„Entwicklungsrunde“ – ein Etikettenschwindel
NIE war der Wohlstand zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, aber auch innerhalb der einzelnen Gesellschaften so ungleich verteilt wie heute. Wie verhängnisvoll es wäre, wenn dieser Trend weiterginge, ist seit dem 11. September vielen Menschen schlagartig aufgegangen. Die Welthandelsorganisation (WTO) hat trotzdem bei ihrem Gipfel in Doha unbeirrt an ihrem Globalisierungskurs festgehalten. Schließlich ging es darum, eine neue „Entwicklungsrunde“ einzuläuten, die rückhaltlos die Öffnung der Märkte propagiert und als Wachstumsstimulans für alle Beteiligten anpreist. Dass von einer solchen Politik die Länder des Südens profitieren würden, ist freilich ein Gerücht, das durch ständige Wiederholungen nicht glaubwürdiger wird.
Von BERNARD CASSEN und FRÉDÉRIC F. CLAIRMONT *
Die Kommentare in den angelsächsischen Presseorganen, die den Freihandel zu ihrem wichtigsten Dogma erhoben haben, spiegeln sehr gut wider, wie die Ergebnisse der vierten Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) zu bewerten sind, die vom 9. bis zum 14. November 2001 in Doha (Katar) stattgefunden hat. Sie zeigen sich nämlich allesamt spürbar erleichtert darüber, dass die Liberalisierung des Handelsverkehrs und der Investitionen – trotz gewisser Verzögerungen auf dem einen oder anderen Gebiet – insgesamt beschleunigt vorangehen wird.
Für die New York Times ist das Entscheidende, dass das Treffen mit einer Vereinbarung endete, die unter anderem auch der Wahl des Gastgeberlandes zu verdanken war: „Im Unterschied zu Seattle und Genua gab es hier keine massenhaften Protestkundgebungen, denn Katar hatte die Zahl der Besucher strikt begrenzt.“ Nach Einschätzung der Zeitung könnten die Verhandlungen „zu einer außerordentlich großen Zahl von Reformen führen, die zu einer Öffnung der Märkte beitragen“, was „einen Sieg für Robert Zoellick, den Chef der amerikanischen Handelsdiplomatie“, bedeutet. Für Zoellick wie für EU-Außenhandelskommissar Pascal Lamy, die beiden eng kooperierenden „überzeugten Freihandelsapologeten“, sei die Arbeit damit allerdings noch nicht abgeschlossen: „Drei Jahre lang müssen sie jetzt ihre Kollegen bearbeiten, damit aus der Agenda von Doha wirkliche Reformen hervorgehen.“1
Diese erfreulichen Aussichten waren freilich nur um den Preis einiger formaler Konzessionen zu haben. So stellte die Washington Post denn auch fest, dass „die sensibelsten Fragen nicht so sehr durch grundsätzliche Übereinstimmung entschieden wurden als vielmehr mittels sprachlicher Finessen“2 . Die Financial Times sieht es genauso, wenn sie schreibt: „Um überhaupt zu einem Abkommen zu gelangen, bedurfte es so vieler Kompromisse und Vorbehalte, dass der endgültige Zeitplan fast bedeutungslos geworden ist.“ Doch immerhin gebe es jetzt nichts mehr, „was einen neuen Zyklus des Zugangs zum Markt blockiert“.3
Ganz anders wird die Bilanz von Doha dagegen – wie zu erwarten – von den Bürgerbewegungen und den auf diesem Gebiet engagiertesten Nichtregierungsorganisationen eingeschätzt. Deren Befund lässt sich folgendermaßen resümieren: „Wenn sich auch einige über einen neuen – selbst begrenzten – Zyklus [der Handelsliberalisierung] freuen können, so hat sich die WTO doch disqualifiziert, indem sie weiterhin einen Kurs der liberalen Globalisierung verfolgt.“4
Natürlich behaupten die WTO und ihr Sprecher, es handle sich um ein multilaterales, auf Regeln basierendes Handelssystem. Dabei verschweigen sie allerdings, dass diese Regeln für die großen, multinationalen Konzerne ausgearbeitet worden sind und ausschließlich zu deren Gunsten funktionieren. Unerwähnt bleibt auch der Katechismus dieses angeblich multilateralen Systems, also: Privatisierungen, Deregulierung und absolute Zirkulationsfreiheit des Kapitals; Abbau des Wohlfahrtsstaats, der öffentlichen Dienste und aller auf nationalstaatlicher Ebene noch vorhandenen Bremsmechanismen, die eine Umsetzung dieses Katechismus noch verzögern könnten. Nicht Multilateralismus, sondern neoliberaler Unilateralismus um jeden Preis – das ist es, was die WTO in Wirklichkeit auszeichnet.
Ein weiteres Fiasko wie das von Seattle im November 1999 hätte die Organisation wohl nur schwer verkraftet, zumindest wäre damit die ganze Logik des multilateralen Systems, die sich schon einer vielfältigen externen und internen Kritik ausgesetzt sah (vor allem seitens des ehemaligen Chefökonomen der Weltbank und diesjährigen Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz), in Frage gestellt worden. Nach Doha aber haben die Freihändler, die im Handel ein Allheilmittel für alle Armuts- und Entwicklungsprobleme sehen, keinen Grund zur Klage: Künftig werden „neue Themen“ (wenn auch erst in absehbarer Zeit und in den meisten Fällen nach dem Abschluss der in zwei Jahren anberaumten fünften Ministerkonferenz) in den Zuständigkeitsbereich der WTO fallen: Wettbewerb, öffentliche Märkte, „Handelserleichterungen“ (gemeint ist in erster Linie die Beschleunigung der Zollformalitäten) und vor allem Investitionspolitik.
Das Multilaterale Abkommen über Investitionen (MAI), das 1998 durch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verworfen wurde, wird wohl im Lauf der nächsten Jahre durch die WTO wieder eingebracht werden. Die Verhandlungen im Rahmen der bereits verabschiedeten Abkommen (im WTO-Jargon: die „inkorporierte Agenda“), vor allem das Allgemeine Abkommen für den Dienstleistungsverkehr (General Agreement on Trade in Services, Gats), werden entschlossen vorangetrieben. Dieses Gats, in der Erklärung der Ministerkonferenz nur mit wenigen Zeilen erwähnt, fährt starke Geschütze gegen die (noch existierenden) öffentlichen Dienstleistungen auf, vor allem in den Bereichen Gesundheits- und Bildungswesen. Genau darauf wollten die Teilnehmer der zahlreichen Kundgebungen aufmerksam machen, die am 10. November überall in Europa, insbesondere aber in Frankreich stattgefunden haben.
In Doha machte sich niemand Gedanken über den Widerspruch zwischen der unbeschränkten Ausweitung des Handelsverkehrs und den begrenzten Energieressourcen auf dem Planeten. Was die Auswirkungen des Handels auf die Umwelt betrifft (Verschmutzung der Atmosphäre, Beeinträchtigung des natürlichen Lebensraums, Treibhauseffekt und so weiter), stellt die Erklärung der Ministerkonferenz Verhandlungen in Aussicht, doch werden diese nur für diejenigen Staaten bindend sein, die bestehende Umweltabkommen unterzeichnet haben. Damit sind die Vereinigten Staaten, die sich beharrlich weigern, das Klimaprotokoll von Kioto oder das „Biosafety“-Protokoll von Cartagena zu unterzeichnen, a priori von allen disziplinierenden Auflagen befreit. Dies wird voraussichtlich Schule machen und andere Staaten darin bestärken, keine multilateralen Umweltabkommen mehr zu unterzeichnen.
Das Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (Trips) hinsichtlich des Zugangs zu Medikamenten soll angeblich einen „Fortschritt“ darstellen. Die Interpretation dieses Abkommens, wonach den Vertragsstaaten die Produktion generischer Medikamente gestattet ist, wurde in Doha für rechtsgültig erklärt. Was aber ist mit den Ländern, die keine Generika produzieren und diese deshalb importieren möchten? Diese Frage ist überhaupt nicht geregelt, denn die Erklärung beschränkt sich lediglich auf eine Empfehlung an den Rat der Trips, „eine schnelle Lösung für dieses Problem zu finden“. Dabei kann man davon ausgehen, dass die US-amerikanischen und Schweizer Pharmakonzerne nicht lockerlassen werden. Gleichwohl ist die Erklärung für die Länder des Südens ein unbestreitbar positives Resultat der Doha-Konferenz, bei Lichte besehen allerdings das einzige.
Nun wäre es durchaus verfehlt, immer nur von einem „guten“ Süden und einen „schlechten“ Norden auszugehen. So haben sich etwa sämtliche Regierungen des Südens – allen voran Indien – mit den Vereinigten Staaten gegen die Europäische Union verbündet, um jeden Fortschritt auf dem Gebiet der Sozial- und Umweltnormen zu verhindern. Die Regierungen des Südens betrachten sie als zusätzliche Schranken für ihre Exporte, während sie sich gezwungen sehen, um jeden Preis an Devisen heranzukommen, um ihre Auslandsverschuldung abzubauen.
Ausschließlich auf verstärkte Exporte zielen im Übrigen auch jene Strukturanpassungspläne, die den Ländern mit großem Kreditbedarf von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgezwungen werden: Wer in den „Genuss“ eines solchen Kredits kommt, muss immer mehr exportieren, um seine Schulden eines Tages zurückzahlen zu können. Dies führt zwangsläufig dazu, dass das betreffende Land seine Agrarproduktion umstellt oder seine natürlichen Ressourcen bis zum Letzten ausbeutet, was nur auf Kosten des einheimischen Konsums und des ökologischen Gleichgewichts möglich ist. Das kann zu Zuständen führen, die jeglicher Logik widersprechen, wie etwa das Beispiel Brasilien zeigt. Dessen Regierung bemüht sich verzweifelt darum, brasilianische Produkte auf den europäischen Märkten unterzubringen, während sechzig Millionen Brasilianer an Unterernährung leiden (oder auch daran sterben).
Verheerende Subventionspolitik
VOR diesem Hintergrund erklärt sich, warum die Fragen der Nahrungssouveränität und -sicherheit5 , für die sich die in der Via Campesina zusammengeschlossenen Bauernorganisationen aus siebzig Staaten einsetzen, bei den Politikern ihrer Länder kaum Gehör finden. Das lässt sich auch für den Bereich der EU feststellen: Unter dem Druck Frankreichs, das seinerseits der einflussreichen Lobby der Bauerngewerkschaft FNSEA (Fédération nationale des syndicats d’exploitants agricoles) und den von ihr kontrollierten Organisationen ausgesetzt ist, verteidigt die Union mit dem Rücken zur Wand nach wie vor ihre Politik der Exportsubventionierung (wie sie die USA in anderer Form ebenfalls praktizieren). Diese Subventionen sind regelrechte Prämien für den Agrarproduktivismus und die Zerstörung der bäuerlichen Agrikulturen aller Länder, inklusive deren des Nordens. Daraus lässt sich zweierlei lernen: Zum einen darf man die Interessen der Länder des Südens nicht mit der Haltung ihrer Regierungen verwechseln, die dem IWF auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind und häufig nur als Sprecher der Oligarchien und der einheimischen Exporteure fungieren wie auch der ausländischen Konzerne, die von ihrem Territorium aus operieren. Zum anderen ist die Annullierung der Staatsschulden der Entwicklungsländer das einzige Mittel, um sie etwas von dem Exportzwang zu entlasten, dem sie durch die internationalen Finanzinstitutionen ausgesetzt sind. Dann könnten ihre Volkswirtschaften leichter auf die Befriedigung des Eigenbedarfs – in erster Linie an Nahrungsmitteln – umgestellt werden. Und es wäre eher möglich, soziale und ökologische Normen durchzusetzen, ohne ständig das Totschlagargument des „Protektionismus“ abwehren zu müssen.
„Protektionismus“ oder „Freihandel“ sind ja ebenso wenig eindeutig definiert wie der abstrakte Begriff des „Terrorismus“. Nachdem George W. Bush die Demonstranten von Genua im Juli 2001 als einen „Haufen von Rowdys“ beschimpft hatte, erklärte er: „Wer gegen den Freihandel ist, der ist gegen die Armen.“ Dieses Diktum erinnert an den fanatischen Eifer, mit dem der britische Textilindustrielle Sir John Bowring (später der erste Gouverneur von Hongkong) einst proklamiert hatte: „Jesus Christus ist der Freihandel – der Freihandel ist Jesus Christus!“6 Das war im Großbritannien der 1840er-Jahre, auf dem Höhepunkt der Freihandelsbewegung gegen die protektionistischen Korngesetze (corn laws) von 1815, die schließlich unter Premierminister Robert Peel 1846 außer Kraft gesetzt wurden. Die Kolonie Indien allerdings, die mit den Textilprodukten der Metropole auf ihrem eigenen Markt konkurrierte, bekam eine solche Handels„freiheit“ nicht gewährt. Die Folge war die Zerstörung dieses Industriezweigs auf dem gesamten Subkontinent. Hier fühlt man sich an Gandhis Worte erinnert, der 1942 bei seiner Inhaftierung meinte: „Zwischen zwei ungleichen Partnern kann es keine Gleichheit und Freiheit geben.“
Zwei Zahlen sagen alles über das Thema „Freihandel“. Die fortgeschrittensten kapitalistischen Länder wenden jährlich 360 Milliarden Dollar zum Schutz ihrer Landwirtschaft auf und 450 Milliarden Dollar zum Schutz ihrer Industrie, insgesamt also 810 Milliarden Dollar. Dabei handelt es sich keineswegs um einmalige Zahlungen, sondern um dauerhaft sprudelnde Subventionen. Wie kann man so heuchlerisch sein, angesichts eines Staatsinterventionismus mit derart astronomischen Summen noch von den paradiesischen Wohltaten eines multilateralen Systems der Handelsfreiheit zu schwärmen? Bush zum Beispiel ist sehr versucht, den US-Markt für Produkte der Eisen-und-Stahl-Industrie aus Asien und Osteuropa zu schließen, um die US-amerikanischen Stahlproduzenten zu schützen. Genau solche Widersprüche des US-Präsidenten bringt Joseph Stiglitz überzeugend auf den Punkt: „Wenn einem jemand sagt, er glaube an den Freihandel und die Marktwirtschaft, und anschließend seine Absicht kundtut, ein Stahlkartell zu schaffen, dann drängen sich einfach ein paar Fragen auf.“
Dabei ist die Summe von 810 Milliarden Dollar nur eines von mehreren Elementen, welche die offen protektionistische Kriegsmaschinerie der entwickelten Länder munitionieren. Das US-Handelsministerium und sein Apparat für Wirtschaftsspionage (wozu auch das System Echelon und die National Security Agency gehören) fördern Absprachen zwischen offiziell konkurrierenden Gruppen, um ausländische Märkte zu erobern. Dies gilt auch für die übrigen Industrieländer, in denen sich die Unternehmensspitzen der 200 weltweit wichtigsten Firmen konzentrieren. Noch unmittelbar vor der Konferenz von Doha hatte die Weltbank fröhlich verkündet, die Abschaffung aller Handelshemmnisse werde den globalen Reichtum bis 2015 um 2 Billionen 800 Milliarden Dollar erhöhen und damit 320 Millionen Menschen aus der Armut befreien. Ganz abgesehen von der wissenschaftlichen Fragwürdigkeit der Rechenoperationen, die zu solchen Zahlen führen, sei in diesem Zusammenhang auf die Befunde des Schweizer Ökonomen Paul Bairoch verwiesen, wonach historisch gesehen zwischen Handelswachstum und der Zunahme des globalen Reichtums keinerlei Zusammenhang nachzuweisen ist.
Die entscheidende Frage aber lautet: Wäre, selbst wenn alle protektionistischen Schranken fallen würden, die Macht der 200 transnationalen Konzerne beschnitten, die heute die Welt beherrschen? Konkurrenz tötet die Konkurrenz, so wie ein Kapitalist einen anderen ausschaltet. Konkurrenz und Monopol sind keine antagonistischen Pole: Die monopolistische Herrschaft resultiert vielmehr unmittelbar aus der Logik der Konkurrenz.
dt. Matthias Wolf
* Frédéric F. Clairmont ist Ökonom.
Fußnoten: