14.12.2001

Seelenheil und Wohlstand

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Seelenheil und Wohlstand

DIE traditionellen Kirchen des Christentums klagen über Mitgliederschwund, während „unabhängige“ Kirchen enormen Zulauf genießen. So führen unsichere ökonomische und soziale Verhältnisse in den Ländern der Dritten Welt zur stärkeren Verbreitung der Pfingstkirche, die von den katholischen Amtskirchenschlichtweg als Sekte bezeichnet wird. Besonders in Afrika und Lateinamerika hat die Bewegung zahlreiche Anhänger. Der Status der Glaubensgemeinschaft jedoch bleibt paradox, ist er doch einerseits ein Spiegel der dominierenden westlichen Ideologien, andererseits Ausdruck einer weit verbreiteten Volkskultur.

Von ANDRÉ CORTEN

Eine derartige Aufmerksamkeit hatte die brasilianische „Universale Kirche des Gottesreiches“ bislang nicht erlebt. Am 12. Oktober 1995, dem Fest der brasilianischen Schutzheiligen Nossa Senhora Aparecida, zeigt das wichtigste Fernsehprogramm des Landes einen Bischof dieser Kirche, wie er auf eine schwarze Madonnenstatue einschlägt und sich gleichzeitig über die konfessionelle Parteinahme des vorgeblich laizistischen Staats beklagt. Während sich viele Brasilianer, die dieser Kirche bis dahin wenig Beachtung geschenkt hatten, über diesen spektakulären Auftritt empören, sind nicht wenige insgeheim stolz auf die weltweite Bewegung unter brasilianischem Vorzeichen.

Die „Universale Kirche des Gottesreiches“ verkündet in siebzig Ländern erfolgreich die Botschaft: „Hör auf zu leiden.“ In Frankreich geriet die Kirche 1995 ins Visier der Parlamentskommissionen für Sektenfragen, ebenso zwei Jahre später in Belgien.1 Laut belgischen Berichten ist sie „Schauplatz zahlreicher sexueller Skandale“. In Lateinamerika und Afrika nimmt ihr Einfluss unablässig zu.

In verelendeten Städten wie dem kongolesischen Kinshasa hat die Pfingstbewegung enormen Zulauf. „Jesus, Jesus!“, brüllen die Gläubigen in der Kirche und wälzen sich, von charismatischen Predigern angestachelt, in Trance auf dem Boden. Diese Predigten bringen die Menschen dazu, Hunger, Krankheit und Promiskuität zu vergessen, und versprechen gleichzeitig „wunderbaren Wohlstand“2 . Diese Kirchen erobern nicht nur die Straße, sie verbreiten sich auch über Fernsehen, Video und über das Internet. „Wenn wir keine drakonischen Maßnahmen ergreifen, besteht die kongolesische Nation in zehn Jahren nur noch aus Verrückten und Psychopathen“, meint Professor Mweze, Dekan der katholischen Fakultät von Kinshasa.3

Neben dem „bedrohlichen Einfluss eines extremistischen Islam, der sich in Asien und Afrika ausbreitet“, befürchtet die katholische Kirche „in den großen Metropolen der Dritten Welt die nicht einzudämmende Konkurrenz von Erweckungsbewegungen, Sekten und einer zügellosen ‚Pfingstbewegung‘ “.4 Protestantische Theologen hingegen fragen sich, ob „die Pfingstkirche nicht die Zukunft des Christentums in der Dritten Welt bedeuten könnte“.5 Wie dem auch sei, in Afrika und Lateinamerika ist zunehmend von Bekehrung die Rede. Kirchen mit den verschiedensten Namen schießen wie Pilze aus dem Boden; manche sind relativ bekannt – wie die „Assembly of God“ oder die Church of God – andere weniger, wie beispielsweise Gott ist Liebe, Lebendige Kirche, Tempel von Zion, Kirche des Sieges und andere mehr. Der Begriff „Pfingstkirche“ taucht selten auf, geläufiger ist die Bezeichnung „evangelikal“.

Was genau ist nun unter Pfingstbewegung zu verstehen? Kern ihrer Doktrin (die nicht im direkten Gegensatz zu den Dogmen der institutionellen Kirchen steht) ist der Glaube an die unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes, wie sie in der Apostelgeschichte über Pfingsten geschrieben steht: Predigen in fremden Sprachen, Heilung, Weissagung, Exorzismus usw. Es handelt sich um eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts beinahe zeitgleich in den schwarzen US-amerikanischen Kirchen, in Südafrika, Brasilien und Chile aus dem Protestantismus entstandene Erweckungsbewegung, die seit den Achtzigerjahren eine explosionsartige Ausbreitung erlebt. Rechnet man die christlich-zionistischen6 und die neuapostolischen Kirchen hinzu, so hängt heute in Südafrika annähernd die Hälfte der Bevölkerung dieser Glaubensrichtung an. Vor zwanzig Jahren war es kaum ein Viertel. In Chile oder Guatemala beispielsweise bekennen sich immerhin 15 bis 25 Prozent der Bevölkerung zu einer solchen Glaubensrichtung. Insgesamt sollen die Anhänger dieses modernen Proselytentums in Afrika und Lateinamerika über hundert Millionen zählen.

Es handelt sich bei ihnen – im gebräuchlichen Wortsinn – um Sekten, da sie enormen Bekehrungseifer an den Tag legen und von ihren Anhängern erhebliches Engagement fordern. Andere sektentypische Merkmale treffen jedoch nicht zu. So wird zum Beispiel der Ausschließlichkeitsanspruch („außerhalb der Kirche kein Heil“), der im soziologische Sinne eine Sekte ausmacht, nicht erhoben. Entscheidend ist allein die „Bekehrung zu Christus“. Die Abkehr von der „Welt“ spielt ebenfalls eine immer geringere Rolle.7 Das außerordentliche Wachstum dieser Bewegung wird nicht zuletzt daran deutlich, dass es eine ständig wachsende Zahl von Neugründungen gibt, die über die Landesgrenzen hinaus – in Kenia, Uganda, Kongo, Ruanda, Burundi und Tansania oder in Brasilien, Venezuela, Uruguay und Argentinien – aktiv sind und deren Uniformität frappierend ist. Wie erklärt sich, dass diese neuen religiösen Praktiken einander so sehr gleichen, ob nun in Ruanda, Simbabwe, Elfenbeinküste, in Bolivien, Brasilien, Guatemala oder Haiti? Ist es Resultat oder Ausdruck von Globalisierung?8

Bis zum Ende der Achtzigerjahre kursierte eine einzige Erklärung für das sprunghafte Anwachsen dieses Phänomens, das katholische Kreise mit allem Nachdruck unter den Begriff „Sekten“ subsumieren. Bezug genommen wird dabei auf den Rockefeller-Bericht von 1969 sowie auf das Dokument von Santa Fe, ideologisches Grundsatzpapier des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan aus dem Jahr 1980. Es spricht von der drohenden marxistischen Unterwanderung der katholischen Kirche und den Gefährdungen, die von der Befreiungstheologie ausgehen. Auch die katholische Obrigkeit bringt ihre Besorgnis zum Ausdruck. Bereits 1969 bemühte sich die katholische Universität Louvain, mit diskreter Unterstützung der CIA, ein Zentrum für christliche Entwicklungsethik zu gründen, – um bessere Kontrollen der teilweise eigens ausgebildeten lateinamerikanischen Theologen zu bewirken. In den damaligen Berichten wird nahe gelegt, die evangelikalen Kirchen, die sich gerade auszubreiten beginnen, als Gegengewicht zur Befreiungstheologie zu unterstützen. So steckt wohl ein Körnchen Wahrheit in der sich hartnäckig haltenden Auffassung, dass die Pfingstkirchen der „spirituelle Arm“ des amerikanischen Imperialismus seien.

1990 erschienen zwei Bücher – das eine von dem Amerikaner David Stoll9 , das andere von dem renommierten britischen Religionssoziologen David Martin10 –, die mit derartigen Vereinfachungen aufräumen. Wenn Washington auch das Aufkommen der evangelikalen Bewegung mit Wohlgefallen zur Kenntnis nimmt, da sie manchen Grundzug der amerikanischen Kultur beinhaltet und somit ein Gegengewicht zum eher europäischen Einfluss des Katholizismus darstellt, gibt es doch keinen Beweis dafür, dass die rasante Ausbreitung der evangelikalen Kirchen amerikanischen Dollars zu verdanken ist. Es gibt nicht einmal einen Hinweis darauf, dass sie höhere finanzielle Zuwendungen als die verschiedenen katholischen Glaubensrichtungen erhalten hätten.Viele dieser Kirchen sind tatsächlich vollkommen autonom. Die Ausbreitung der Universalen Kirche erbringt, was den Geldfluss betrifft, sogar den Gegenbeweis – das Geld, das ihre Ausbreitung bis auf die nördliche Halbkugel ermöglicht hat, stammt nämlich von den Armen Brasiliens.

Die zunehmende Gleichförmigkeit der Glaubenspraktiken und -vorstellungen nach amerikanischem Muster kann da die These vom „spirituellen Arm“ schon eher untermauern. Groß angelegte „Kreuzzüge“ locken in ganz Afrika und Lateinamerika beeindruckende Massen von Anhängern und Neugierigen in die Sportstadien. Fernsehprogramme, die „Wunderheilungen“ (mitunter rund um die Uhr) ausstrahlen, erreichen immer größere Kreise der Bevölkerung. Untrennbar verbunden ist das Ganze mit einigen Fernsehpredigern, von denen manche an der Spitze der Christlichen Koalition in den USA stehen und zum näheren Umfeld des Präsidenten gehören.

Die Glaubensgrundsätze der Pfingstbewegung sind teilweise (wenn auch in unterschiedlichem Maße) US-amerikanischen Ursprungs, wie Paul Gifford erklärt, der auch den Zusammenhang von Pfingstkirche und südafrikanischem Rechtsextremismus aufgezeigt hat.11 Dies gilt vornehmlich für die so genannte Theologie des Wohlstands („Gott liebt die Armut nicht“ und „Sich bereichern ist keine Sünde“), für den Erlösungsgedanken und die Vorstellung von einem spirituellen Kampf („Wir müssen den Satan aus unserem Leib, unserem Geist und aus unserem Land vertreiben“) und schließlich für das, was Gifford den „christlichen Zionismus“ nennt. Durch diesen erklärt sich, dass in Afrika und Lateinamerika ständig Bezug auf Israel genommen wird und die Prediger ihre Gläubigen zu Pilgerfahrten nach Jerusalem auffordern. Dieser spirituelle Kampf mit seinen apokalyptischen Tönen nimmt bisweilen unerwartete Formen an: So flog ein Starprediger der Pfingstkirche von Costa Rica über die nicaraguanische zur panamesischen Grenze, von Puntarenas bis Limón, wobei er alle sechs Kilometer heiliges Öl verteilte, um, wie er verkündete, „das nationale Territorium zu befreien und die Evangelisation zu erleichtern“.12

Wenn die traditionelle und die neue Pfingstbewegung sowie die entsprechenden Kirchen die „Armen“ an die Erfordernisse des Marktes heranführen – haben wir es da nur noch mit dem „spirituellen Arm“ des amerikanischen Imperialismus zu tun oder nicht auch mit dem Arm des triumphierenden Neoliberalismus? Tatsächlich existiert dank dieser Kirchen eine erzählerische Struktur, die vom weltweiten Erfolg der USA und des Neoliberalismus kündet. Damit wenden sich diese an den – im Regelfall armen – Einzelnen und nicht nicht an die proletarisierten Schichten als Gruppe. Sie fangen den Schock der Strukturanpassungsmaßnahmen auf und geben den Bekehrten, was ganz im Sinne der Weltbank ist: den Frauen mehr Rechte (empowerment) und den Männern Selbstvertrauen und Zuversicht, die eigene Not überwinden zu können. Sie helfen den gesellschaftlich Ausgegrenzten, nicht aufzugeben, sondern wieder „auf die Füße zu kommen“.

Neoliberale Ausbeutung und tröstendes Heil

VON den ekstatischen Gottesdiensten aufgeputscht, ertragen die Gläubigen ohne Auflehnung die neuen, harten Zeiten, die die neoliberale Globalisierung ihnen zumutet. Das Motto: Gebt, und Gott wird es euch hundertfach vergelten!

Neues „Opium des Volkes“? Dabei sollte allerdings der erste Teil des berühmten Marx-Satzes nicht in Vergessenheit geraten: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.“ Unter diesem Blickwinkel muss man klar sehen, dass die historisch gewachsenen christlichen Kirchen, Katholizismus wie Protestantismus, im Verlauf der letzten Jahrhunderte einen Rationalisierungs- und Entmythologisierungssprozess durchlaufen haben, dass sie, wie Marcel Gauchet es formuliert, begonnen haben, aus der Religion auszutreten, und im Allgemeinen weder Trost noch Wärme spenden. Das Pendel schwingt heute wieder in Richtung eines neuen religiösen Bedürfnisses, des Bedürfnisses nach Emotion, nach Teilhabe, nach dem Überirdischen (besonders als Inszenierung Furcht erweckender Mächte). In Südamerika knüpft die Pfingstbewegung an die Volksfrömmigkeit und den Mystizismus an, wie sie im 19. Jahrhundert verbreitet waren – populäre „heidnische“ Ausdrucksformen, die die katholische Kirche seit Ende des Jahrhunderts zu disziplinieren suchte.

In Afrika kann sich die Pfingstbewegung auf den Prophetismus stützen, was Öffnung und Widerstand zugleich bedeutet. Angesichts des Rationalisierungs- und „Virtualisierungs“-Schubs suchen die Unterdrückten dieser Erde anschauliche Darbietungen der Grausamkeit des „Bösen“ und gewinnen dadurch wieder ein Gefühl für das Heilige. Erliegen sie damit einem trügerischen Glück? Sie selbst sind überzeugt, dass sich diejenigen täuschen, die Revolutionen versprechen, an deren Ende es den Armen, noch schlechter geht.

Die Pfingstkirche wendet sich an den Einzelnen. Jeder, ob Mann oder Frau, ist einerseits atomisiert, andererseits lebt er in einem holistischen Universum. Aus einer Kultur kommend, in der der Glaube an die Gegenwart von Geistern noch lebendig ist, können sich die afrikanischen Gläubigen so weiterhin der Natur und ihrer Gemeinschaft verbunden fühlen und versuchen, diese, wenn sie auseinander gebrochen ist, zu rekonstruieren. Nirgendwo kommt der Holismus besser zum Ausdruck als in der so genannten Wunderheilung. Als Neubetrachtung des eigenen Körpers, der Beziehungen zu anderen und der spirituellen Bedürfnisse ist eine Wunderheilung mehr als die schlichte Veränderung des physiologischen Zustands: Sie ist eine Regeneration. Erreicht wird sie auf dem Weg der „Wiedergeburt“, durch die der Einzelne wieder zu sich selbst findet und die Gemeinschaft sich versöhnt. Auch wenn die wirtschaftlichen Ungleichheiten zu neuer Sprengkraft führen und das Ziel noch lange nicht erreicht ist, bleibt doch festzuhalten, dass sich der Wandel Südafrikas zu einer neuen Gesellschaft mit Hilfe dieses für das südafrikanische Christentum charakteristischen Konzepts der „Heilung“ vollzogen hat.

Intellektuelle empfinden angesichts der Pfingstbewegung spontanen Widerwillen. Sie können in den mystizistischen Gottesdiensten nichts als groteskes Gehabe erkennen, die Frommen erscheinen ihnen gutgläubig, rückständig oder gar opportunistisch. Die Pfingstler sind einerseits äußerst modernitätsbeflissen – besonders, was ihre transnationalen Strukturen und den Einsatz der Medien betrifft –, wirken andererseits aber zurückgeblieben, weil sie an böse Geister und an Manifestationen des Teufels glauben. Sie treten ausgesprochen strikt auf (Verbot von Alkohol und Tabak, strenge Regulierung des Sexuallebens usw.) und sind zugleich sehr körperbetont (ihre Gottesdienste gleichen mitunter recht sinnesfreudigen Tanzaufführungen). Sie verlangen die wörtliche Befolgung der Bibel und passen sich gleichzeitig den Erfahrungen des Einzelnen an. So nimmt beispielsweise die „Theologie des Wohlstands“ die Bibelstelle, in der Gott Abrahams Reichtum segnet, wörtlich und wird damit zum Ausdruck des Traums der Masse vom großen Geld. Zugleich bekräftigt sie tatsächlich ein Recht, nämlich das Recht darauf, der Erniedrigung, der Armut und der Abhängigkeit zu entkommen. Wer sein Leben Christus weiht, wird am Ende zu den „Siegern“ gehören.

Diese Anpassungsfähigkeit an die Logik der Globalisierung war auch den Anthropologen lange Zeit ein Dorn im Auge. Vor allem die Afrikanisten haben mit ihrer Fixierung auf das „authentisch“ Afrikanische, dieses „amerikanische“ Phänomen außer Acht gelassen. Erst eine jüngere Generation von Anthropologen, Soziologen und Politologen (viele von ihnen aus Frankreich und Großbritannien) interessiert sich dafür und beginnt, es zum Gegenstand ihrer Untersuchungen zu machen. In Südamerika haben Brasilianer, Chilenen und Argentinier hingegen schon vor einiger Zeit mit solchen Untersuchungen begonnen.

Natürlich mag es gute Gründe geben, angesichts der Pfingstbewegung die Nase zu rümpfen und ihr vorzuwerfen, dass sie Glaubensinhalte feilbietet wie x-beliebige Produkte im Supermarkt. Im Allgemeinen jedoch wird das mehr oder weniger wertfrei zur Kenntnis genommen. Ob man ihre Ausdrucksformen und ihren Stil nun schätzt oder nicht, Einigkeit herrscht inzwischen darüber, dass es sich hier um Volkskultur handelt. Um eine Kultur, die sich nicht abseits halten kann von dem, was in der Welt vor sich geht, die aber ihre von außen oftmals als Aberglauben eingestuften Traditionen nicht verleugnet. So hat sich die Pfingstbewegung von einer Rückzugs- und Fluchtkultur zu einer Kultur der Adaptation gewandelt.

Das Phänomen breitet sich überall auf der Welt aus. Es soll auch in Asien (sogar in China13 ) verbreitet sein.14 Die Bewegung wird wie ein großer Krieg erlebt. „In den Neunzigerjahren werden wir Zeuge des heftigsten spirituellen Kampfes, den die Kirche im Verlauf ihrer zweitausendjährigen Geschichte erlebt hat“ – bekommt man an den Bibelschulen beigebracht. „Eine entmilitarisierte Zone gibt es nicht.“ Überall lassen sich dieselben Rituale beobachten, derselbe Einsatz der Medien, dieselbe erzählerische Struktur.

Doch diese Standardisierung nivelliert keineswegs die Kulturen. Sie gleicht vielmehr einem Universalschlüssel, mit dem sich verschiedene Schrauben anziehen lassen. Sie ist universell, indem sie sich über Landesgrenzen hinwegsetzt. Aber sobald die Schrauben angezogen sind, entstehen neue Konfigurationen. Identitäten manifestieren sich, die enger gefasst sein können als die nationale Identität und zugleich weiter greifen, als die Staatsgrenzen vorgeben. Am bemerkenswertesten aber ist, dass es sich hier nicht um von oben diktierte Geopolitik handelt (es gibt tausende Kirchen mit unterschiedlichen Namen, und selbst die größten sind im Allgemeinen dezentral organisiert), sondern um eine Geopolitik von unten, betrieben von kleinen Predigern und „Barfüßern“.

Mit ihrem Glauben an Wunderheilung schaffen die Pfingstler in Gegenden der Welt, die in jeder Beziehung abgehängt und vergessen sind, eine neue Kultur, die man durchaus als Volkskultur bezeichnen kann, auch wenn die intellektuellen Eliten sie nicht als solche anerkennen. Freilich handelt es sich um eine Kultur des Widerstands, die wider Willen die herrschende Ideologie reproduziert. In diesem Sinne ist die Pfingstbewegung tatsächlich das neue Opium des Volkes. Allerdings darf man den Kontext, in dem Marx diesen Begriff verwendete, niemals vergessen: Sie ist Emotion in einer emotionslosen Welt.

dt. Passet/Petschner

* Politologe, Mitglied von Gripal (Groupe de recherche sur l’imaginaire politique en Amérique latine), Montréal. Mitherausgeber mit Mary Corten von „Imaginaires politiques et pentecôtismes: Afrique/Amérique latine“, Paris 2001.

Fußnoten: 1 Vgl. Bruno Fouchereau, „Im Namen der Freiheit“, Le Monde diplomatique, Mai 2001. 2 Ruth Marshall-Fratani, „Prospérité miraculeuse: Pasteurs pentecôtistes et argent de Dieu au Nigéria“, Politique africaine, Nr. 82, Paris, Juni 2001, S. 24–44. 3 Marc Vanwesse, „Lavage de cerveaux“, Extradossier von Le Soir, Brüssel, 7. September 2001. 4 Le Monde, 22. Februar 2001. 5 Siehe Walter Hollenweger, Cahiers de l’IREP, Nr. 39, Université de Lausanne, April 2001. 6 Nach Auffassung dieser Glaubensrichtung hat Gott Israel niemals verlassen. 7 Jean-Paul Willaime, „Les définitions sociologiques de la secte“, in Messner, Francis (Hg.), „Les ‚sectes‘ et le droit en France“, Paris, 1999, S. 21–46. Siehe auch Danièle Hervieu-Léger, „La religion en miettes ou la question des sectes“, Paris, 2001. 8 André Corton/Ruth Marshall-Fratani (Hg.), „Between Babel and Pentecost: Transnational Pentecostalism in Africa and Latin America“, London/Bloomington 2001. 9 David Stoll, „Is Latin America Turning Protestant? The Politics of Evangelical Growth“, Berkeley 1990. Stoll ist darüber hinaus im vergangenen Jahr mit einem (ausgesprochen umstrittenen) Werk an die Öffentlichkeit getreten, das sich mit dem Leben der guatemaltekischen Nobelpreisträgerin Rigoberta Menchu befasst. 10 David Martin, „Tongues of Fire: The Explosion of Protestantism in Latin America“, Oxford 1990. 11 Paul Gifford, „The Complex Provenance of Some Elements of African Pentecostal Theology“, in André Corten/ Ruth Marshall-Fratani, a. a. O., S. 62–79. 12 Jean-Pierre Bastian in André und Mary Corten, „Imaginaires politiques et pentecôtismes: Afrique/Amérique latine“, Paris 2001, S. 220. 13 Für China werden Zahlen mit inflationärem Koeffizienten genannt: In bestimmten evangelischen Kreisen beziffert man die dortige Anhängerschaft auf 60 Millionen. Convention globale du pentecôtisme, Los Angeles, Mai 2001. 14 Paul Freston, „Evangelicals and politics in Asia, Africa and Latin America“, Cambridge 2001.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von ANDRÉ CORTEN