traten 23 solcher Parteien an), das Verbot von parteiunabhängigen Kandidaturen sowie die Rückkehr zu einer „besseren Vertretung der Sandinisten“ in den Staatsorganen. Außerdem wurde beschlossen, das erforderliche Mindestvotum, mit dem ein Kandidat im ersten Wahlgang als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervorgeht, von 45 Prozent auf 40 Prozent, bei über 5 Prozent Vorsprung sogar auf 35 Prozent zu senken. Ehemalige Präsidenten wie Alemán und Ortega sind kraft dieser Vereinbarungen automatisch Parlamentsmitglieder und genießen Immunität.4

Nicht wenige Nicaraguaner sahen in diesem Pakt eine Schwächung der Demokratie, weil er zu viel Macht in den Händen der beiden größten Parteien konzentriere und ihren Mitgliedern Immunität bei wechselseitigen Anklagen zusichere. Viele Sandinisten empfanden den Pakt vor allem als Verrat an den revolutionären Idealen. Für sie hat die FSLN jede Glaubwürdigkeit verspielt, indem sie Zugeständnisse an eine Partei gemacht hat, die den Inbegriff von Korruption darstellt.

Bei den Wahlen am 4. November traten die regierende Liberal-Konservative Partei (PLC), die Konservative Partei (PC) und die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) gegeneinander an. Enrique Bolaños, der Kandidat der PLC, war durch die beispiellose Korruption unter der Regierung Arnoldo Alemán5 in eine schwierige Position geraten, war er doch selbst vier Jahre lang Vizepräsident dieser Regierung gewesen. Er steht für den Agrarkapitalismus und trat im Bündnis mit der wichtigsten christlich-protestantischen Partei und einem Teil der Contra an.

Die Sandinisten wurden wieder von Daniel Ortega angeführt, obwohl sich viele in der Partei gegen seine Kandidatur gewehrt hatten. Die FSLN ging ein Wahlbündnis mit den Christdemokraten ein und trat mit Augustín Jarquín als Vizepräsidentschaftkandidaten an. Der ehemalige Chef des Rechnungshofs war von Präsident Alemán ins Gefängnis gesteckt worden, weil er diesem Korruption vorgeworfen hatte, aber auch unter den Sandinisten hatte er eine sechsmonatige Haftstrafe verbüßt, weil er eine verbotene Demonstration organisiert hatte.

Washington vergisst nicht

DIESE „Koalition der nationalen Einheit“ sicherte sich auch die Unterstützung kleinerer Parteien, darunter einer Splittergruppe von Contra-Veteranen und des berüchtigten Contra-Führers Steadman Fagoth, der in den Achtzigerjahren die Miskito-Indianer der Atlantikküste zum Aufstand gegen die Sandinisten aufgestachelt hatte.6 Erst in letzter Minute schlossen sich dieser Koalition auch die sandinistischen Dissidenten der Bewegung zur Sandinistischen Erneuerung (MRS) an wie auch die Konservative Volksallianz der Myriam Arguello. Und sogar zur Familie Somoza hatte es Kontakte gegeben!

In seinen Reden bat Daniel Ortega immer wieder für die Sandinistische Befreiungsfront um „Vergebung für die Fehler der Vergangenheit“. Manche sahen in der FSLN nur noch Reformisten, die zu dem Projekt der gesellschaftlichen Erneuerung keinerlei Bezug mehr hatten. Auf diesen Vorwurf antworteten die führenden Sandinisten, die vorgeschlagenen Maßnahmen seien die einzig möglichen, um die Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung zu verbessern. Die ursprünglichen Ziele habe man aber nicht aus den Augen verloren. Auf ökonomischem Gebiet versprach die FSLN, die Marktwirtschaft zu respektieren, die in- und ausländischen Investitionen anzukurbeln, das Privateigentum zu verteidigen, eine „Bodenbank“ für die Bauern zu gründen, Kredite für Kleinbauern und Kleinunternehmer zur Verfügung zu stellen und energisch gegen die Korruption vorzugehen.

Die Umfragen vor der Wahl sahen die Sandinisten schon als Sieger. Und bei ihren Gegnern schrillten die Alarmglocken. In einem Brief an Papst Johannes Paul II. erbat Kardinal Obando y Bravo die Hilfe des Vatikans und beklagte das Verhalten gewisser Priester, die „Verwirrung im Geist der Gläubigen stiften, während sich am Horizont die Gefahr abzeichnet, dass die Linke wieder an die Macht kommt“.

In den Vereinigten Staaten löste die Aussicht auf Rückkehr der ehemaligen Revolutionäre und die mögliche Entstehung eines politischen Dreiecks aus Castro (Kuba), Chávez (Venezuela) und Ortega (Nicaragua) sofort wieder die alten Reflexe aus. Die Attentate vom 11. September boten den ersehnten Anlass. In einer Rede über die Folgen der Attentate erklärte Vizeaußenminister Marc Grossman: „Wir sind ernstlich besorgt über die kontinuierliche Verletzung von demokratischen Prinzipien und Menschenrechten durch die Sandinisten, über Enteignungen ohne Entschädigung und Verbindungen zu den Unterstützern des Terrorismus.“

Oliver Garza, der Botschafter der Vereinigten Staaten in Nicaragua, schlug in dieselbe Kerbe. Wenige Tage vor der Wahl sandte Jeb Bush, Gouverneur von Florida und Bruder des Präsidenten, Ortegas Gegenspieler Enrique Bolaños eine auf breiter Ebene publizierte Unterstützungsadresse: „Daniel Ortega ist ein Feind all dessen, wofür die Vereinigten Staaten stehen. Er ist außerdem ein Freund unserer Feinde.“7 Die Wahlkampfmanager der PLC machten sich eilig daran, alte Fotos zu veröffentlichen, die Ortega mit Muammar al-Gaddafi und Saddam Hussein zeigten. Angesichts der Bush-Formel „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ war die Botschaft klar.

Am 4. November fielen die Unentschlossenen um, aus Überlebensinstinkt. Das machte Enrique Bolaños zum Präsidenten von Nicaragua. Und beschert den kleinen Leuten weitere fünf mühselige Jahre.

dt. Herwig Engelmann

* Direktor des Centre tricontinental im belgischen Louvain-la-Neuve.

Fußnoten: 1 Diese Phase wird manchmal merkwürdig verfälscht dargestellt, so auch in der französischen Presse kurz vor den Wahlen: „Der einstige sandinistische Diktator Daniel Ortega greift erneut nach der Macht.“ Le Monde, 4. November 2001. 2 Siehe Maurice Lemoine, „Lockruf der Vergangenheit“, Le Monde diplomatique, Oktober 1996. 3 Oscar René Vargas, Once años despues del ajuste, Managua (Selbstverlag) 2001. 4 Die Immunität für Expräsident Alemán ist für diesen nur ein zusätzlicher Trumpf, da er bereits als Repräsentant der Rechtskonservativen im Zentralamerikanischen Parlament vor der Strafverfolgung geschützt ist. 5 Laut Sergio García, ehemals Abgeordneter und später Dissident der PLC, lange Zeit auch enger Vertrauter von Präsident Alemán, hat dieser ein Vermögen von 250 Millionen Dollar angehäuft. (1996 deklarierte er ein Vermögen von einer Million Dollar.) 6 Siehe Maurice Lemoine, „Der Präsident holt die Miskito-Fahne ein“, Le Monde diplomatique, September 1997. 7 El Nuevo Herald, Miami, 2. November 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von FRANÇOIS HOUTART