Geschichte einer schwierigen Nation
IN seiner Fernsehansprache an die Nation neun Tage nach den Terroranschlägen von New York und Washington hat der pakistanische Präsident General Pervez Muscharraf versucht, die amerikafeindliche Stimmung in seinem Land zu besänftigen. Dabei berief er sich auf das Vorbild des Propheten Mohammed, der mit den jüdischen Stämmen und danach mit den Ungläubigen einen Kompromiss ausgehandelt und damit der jungen muslimischen Religion zum Sieg verholfen hatte. Muscharraf, dessen Regime die Taliban protegiert hatte, muss nun das Wohl und die Einheit der Nation beschwören, um den Wandel seiner Afghanistanpolitik und die Bündnistreue zu den USA zu rechtfertigen. Die wird allerdings nicht so weit gehen, dass er eine Lösung für den Kaschmirkonflikt sucht, denn das kann er der pakistanischen Armee noch nicht zumuten.
Von JEAN-LUC RACINE *
Die Nation, der Islam, der Krieg – Pakistan wird in den schwierigen Zeiten, die es derzeit durchlebt, mit sich selbst und seiner kurzen staatlichen Geschichte konfrontiert. Wie sollen das Militär und der Geheimdienst ISI, die doch die Islamisten für ihre Zwecke benutzt haben und maßgeblich für das Aufkommen der Taliban verantwortlich sind, ihren neuen Kurs halten, während sie im indischen Teil Kaschmirs weiterhin bewaffnete islamistische Gruppen einsetzen, um den politischen Druck auf Indien aufrechtzuerhalten? Wie werden sie mit dem Antiamerikanismus fertig, den die Bombenangriffe auf Afghanistan schüren? Und wie reagieren sie auf die neue Welle muslimischer Solidarität mit den religiösen Parteien und den Gruppierungen der Anhänger des Dschihad? Letztere sind seit kurzem in einem „afghanisch-pakistanischen Verteidigungsrat“ zusammengeschlossen und üben nach dem Vorbild von Ussama Bin Laden scharfe Kritik am „Verrat“ des pakistanischen Regimes.
Die Entstehung des Staates Pakistan im Jahre 1947 war Ausdruck der Bestrebungen der Muslimliga, einen eigenen Staat für die muslimische Bevölkerung des einstigen Britisch-Indien zu schaffen.1 Dahinter stand die 1933 von Rahmat Ali formulierte Theorie der zwei Nationen, die ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Hindus und Muslimen für unmöglich erklärte. Dieser Wille zur Teilung, der seit den 1940er-Jahren offizielle Politik der Muslimliga war, führte am Ende dazu, dass in den Gebieten Indiens, in denen die muslimische Bevölkerung die Mehrheit stellte, der Staat Pakistan entstand: ein muslimisches Staatsgebilde, das aus einer Ost- und einer Westhälfte bestand, die geografisch durch den neuen Staat Indien getrennt waren.
Für diesen muslimischen Staat bedeutete es einen schweren Rückschlag, als sich 1971 die Bengalen, die in Ostpakistan die Bevölkerungsmehrheit stellten, aber von der Staatsführung in Islamabad nicht entsprechend an der Macht beteiligt wurden, mit militärischer Unterstützung Indiens abspalteten und ihren eigenen Staat Bangladesch gründeten.
97 Prozent der Bevölkerung Pakistans sind Muslime – die hinduistischen Einwohner waren durch die Massaker, mit denen die Teilung einherging, vertrieben worden. Umgekehrt kamen gleichzeitig Millionen von Mojahir ins Land, also Muslime, die aus dem unabhängig gewordenen Indien geflohen oder ausgewandert waren. Die fast absolute muslimische Dominanz war die Raison d’être des Staates. Sie prägt die Nation auf unauslöschliche Weise und gründet sie auf eine Identität, die tief empfunden, ständig beschworen und bestärkt wird, sei es bei öffentlichen Anlässen, sei es in den Schulen und in den regierungsabhängigen Medien, wobei allerdings das Verhältnis zum Islam nicht genau definiert ist.
Ein islamischer Staat ist noch kein islamistischer, und auch der Islam zerfällt in verschiedene Glaubensrichtungen. Im Zuge der Radikalisierung der militanten Sunniten durch den Afghanistankrieg (1979–1988) und den Aufstieg der Taliban (seit 1995) wurde das traditionell friedliche Zusammenleben zwischen Sunniten (75 Prozent) und Schiiten auch in Pakistan durch Anschläge extremistischer Gruppierungen beider Lager erschüttert.
Anders als von den Gründervätern erhofft, erwies sich der Islam nicht als der ideale Kitt für den Zusammenhalt der Nation. Wie die Abspaltung Bangladeschs zeigte, konnte er die verschiedenen ethnischen und sprachlichen Identitäten nicht überdecken. Das Mosaik der Ethnien, die das heutige Pakistan (also in den Grenzen von 1971) bevölkern, sieht folgendermaßen aus: Die größte Bevölkerungsgruppe sind die Pandschabi (56 Prozent), gefolgt von den Sindhi (17 Prozent), den Paschtunen (16 Prozent) und den Belutschen (3 Prozent). Hinzu kommen noch einige Gruppen mit Stammessprachen im äußersten Norden des Landes. Die Hegemonie der Pandschabi drückt sich nicht nur in Zahlen aus, sie prägt auch die Armee und alle sonstigen Machtinstitutionen wie etwa die unumstößliche Bürokratie und das wenig stabile Parlament (das zurzeit aufgelöst ist). Auch beim Zugang zur Wasserversorgung, der für die Wirtschaft des Landes entscheidende Bedeutung hat, ist die dominierende Volksgruppe privilegiert. Vor allem den Sindhi und den Belutschen, aber auch den Mojahir in Karatschi ist die Dominanz der Pandschabi ein Dorn im Auge. So musste etwa die Armee 1973 einen Aufstand der Belutschen niederschlagen.
Der mitten durch das Land verlaufende Indus ist zugleich eine Art Sprachgrenze. Von Bedeutung ist die geografische Ausbreitung der wichtigsten ethnischen Gruppen auch deshalb, weil ihre Siedlungsgebiete durchweg grenzübergreifend sind. Die westlichen Sprachen, Pandschabi und Sindhi, werden auch in Indien gesprochen, im Osten reicht der Sprachraum des Paschtu und des Balutschi bis nach Afghanistan und Iran. Letztlich bleibt Pakistan, das sich historisch auf die jahrtausendealte Induskultur beruft, doch in die viel jüngeren englischen Kolonialgrenzen eingezwängt.
Die umstrittene Grenze mit Afghanistan verläuft entlang der „Durand-Linie“ von 1893. Diese durch das paschtunische Stammesgebiet gehende Linie hatte in der Zeit des „Grand Game“ am Ende des 19. Jahrhunderts, als Russland und der Westen schon einmal am Rande Zentralasiens und des Indischen Ozeans gegeneinander angetreten waren, den äußersten Vorposten der britischen Herrschaft markiert. Seit den 1980er-Jahren und auch während der Taliban-Herrschaft ab 1995 war dies eine offene Grenze, über die der Handel mit Waffen und Rauschgift lief und die weder für die Mudschaheddin noch später für die Flüchtlinge ein Hindernis darstellte. Dagegen ist die Grenze zu Indien dicht, sie folgt der Teilungslinie, die 1947 von dem britischen Geografen Sir Cyril Radcliffe festgelegt wurde. Ungeklärt ist bis heute die Kaschmirfrage. Über die durch Kaschmir verlaufende Demarkationslinie sind von Pakistan aus unter dem Schutz der Artillerie nicht nur militante Kaschmiris nach Indien eingedrungen, sondern auch Islamisten mit internationalen Ambitionen.
Einige dieser Gruppen, die in Pakistan über Stützpunkte verfügen, sind organisatorisch oder ideologisch dem Umkreis von al-Qaida zuzurechnen. Das gilt für die Lashkar-e-Taiba („Armee der Reinen“), die aus dem Markaz ad-dawat wal Irshad („Zentrum der Einladung zur Beachtung von Gottes Wort“) entstanden ist, einer Bewegung, die den weltweiten heiligen Krieg propagiert. Das gilt auch für Jaish-i-Mohammad, eine Neuauflage der Bewegung Harkat-ul-Ansar („Anhänger des Propheten“), die wiederum auf den Jamiat-i-Ulema-i-Pakistan („Bund pakistanischer Geistlicher“) zurückgeht.2
Das Scheitern demokratischer Ansätze in Pakistan – derzeit erlebt das Land sein viertes Militärregime, das aber wenigstens ohne Kriegsrecht auskommt – erklärt sich zu einem wesentlichen Teil aus gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die aus Indien gekommenen Mohajirs, die vorwiegend aus gehobenen sozialen und wirtschaftlichen Schichten stammen, mussten sich damit zurechtfinden, dass im Pandschab feudale Bindungen noch zählten und im Paschtunengebiet der nordwestlichen Grenzprovinz wie in Belutschistan Stammesstrukturen großes Gewicht hatten.
Obwohl die Führer der beiden wichtigsten Parteien, der Muslimliga von Nawaz Scharif und der pakistanischen Volkspartei von Benazir Bhutto, hohe Popularität genossen, leistete das parlamentarische System nur wenig für die Partizipation der gesellschaftlichen Mehrheit und zumal der Mittelschicht. Es bot viel eher eine Arena für die Eliten, für ihre klientelistischen Machenschaften und gegenseitigen Korruptionsvorwürfe. Die entscheidende Rolle hatte damit das Militär, das sich offen einmischt oder hinter den Kulissen wirkt – und die Macht ergreift, sobald ihm eine zivile Regierung aus irgendwelchen Gründen nicht mehr passt, wie zuletzt im Oktober 1999 General Pervez Muscharraf.3
Die Folgen des 11. September und Washingtons „Krieg gegen den Terrorismus“ haben die regionale geopolitische Situation tief greifend verändert und bringen für Pakistan bedeutsame Implikationen auf vier wichtigen Gebieten.
Das gilt erstens für die Politik der Instrumentalisierung des Islamismus durch den Staat – eine Politik, die in den 1980er-Jahren von General Zia ul-Haq, dem Geheimdienst ISI und der CIA begonnen wurde, um die afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die sowjetische Besatzung zu stärken. Die gleiche militärische Logik führte 1995, unter der Regierung von Benazir Bhutto, zur Unterstützung der Taliban. Weil man in Islamabad nicht damit einverstanden war, dass sich Gulbuddin Hekmatjar und seine Hezb-i-Islami in Afghanistan nicht durchsetzen konnten, wollte man dort ein befreundetes Regime installieren, um sich strategische Vorteile gegenüber Indien zu verschaffen (was nach den Atomtests vom Mai 1998 an Bedeutung verlor) und nicht zwischen Afghanistan und Indien eingekeilt zu werden.4 Doch darüber hinaus ging es um energiepolitische Ziele: US-amerikanische Ölkonzerne standen damals kurz davor, sich mit den Taliban als „stabilisierender Kraft“ über die Sicherung von Erdgasleitungen zu einigen, die von Turkmenistan zur pakistanischen Küste führen sollten.
Der Dauerstreit um Kaschmir
WICHTIGE Konsequenzen ergeben sich zweitens für das Kaschmirproblem. Wird Pakistan seine politischen Abenteuer nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Kaschmir beenden müssen? Als 1947 die ersten Kommandos der pakistanischen Armee auftauchten, hatte sich der Maharadscha von Kaschmir – ein hinduistischer Herrscher über eine überwiegend muslimische Bevölkerung – an Indien angeschlossen. Der erste Krieg um Kaschmir endete mit der faktischen Teilung, die auch 1965 nach dem zweiten Waffengang Bestand hatte. Der 1971 geführte dritte Kaschmirkrieg ließ die Demarkationslinie ebenfalls weitgehend unangetastet. Ein letztes Mal intervenierte Pakistan 1999. Für den darauf folgenden verdeckten Krieg in Kargil5 war der damalige Generalstabschef Muscharraf verantwortlich. Heute unterstreicht Muscharraf den Unterschied zwischen dem Krieg in Afghanistan und dem in Kaschmir und erklärt seinen Landsleuten, die Afghanistanpolitik sei im Namen der vier entscheidenden Interessen Pakistans neu definiert worden, zu denen auch die „Kaschmirfrage“ gehöre.6 Tatsächlich ist Kaschmir für Pakistan wichtiger als Afghanistan, und zwar hinsichtlich sowohl der nationalstaatlichen Konstruktion wie der vorherrschenden geostrategischen Doktrin (insofern Kaschmir das Kernproblem des Konflikts mit Indien ist).
In Neu-Delhi verweist man auf den multireligiösen Charakter der Nation und betrachtet Kaschmir als indisches Territorium, in Islamabad spricht man von einem umstrittenen muslimischen Gebiet, dessen Schicksal durch eine Volksabstimmung entschieden werden müsse. Damit macht die Kaschmirfrage die gegensätzlichen Auffassungen von der Nation deutlich und nährt immer neue Erbitterung auf beiden Seiten. Auch kann Islamabad dem großen Nachbarn in Kaschmir einen Krieg geringer Intensität aufzwingen, vor allem durch die Unterstützung der seit 1989 gegen Indien rebellierenden kaschmirischen Gruppen. Aber man setzt auch auf „willkommene Brüder“ wie die Dschihad-Gruppen, die auf pakistanischen Stützpunkten ausgebildet und finanziert werden.
Allerdings dürfte es schwieriger werden, diese Interventionspolitik fortzuführen. Indien fordert die USA und die internationale Gemeinschaft auf, den Krieg gegen den Terrorismus nicht auf al-Qaida zu beschränken, und erhofft sich, dass auch die bewaffneten islamistischen Gruppen ins Visier genommen werden, die von Pakistan aus in Kaschmir operieren. Die USA wiederum möchten unbedingt verhindern, dass Indien – nach dem Vorbild der eigenen Politik in Afghanistan – zur Destabilisierung Pakistans beiträgt, indem es Militärschläge gegen Stützpunkte führt, von denen es angegriffen wird.
Bei ihrer schwierigen Vermittlungsaktion zwischen den beiden atomar gerüsteten Nachbarn hat die US-Regierung jetzt Signale nach Neu-Delhi gesandt: Jaish-i-Muhammad und Lashkar-e-Taiba sollen zu terroristischen Organisationen erklärt werden. Und Islamabad hat erstmals eingeräumt, der Selbstmordanschlag vom 1. Oktober 2001 auf das Parlament in Srinagar sei ein terroristischer Akt gewesen.
Drittens stellt sich die grundsätzliche Frage nach der nationalen Identität Pakistans, die zwischen radikalen Nationalisten und Islamisten bereits heftig umstritten ist. Muscharraf hat zweifellos Recht mit seiner Einschätzung, dass die Anhängerschaft islamistischer Bewegungen nicht sehr groß ist. Mehr als 6 Prozent der Stimmen konnten die religiösen Parteien bei Parlamentswahlen nie gewinnen, und auch ihre Proteste gegen den neuen politischen Kurs hatten bislang nur mäßigen Erfolg. Doch das Ausbleiben von Fortschritten in der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung könnte ihnen neue Gefolgschaft bringen, und die Bomben auf Afghanistan und ein Krieg des Westens gegen den Islam würden dabei neue Argumente liefern. Die muslimische Identität Pakistans, die Mohammed Ali Dschinnah, der Vater der Nation, einst in gemäßigter Form angestrebt hatte, muss genauer bestimmt werden: Wie soll die Nation aussehen, auf welchen Islam soll sie sich berufen?
Jamaat-e-Islami, die wichtigste der religiösen Parteien – die allesamt kritisch gegenüber Muscharraf sind –, will in Pakistan ein Staatswesen nach islamistischem Muster errichten. Damit soll auch die Umma, die transnationale Gemeinschaft der Gläubigen, gefördert werden, doch letztlich bewegen sich diese Pläne im nationalen Rahmen. Dagegen steht für die radikalsten Fraktionen, die internationalen Fundamentalisten des Dschihad, die Umma über der Nation. Für sie zählt die Ideologie der Taliban mehr als die Kompromisse des pakistanischen Staates mit der Moderne und das Hin und Her zwischen den beiden Volksparteien, die gegenwärtig von der Macht ausgeschlossen sind.7
Die vierte und letzte Frage betrifft die Armee. Da die Islamisten das gegenwärtige Regime ohne die Unterstützung der Armee nicht stürzen könnten, stellt sich die Frage nach ihrem Einfluss innerhalb des Militärs. Einige Generäle haben im Afghanistankrieg und im Kaschmirkonflikt islamistische Gruppen für ihre Zwecke instrumentalisiert, ohne sich zu deren Ideologie zu bekennen. Andere handelten dabei auch aus Überzeugung. Am 7. Oktober, kurz vor den ersten Luftangriffen der USA, hat Muscharraf einige seiner engen Vertrauten entmachtet, darunter den Geheimdienstchef General Mahmud Ahmed. Einen Monat später gerieten hochrangige frühere Militärs in die Kritik.8
In der indischen Führung glaubt man nicht, dass Präsident Muscharraf die Gelegenheit nutzen wird, um den großen Wandel einzuleiten, den Pakistan braucht. Aber selbst wenn er es wollte: Könnte er damit Erfolg haben angesichts einer zunehmend gespannten Situation, in der es nicht nur um die Prestigefrage Kaschmir geht, sondern um die Armee selbst, die ihre Macht seit fünfzig Jahren aus dem Konflikt mit Indien bezieht? Und um die Gefahren, die von den radikalen Islamisten drohen? Auch eine Rückkehr zur Demokratie, die für Oktober 2002 angekündigt ist, würde per se weder neue Prioritäten für das Land gewährleisten9 noch eine veränderte Regionalpolitik – und schon gar nicht innenpolitische Stabilität.
dt. Edgar Peinelt
* Forschungsdirektor am CNRS (Zentrum für Indien- und Südasienstudien); Autor von „La question identitaire en Asie du Sud“, Paris (Éditions de l’EHESS) 2001.