Warum sie uns wirklich hassen
WARUM gibt es Menschen, die uns hassen, wo wir doch so gut sind?“ fragte US-Präsident Bush kürzlich. Aus dieser Selbstwahrnehmung als „Reich des Guten“ folgt die Anmaßung: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Kaum einer in den USA diskutiert derzeit, welche Folgen es hat, wenn die einzige real existierende Supermacht sich stets als strahlender Sieger geriert. Dabei kommen die Triumphe von gestern Washington bereits heute teuer zu stehen, wie man an Ussama Bin Laden erkennt. Wie hoch wird der Preis sein für den Sieg über Bin Laden und die Taliban?
Von NOAM CHOMSKY *
Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen sind für mich zwei Grundannahmen: Erstens stellen die Ereignisse vom 11. September 2001 eine furchtbare Gräueltat dar, bei der mehr Menschen eines plötzlichen Todes starben als je zuvor in der Geschichte, sieht man von Kriegen ab. Zweitens muss alles unternommen werden, um die Gefahr einer Wiederholung solcher Attentate auf ein Minimum zu reduzieren, unabhängig davon, ob wir selbst oder andere betroffen sein mögen.
Beginnen wir mit der Lage in Afghanistan. Dort sind mehrere Millionen Menschen vom Hungertod bedroht. Bereits vor den Anschlägen konnten sie nur dank internationaler Hilfe überleben. Am 16. September forderten die USA jedoch von Pakistan, den Transport von Lebensmitteln und anderen von der afghanischen Bevölkerung dringend benötigten Hilfsgütern zu unterbinden. Der Westen hat dagegen nur schwach protestiert. Als Hilfsorganisationen Teile ihres Personals abzogen, wurden die Hilfsaktionen noch problematischer. Eine Woche nach Beginn der Bombardierungen wiesen die Vereinten Nationen darauf hin, dass der bevorstehende Wintereinbruch die durch die US-Luftangriffe ohnedies bereits auf ein Minimum reduzierten Transporte unmöglich machen würde.
Als die zivilen und religiösen Hilfsorganisationen gemeinsam mit dem Berichterstatter der Vereinten Nationen und der Welternährungsorganisation FAO die Einstellung der Bombardierungen forderten, war darüber in der New York Times nichts zu lesen. Der Boston Globe brachte die Meldung in einer Zeile, versteckt in einem Artikel über die Situation in Kaschmir. Mit ihrer resignativen Haltung hat die westliche Welt im Oktober 2001 den möglichen Tod von hunderttausenden Afghanen in Kauf genommen. Zur selben Zeit hat der Chef dieser Zivilisation (der US-amerikanische Präsident) erklärt, er würde weder auf die afghanischen Verhandlungsvorschläge zur Auslieferung Ussama Bin Ladens noch auf die Forderung der Taliban reagieren, die Beweise verlangten, um gegebenenfalls eine Auslieferung zu genehmigen. Für Bush kam nur die bedingungslose Kapitulation in Frage.
Kein Verbrechen in der Geschichte war mörderischer als die Attentate vom 11. September, kaum ein Krieg hat innerhalb so kurzer Zeit so viele Opfer gefordert. Zudem wurde diesmal ein ungewöhnliches Ziel anvisiert: die Vereinigten Staaten. Der oft strapazierte Vergleich mit Pearl Harbor erscheint mir gleichwohl völlig unpassend. Die japanische Armee bombardierte 1941 Militärstützpunkte in zwei Kolonien, die die USA sich unter ziemlich dubiosen Umständen1 angeeignet hatten; die Japaner griffen also kein US-Territorium im engeren Sinne an.
Seit beinahe zweihundert Jahren haben wir US-Amerikaner die indigenen Völker Lateinamerikas vertrieben oder ausgerottet (insgesamt einige Millionen Menschen), die Hälfte des mexikanisches Territoriums erobert, die Regionen der Karibik und Mittelamerikas geplündert, Haiti und die Philippinen überfallen und bei dieser Gelegenheit 100 000 Philippiner ermordet. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir, wie allgemein bekannt ist, unseren globale Machtsphäre weiter ausgedehnt. Fast immer waren wir es, die getötet haben, und zwar in Kämpfen außerhalb unseres nationalen Territoriums.
Wenn ich beispielsweise zur IRA und zum Terrorismus befragt werde, fällt mir immer wieder auf, dass sich die Fragen der Journalisten ganz wesentlich danach unterscheiden, ob die Fragesteller diesseits oder jenseits der Irischen See beheimatet sind. Im Allgemeinen erscheinen uns die Probleme unserer Erde in einem unterschiedlichen Licht, je nachdem ob man jahrhundertelang Schläge eingesteckt hat oder ob man selbst die Knute in der Hand hält. Vielleicht ist dies der Grund, warum die übrige Welt, obgleich sie sich von den Ereignissen vom 11. September zutiefst betroffen zeigte, auf die Anschläge von New York und Washington nicht genauso reagiert hat wie wir selber.
Um die Ereignisse vom 11. September zu begreifen, muss man unterscheiden zwischen denen, die das Verbrechen begangen haben, und den zahlreichen Menschen, die dem Verbrechen Verständnis entgegenbrachten, obwohl sie es ablehnten. Wenn es sich, wie anzunehmen, um das Netz Bin Ladens handelt, so weiß über die Entstehung dieser fundamentalistischen Gruppe niemand besser Bescheid als die CIA und ihre Verbündeten. So hat sich etwa Zbigniew Brzezinski, der Sicherheitsberater von Präsident Carter, öffentlich zugute gehalten, den Sowjets 1978 eine „Falle“ gestellt zu haben, indem man ihre Soldaten mittels Angriffen der Mudschaheddin (die von der CIA organisiert, bewaffnet und ausgebildet worden waren) gegen das Regime von Kabul binnen einem Jahr auf afghanisches Territorium gelockt habe.2 Erst nach 1990, mit der Errichtung dauerhafter US-Militärbasen auf dem für die islamische Religion heiligen Boden Saudi-Arabiens, begannen diese Kämpfer, sich gegen die USA zu wenden.
Um das Sympathiepotenzial für das Bin-Laden-Netzwerk zu verstehen, sollten wir zunächst die Wut begreifen, die die USA mit ihrer Unterstützung autoritärer oder diktatorischer Regime ausgelöst haben. Wir müssen uns etwa vergegenwärtigen, dass die US-amerikanische Politik die irakische Gesellschaft zerstört hat, indem sie das Regime von Saddam Hussein konsolidierte, wie auch die Rolle Washingtons bei der israelischen Besetzung der palästinensischen Gebiete seit 1967. Während die Leitartikel der New York Times uns nach dem 11. September suggerierten, dass „sie“ uns hassen, weil wir den Kapitalismus, die Demokratie, die Rechte des Individuums und die Trennung von Kirche und Staat verteidigen, bekam das besser informierte Wall Street Journal eine andere Auskunft, als es Banker und führende Wirtschaftsvertreter aus nichtwestlichen Ländern befragte: „Sie“ hassen uns, weil wir die Demokratie und die wirtschaftliche Entwicklung behindern. Und weil wir brutale, terroristische Regime unterstützen.
In westlichen Regierungskreisen beschrieb man den Krieg gegen den Terrorismus als „Kampf gegen eine Seuche, deren Erreger von den Barbaren verbreitet werden“. Solche Worte sind nichts Neues. Vor zwanzig Jahren hörten wir es ganz ähnlich aus dem Munde Ronald Reagans und seines Außenministers Alexander Haig. Damals baute die US-Administration zur Bekämpfung der verderbten Gegner der Zivilisation gerade ein internationales Terroristennetz auf. Es spannte sich rund um die Welt, seine Hauptaktivitäten allerdings waren auf Lateinamerika konzentriert. Dabei ist ein Fall, nämlich Nicaragua, völlig unstrittig, denn er wurde sogar vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag und in der UNO verhandelt. Doch diesen eindeutigen Fall einer terroristischen Aktion, gegen die sich ein Rechtsstaat auf rechtlichem Wege zu wehren versuchte, hat kaum einer der großen Kommentatoren je angeprangert. Dabei handelte es sich um einen noch extremeren Präzedenzfall als bei den Attentaten vom 11. September: Der Krieg der Reagan-Administration kostete Nicaragua 29 000 Todesopfer und 28 000 Verwundete und trieb das Land – womöglich auf irreversible Weise – in den Ruin (siehe die Seiten 23/24).
Recht behält, wer die Macht hat
DIE Reaktion Nicaraguas bestand nicht etwa darin, Bomben auf Washington zu werfen, sondern vielmehr darin, den IGH in Den Haag anzurufen. Am 27. Juni 1986 entschied der IGH im Sinne Nicaraguas, verurteilte „die illegale Gewaltanwendung“ durch die USA (insofern diese nicaraguanische Häfen vermint hatten) und forderte Washington auf, seine kriminellen Praktiken zu beenden und im Übrigen eine Entschädigungssumme zu zahlen. Die Antwort der USA bestand in der Erklärung, man werde sich dem Urteil nicht beugen und den Gerichtshof nicht mehr anerkennen.
Daraufhin beantragte Nicaragua beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution, mit der alle Staaten zur Einhaltung des internationalen Rechts angehalten werden. Diese Resolution hatte keinen expliziten Adressaten, doch wusste jeder, wem sie galt. Gegen sie legte Washington ein – ihm als ständigem Mitglied des Sicherheitsrates zustehendes – Veto ein. Daraufhin wandte sich Nicaragua an die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Gegen die von Managua vorgelegte Resolution stimmten nur drei Staaten, nämlich die USA, Israel und El Salvador. Im darauf folgenden Jahr beantragte Nicaragua erneut eine Abstimmung über diese Resolution. Diesmal wurde die Reagan-Regierung nur noch von Israel unterstützt. Aber damit hatte Nicaragua seine Rechtsmittel erschöpft.
Diese Geschichte enthält einige wichtige Lektionen. Die erste lautet, dass Terrorismus – nicht anders als Gewalt – durchaus erfolgreich ist. Die zweite Lektion lautet, dass der Terrorismus keineswegs nur ein Instrument der Schwachen darstellt. Wie die meisten tödlichen Waffen ist der Terrorismus in erster Linie eine Waffe der Mächtigen. Das Gegenteil lässt sich nur behaupten, weil die Mächtigen auch die ideologischen und die kulturellen Apparate beherrschen, weshalb ihr Terrorismus nicht als solcher benannt wird. Das funktioniert auch deshalb, weil es ihnen gelingt, die Erinnerung an anstößige Ereignisse auszulöschen. Dabei ist der Einfluss der amerikanischen Propaganda und Doktrinen so übermächtig, dass er sogar noch auf ihre Opfer wirkt. Fährt man heute nach Argentinien und fragt die Menschen nach der Vergangenheit, so bekommt man zur Antwort: „Ach ja, aber das haben wir doch längst vergessen!“
Nicaragua, Haiti und Guatemala sind heute die drei ärmsten Länder Lateinamerikas. Und sie gehören nicht ganz zufällig zu den Ländern, in denen die USA unter dem Beifall westlicher Intellektueller militärisch interveniert haben. Die beriefen sich zum Beispiel noch vor wenigen Jahren selbstgefällig auf „ein Ende der Geschichte“, eine neue Weltordnung, in der wir überall inhumane Verhältnisse abschaffen, und so weiter. Solche Formeln waren gängige Münze, während wir zugleich immer neue Gräueltaten zugelassen haben – ja schlimmer noch, uns aktiv daran beteiligt haben. Aber wer redet noch darüber? Eine der Errungenschaften der westlichen Zivilisation besteht vielleicht darin, dass in einer freien Gesellschaft solche Inkonsequenz möglich ist.
Was verstehen wir unter Terrorismus? In den amerikanischen Armeehandbüchern wird Terror als kalkulierte Anwendung von Gewalt, Gewaltandrohung, Einschüchterung, Zwang für politische oder religiöse Zwecke definiert. Das Problem dieser Definition besteht darin, dass sie ziemlich exakt jenes Phänomen beschreibt, das die USA als Krieg von geringer Intensität bezeichnen – und selbst praktizieren. Als im Dezember 1987 die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution gegen den Terrorismus verabschiedete, hat sich übrigens Honduras der Stimme enthalten und die USA und Israel haben dagegegen gestimmt. Warum? Wegen eines Paragrafen, der besagte, dass das Recht der Völker, sich gegen ein kolonialistisches Regime oder eine militärische Okkupation zu wehren, keinesfalls in Zweifel stehen dürfe.
Damals war Südafrika ein Verbündeter der USA. Außer den Angriffen gegen Nachbarländer wie Namibia oder Angola, die hunderttausende Todesopfer gekostet und materiellen Schaden in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar versursacht haben, kämpfte das Apartheidregime damals noch gegen einen inneren Gegner: den „terroristischen“ Afrikanischen Nationalkongress (ANC). Israel wiederum hält seit 1967 Gebiete der Palästinenser besetzt und bekämpfte im lange Zeit ebenfalls besetzten südlichen Libanon gegen die Hisbollah, die Jerusalem und Washington ebenfalls als „terroristisch“ bezeichnete.
In den 1990er-Jahren spielten sich die schlimmsten Verstöße gegen die Menschenrechte in Kolumbien ab. Dieses Land war neben Israel und Ägypten – die wiederum ein Kapitel für sich darstellen – einer der Hauptempfänger von US-amerikanischer Militärhilfe. Platz eins belegte bis 1999 allerdings die Türkei, die seit 1984 von den USA eine stetig steigende Zahl von Waffen bezog. Warum gerade seit 1984? Nicht etwa, weil das Nato-Mitglied Türkei sich gegen die Sowjetunion behaupten musste – die befand sich damals bereits in Auflösung –, sondern weil Ankara einen Terrorkrieg gegen die Kurden führte. 1997 erhielt die Türkei mehr US-Militärhilfe als im gesamten Zeitraum zwischen 1950 und 1983, also in der Ära des Kalten Krieges. Das Resultat: 2 bis 3 Millionen Flüchtlinge, zigtausend Tote, 350 zerstörte Städte und Dörfer. Als die Repression zunahm, stammten fast 80 Prozent der von der türkischen Armee eingesetzten Waffen aus den USA. Erst 1999 gingen die Lieferungen zurück. Der militärische Terror, der von der Regierung in Ankara natürlich als „Kontraterror“ bezeichnet wurde, hatte sein Ziel erreicht – wie fast immer, wenn Terror von den Herrschenden ausgeübt wird.
Mit der Türkei hatten sich die USA einen dankbaren Verbündeten herangezogen. Washington hatte Ankara F-16-Kampfflugzeuge zur Bombardierung der eigenen Bevölkerung geliefert, 1999 bombardierte die türkische Luftwaffe damit auch Ziele in Serbien. Einige Tage nach dem 11. September ließ der türkische Premierminister Bülent Ecevit wissen, sein Land schließe sich mit Begeisterung dem amerikanischen Bündnis gegen Bin Laden an. Bei dieser Gelegenheit bekundete er, die Türkei stehe in der Schuld der Vereinigten Staaten, wobei er sich auf den eigenen „antiterroristischen Kampf“ bezog und auf die beispiellose Hilfe, die Washington dazu geleistet habe. Zwar haben auch andere Länder die Türkei im Krieg gegen die Kurden unterstützt, doch keines mit dem Eifer und der Effizienz der USA. Diese Unterstützung erfolgte mit dem stillschweigendem Einverständnis der gebildeten Amerikaner. Denn die wussten sehr wohl, was gespielt wurde. Schließlich sind die USA ein freies Land; die Berichte der humanitären Organisationen über die Lage in Kurdistan waren allen zugänglich. Damals haben wir uns entschieden, die Gräueltaten zu unterstützen.
Zu unserem Bündnis gegen den Terrorismus gehören noch andere Partner. Im Christian Science Monitor (in Sachen internationaler Berichterstattung wohl eine der besten amerikanischen Zeitungen) war zu lesen, dass gewisse nicht gerade amerikafreundliche Länder die USA allmählich mehr respektieren würden, und zwar wegen des von ihnen geführten Kampfs gegen den Terrorismus. Der Verfasser dieses Berichts nannte als Hauptbeispiel Algerien. Als Afrikaexperte wird er aber wissen, dass die Regierung Algeriens einen Krieg gegen das eigene Volk führt. Russland, das einen Terrorkrieg in Tschetschenien führt, und China, das Gräueltaten an seinen so genannten abtrünnigen Muslimen verübt, haben sich ebenfalls der amerikanischen Sache angeschlossen.
Wie aber soll man nun in der aktuellen Situation reagieren? Ein radikaler Extremist, der Papst, hat vorgeschlagen, die Schuldigen der Verbrechen vom 11. September aufzuspüren und vor Gericht zu stellen. Die USA lehnen aber die normale Gerichtsbarkeit ab, sie wollen keine Beweise und ignorieren die Existenz eines Internationalen Gerichtshofs. So wie sie es bereits 1991 gegenüber der Regierung von Haiti taten: Als diese von Washington die Auslieferung von Emmanuel Constant forderte, dem sie die Ermordung von tausenden Menschen nach dem Putsch gegen Präsident Jean-Bertrand Aristide vom 30. September 1991 vorwarf, und Beweise für dessen Schuld vorlegte, stellte sich die US-Regierung taub. Der Auslieferungsantrag wurde nicht einmal diskutiert.
Terrorismusbekämpfung bedeutet, das Ausmaß des Terrors einzuschränken, statt es immer mehr auszuweiten. Wenn die Irisch-Republikanische Armee (IRA) in London ein Attentat verübt, lassen die Briten weder in Boston, wo die IRA zahlreiche Sympathisanten hat, noch in Belfast Bomben niedergehen. Vielmehr versuchen sie, die Schuldigen aufzuspüren, um sie vor Gericht zu stellen. Ein Mittel, um den Terrorismus einzudämmen, müsste darin bestehen, auch selbst keinen Terror mehr auszuüben – und über die eigene Politik nachzudenken, die ein Reservoir von Sympathisanten geschaffen hat, von dem am Ende die Drahtzieher der Attentate profitierten.
dt. Andrea Marenzeller
* Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags.