Islamabads geopolitischer Drahtseilakt
Von KURT JACOBSEN und SAYEED HASAN KHAN *
BENAZIR Bhutto beschrieb Pakistan 1995 als „ein gemäßigtes, demokratisches islamisches Land, das mit seiner strategischen Lage zwischen Südasien, Zentralasien und dem Persischen Golf in einer Region der raschen politischen Veränderung und großer wirtschaftlicher Möglichkeiten liegt“1 . Die Beschreibung ist geopolitisch korrekt, übersieht aber zwei wichtige Punkte: Erstens war Pakistan während der längsten Zeit seiner Existenz einer Militärherrschaft unterworfen, und zweitens hat auch das zivile politische Führungspersonal für demokratische Prinzipien nie viel mehr übrig gehabt als die Staatsführung in Uniform.
Pakistan entstand 1947 nach dem Ende der britischen Herrschaft über den Subkontinent als muslimischer Staat mit weltlicher Verfassungsstruktur. Das neue Staatswesen ging aus dem Sezessionskrieg mit Indien hervor, war zunächst in zwei Territorien aufgeteilt und von Feinden umgeben: Indien im Osten, Iran und Afghanistan im Westen, China und die UdSSR im Norden. Das ungefestigte, geteilte Land musste von Anfang an zwischen den regionalen Interessen der Großmächte lavieren, wobei die der USA eine besondere Rolle spielten.
Der von Mohammed Ali Dschinnah ausgerufene muslimische Staat trat der Liga blockfreier Staaten bei, versuchte aber gleichzeitig, Bündnisse mit anderen muslimischen Staaten im Nahen Osten zu schließen. Diese Bemühungen blieben relativ erfolglos. Die pakistanische Außenpolitik stand völlig im Zeichen des Konflikts mit Indien, das in drei Kriegen gegen seinen Nachbarn die Oberhand behielt: in den beiden Kriegsrunden um Kaschmir (1947/48 und 1965) wie auch im Kampf um Ostpakistan, der 1971 zur Gründung von Bangladesch führte. Um sich gegen das demografisch und militärisch überlegene Indien behaupten zu können, suchten die Regierungen in Islamabad regelmäßig Rückhalt bei den USA, China und anderen Mächten. Kurz gesagt: In der Zeit des Kalten Krieges war die Einbindung Pakistans in das regionale Bündnissystem der USA keine ideologische Option innerhalb des Ost-West-Gegensatzes.
Die USA versuchten zunächst, die Gegner auf dem Subkontinent zur Kooperation zu bewegen. Die US-Politik war bis Anfang der 1970er-Jahre ganz allgemein von der Absicht bestimmt, Geländegewinne im Kalten Krieg zu erzielen. In der konkreten Region ging es darum, die Erdölpipelines abzusichern und den Einfluss Chinas und der Sowjetunion in Asien zurückzudrängen. Speziell in Südasien schien es sinnvoll, Pakistan und den Islam gegen die „atheistischen Kommunisten“ zu mobilisieren und zugleich Indien nicht in den sowjetischen Einflussbereich abdriften zu lassen. Pakistan ließ sich binnen kurzem zu einer Schachfigur im Spiel der Amerikaner machen.
Schon 1954 war die wirtschaftliche Hilfe von Seiten der USA so verlockend, dass Pakistan den Beitritt zum Südostasienpakt (Seato) und zur Central Treaty Organisation (Cento) vollzog und sich somit den regionalen Militärbündnissen der USA anschloss. Islamabad erlaubte den USA die Nutzung von Luftwaffenstützpunkten und die Installation von Abhörstationen; so war etwa das im Oktober 1960 von den Sowjets abgeschossene U2-Spionageflugzeug von einer Militärbasis nahe Peschawar gestartet. Doch die Beziehungen blieben ambivalent. 1965 stellten die USA im Anschluss an den zweiten indisch-pakistanischen Krieg ihre wirtschaftliche Unterstützung ein. Daraufhin beschloss Islamabad, sich China zuzuwenden – der chinesisch-indische Krieg von 1962 (in dem Indien unterlag) bot die Voraussetzungen für diese Allianz, die sich im Wesentlichen auf militärische und nukleartechnische Zusammenarbeit beschränkte.
Die islamische Atommacht Pakistan
DAS pakistanische Atomprogramm war Mitte der 1950er-Jahre mit europäischer und amerikanischer Hilfe in Gang gekommen. Den ersten Reaktor (in Karatschi) hatte Kanada gebaut, doch bei der Entwicklung pakistanischer Atomwaffen spielte China die entscheidende Rolle, vor allem durch die Weitergabe von Material und Technologie in den 1970er- und 1980er-Jahren.
Der Bruch zwischen der Sowjetunion und China brachte eine neue Wende, hin zu einer Allianz zwischen den USA, China und Pakistan. Seit Beginn der 1970er-Jahre bezog Pakistan in großem Umfang amerikanische Finanzhilfe, bei der sich die Generäle samt den 22 führenden Familien des Landes reichlich selbst bedienten.2 In ihrer Gier standen manche Militärs ihren – von den USA ebenfalls großzügig bedachten – südvietnamesischen Kollegen in nichts nach.
Zur amerikanischen Trumpfkarte im regionalen Poker wurde Pakistan aber erst ab 1979, nachdem die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert war. Dies und die im selben Jahr vollzogene Revolution in Iran führten dazu, dass der Westen alle Vorbehalte gegen das korrupte pakistanische Regime aufgab. Pakistan wurde zum strategischen Bündnispartner: Seit Beginn der 1980er-Jahre bezog das Land innerhalb von sechs Jahren 3,2 Milliarden Dollar aus den USA – gemessen am damaligen pakistanischen Inlandsprodukt von rund 25 Milliarden Dollar eine gewaltige Summe.3
1977 übernahm General Zia ul-Haq die Macht, nachdem er einen Putsch gegen Staatspräsident Zulfikar Ali Bhutto organisiert hatte, den er 1979 hinrichten ließ. Unter seinem Regime erlebte das Land eine vorsichtige Politik der Islamisierung: Zia begriff den Islam als Möglichkeit, den Zusammenhalt des durch große soziale Ungleichheit sowie ethnische und sprachliche Unterschiede zersplitterten Landes zu sichern. Doch die Islamisierung war kein Ersatz für Entwicklungsprogramme in der Bildungs-, Gesundheits- und Wohnungsbaupolitik – in diesen Bereichen gab es keine Fortschritte, die wirtschaftlichen und politischen „Eliten“ des Landes überließen die Masse der Bevölkerung einem Leben in Armut und Analphabetismus.
Zia ul-Haq hatte jedoch nichts von einem radikalen Islamisten. Sein Islamverständnis (genannt: nizam-i-mustafa, deutsch: die Regeln des Propheten) hielt sich in engen Grenzen. Zugleich bemühte er sich um verbesserte Beziehungen zu Indien, indem er für den Beitritt Pakistans zum Südasien-Kooperationsrat und die Einrichtung eines indisch-pakistanischen Gemeinsamen Rates sorgte. Ökonomisch waren dies fette Jahre: Die jährliche Wachstumsrate lag bei 6 Prozent, und das Land konnte neben den Überweisungen pakistanischer Arbeitsemigranten auf Finanzhilfe aus Saudi-Arabien, den USA und gelegentlich sogar aus der Sowjetunion rechnen. Hinzu kamen beträchtliche Einnahmen aus der Heroinproduktion, die in den paschtunischen Stammesgebieten an der Grenze zu Afghanistan betrieben wurde. Außenpolitisch steuerte der General einen „bilateralen“ Kurs, das heißt, er wollte es mit keiner der beiden Supermächte verderben.
In die Regierungszeit von Zia ul-Haq (der 1988 ums Leben kam, als sein Flugzeug aus ungeklärten Gründen abstürzte) fielen auch der Beginn des Krieges in Afghanistan und die wachsende Macht radikalislamistischer Milizen im Nachbarland. Pakistan förderte diese Entwicklung mit Hilfe seines militärischen Geheimdienstes ISI (Inter Services Intelligence), der einschlägige Erfahrungen in Kaschmir gesammelt hatte. Damit wollte man sowohl den regionalen Interessen Pakistans dienen als auch den globalen Interessen der USA: Pakistan hoffte auf einen „strategischen Vorteil“ gegenüber Indien, die USA auf das Ausbluten der Roten Armee in den afghanischen Bergregionen. Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater von US-Präsident Carter, hat das seinerzeit in einer Grußadresse an die Glaubenskrieger so formuliert: „Wir schließen uns eurem heiligen Krieg gegen das gottlose Volk der Russen an.“ Washington und Islamabad waren sich also in der Unterstützung der von Saudi-Arabien finanzierten islamistischen Milizen in Afghanistan einig.
Nach dem sowjetischen Rückzug waren es die von Pakistan aufgebauten Taliban-Milizen, die 1994 in Kabul einzogen und das Land in der Folge fast vollständig beherrschten. De facto genossen sie noch bis 2001 die Unterstützung der USA. 1996 soll der Leiter der CIA-Mission in Islamabad zu einem Treffen mit der Taliban-Führung nach Kabul gereist sein – gegen den Widerstand des US-Botschafters in Afghanistan, der negative Reaktionen der Wählerinnen in den USA befürchtete. Washington hoffte, sich damit Zugang zu den strategisch bedeutsamen Energievorkommen Zentralasiens zu verschaffen und zugleich Russland, China und Iran in Schach zu halten.
Mitte der 1990er-Jahre verschlangen die Militärausgaben in Pakistan 26 Prozent des Staatshaushalts oder 9 Prozent des Bruttosozialprodukts.4 In diesen Jahren wuchs der Islamismus zu einer bedeutenden Bewegung innerhalb der pakistanischen Gesellschaft. Zwar errang die fundamentalistische Partei Jamaat-i-Islami bei den Parlamentswahlen nur wenige Stimmen, doch die religiösen Aktivisten, die aus den Madrassen hervorgegangen waren (und häufig auch in Kaschmir und in Afghanistan gekämpft hatten), wurden zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft. Die Koranschulen konnten ihren Einfluss nur deshalb ausdehnen, weil der Staat im Bereich der Erziehung versagt hatte. Heute gibt Pakistan 38 Prozent der Haushaltsmittel für Verteidigung aus, aber nur 3,5 Prozent für Bildung und Gesundheit.5
Millionen von Flüchtlingen, unkontrollierbare Drogengeschäfte, ein Milieu, in dem Kalaschnikow und Dschihad die obersten Werte darstellen – das war die schreckliche Hinterlassenschaft des Afghanistankriegs für Pakistan. Einige der Glaubenskrieger wurden nach Kaschmir geschickt, andere wüteten in Afghanistan wie in Pakistan gegen Schiiten und andere Minderheiten.
Seit dem 11. September haben sich die geopolitischen Gegebenheiten abermals verändert. Die USA umwerben das Regime von General Pervez Muscharraf, dessen Zukunft aber ungewiss bleibt. Letztlich hängt die Entwicklung in Pakistan davon ab, was aus Afghanistan wird. Sollte das Nachbarland wieder in verfeindete ethnische Gebiete zerfallen, könnten die Paschtunen in Pakistan mit ihren Stammesgenossen jenseits der Grenze gemeinsame Sache machen.
Besonders beunruhigend ist die Situation wegen der brisanten Mischung von Armut, ethnischen Konflikten und der Tatsache, dass Pakistan über Atomwaffen verfügt – was im Ausland schon zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass gibt. Nach Erkenntnissen der US-amerikanischen Geheimdienste besaß Pakistan bereits Mitte der 1990er-Jahre etwa ein Dutzend Atomwaffen chinesischer Bauart und dazu chinesische M-11-Raketen.6
Bislang ist General Muscharraf mit seinem radikalen Kurswechsel erfolgreich gewesen. Er unterstützt nun den Krieg gegen seine früheren Verbündeten, die Taliban, und setzt darauf, dass deren Sympathisanten in den paschtunischen Stammesgebieten und in Karatschi unter Kontrolle gehalten werden können.
Niemand weiß allerdings genau, was sich die pakistanische Bevölkerung gefallen lassen wird. Zurzeit hält die Mehrheit der Pandschabi, Sindhi, Belutschen und Mojahir noch still und beteiligt sich nicht an den Demonstrationen gegen das Regime. Ob das so bleibt, wird von der weiteren Entwicklung in Afghanistan wie auch vom Verhalten der pakistanischen Taliban-Kämpfer abhängen, die aus dem Nachbarland zurückkehren.
dt. Edgar Peinelt
* Forscher an der University of Chicago, Gastprofessor an der London School of Economics; Journalist, Pakistan.