14.12.2001

Ein politisches Währungsdefizit

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Ein politisches Währungsdefizit

Von DOMINIQUE PLIHON *

DIE Einführung des Euro-Bargelds Anfang 2002 gilt als letzte und symbolträchtigste Etappe der wirtschaftlichen und monetären Integration Europas, die 1951 mit der Gründung der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (der so genannten Montanunion) begann. Sechs Jahre später riefen die sechs Signatarstaaten der Römischen Verträge1 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben und legten damit den Grundstein zum gemeinsamen Binnenmarkt. Diese erste Phase des europäischen Einigungsprozesses war durch ein positives wie ein negatives Merkmal gekennzeichnet: Zum einen konzentrierte man sich auf wirtschaftspolitische Absprachen zur Investitions- und Marktregulierung im Energie- und Agrarsektor. Zum anderen spielte die Geldpolitik bei der Definition der Gemeinschaftsziele so gut wie keine Rolle: Der in den Römischen Verträgen vorgesehene geldpolitische Ausschuss hatte ausschließlich beratende Funktionen.

Die Siebziger- und Achtzigerjahre brachten in dieser Hinsicht eine radikale Veränderung: Die Regierungen der 1986 auf zwölf Mitgliedstaaten erweiterten Gemeinschaft beschlossen, fortan auf die Regulierungskräfte des Markts zu setzen. Diese politische Entscheidung mündete in die 1986 ratifizierte Einheitliche Akte, die den EU-Wirtschaftsraum ab 1992 nach dem Prinzip des freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehrs ordnete.

Seither bewegt sich Europa in den Bahnen der neoliberalen Globalisierung, die die Vereinigten Staaten unter Ronald Reagan und Großbritannien unter Margaret Thatcher Anfang der Achtzigerjahre angestoßen hatten. Im Namen der damals festgeschriebenen Freihandelsideologie wurden fortan der systematische Abbau staatlicher Regulierungen und eine forcierte Privatisierung des öffentlichen Sektors betrieben.

Im Zuge dieser Entwicklung avancierte das Geld zum wichtigsten Agens der EU-Integration. Nachdem Richard Nixon am 15. August 1971 die Golddeckung des Dollars aufgegeben und damit faktisch das Bretton-Woods-System abgeschafft hatte, suchten die EG-Länder nach Mitteln und Wegen, um die währungspolitische Instabilität zu kontrollieren, die von der Freigabe der Wechselkurse herrührte. Resultat dieser Bemühungen waren die „Währungsschlange“ von 1972 und das sieben Jahre später eingeführte Europäische Währungssystem (EWS) – zwei Abkommen, die das Ziel verfolgten, die Wechselkursschwankungen unter den EG- bzw. EU-Ländern in engen Grenzen zu halten und möglichst zu reduzieren. Die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten hatte sich fortan dem Zwang der Wechselkurs- und Preisstabilität zu fügen – was sich in Frankreich als Politik des „starken Franc“ und der Erzielung von Wettbewerbsvorteilen durch Inflationsbekämpfung äußerte.

Der im November 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht, der die Etappen und die Modalitäten der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion festklopfte, trieb diese Einigungslogik auf die Spitze. Hatte die Einheitliche Akte von 1987 die Dominanz des Markts als ökonomischer Regulierungsinstanz besiegelt, so erklärte der Vertrag von Maastricht die Geldpolitik zur absolut vorrangigen wirtschaftspolitischen Aufgabe in der Eurozone.

Auf diese Weise geriet das Konstrukt „Europa“ in eine fundamentale Schieflage. Während die Geldpolitik nach deutschem Vorbild föderativ organisiert wurde – dem Europäischen Zentralbankensystem mit der Europäischen Zentralbank an der Spitze gehören derzeit zwölf nationale Zentralbanken an2 –, liegt die Verantwortung für die Haushalts- und Steuerpolitik weiterhin in nationalen Händen. Mit maximal 1,27 Prozent des Bruttosozialprodukts der Union kann die EU nur über einen winzigen Bruchteil der öffentlichen Ausgaben verfügen. Und da auf europäischer Ebene kein demokratischer Rechtsstaat existiert, gibt es weder europäische Steuern noch die Möglichkeit, Gemeinschaftsanleihen aufzunehmen.

Eine weitere Ursache dieser Schieflage ist darin zu sehen, dass sowohl die nationalen Zentralbanken als auch die Europäische Zentralbank (EZB) nach eigenem Gutdünken handeln können und weder gegenüber den Regierungen noch gegenüber den Bürgern Rechenschaft abzulegen haben. Hinzu kommt, dass die EZB laut Art. 105 Abs. 1 des Vertrags von Maastricht primär verpflichtet ist, die Geldwertstabilität zu garantieren. Die Wachstums- und Beschäftigungspolitik hingegen, die bei der derzeitigen Konjunkturlage eigentlich oberste Priorität besitzen müssten, rangiert explizit unter den subsidiären Zielen.

Einer der Hauptwidersprüche der Wirtschafts- und Währungsunion besteht also darin, dass die Geldpolitik just zu einer Zeit in den Mittelpunkt rückt, da sie ihre Wirksamkeit immer mehr einbüßt. Obwohl sich die Beherrschung der Geldmengenentwicklung seit geraumer Zeit als illusorisch erweist, verkündet die EZB als einzige größere Zentralbank weiterhin Geldmengenziele. In Wirklichkeit sind die kurzfristigen Zinsen die einzige Variable, die die Zentralbanker direkt beeinflussen können, und genau dieser geldpolitische Hebel zeitigt kaum noch Wirkung. Zehnmal senkte die US-Zentralbank seit Beginn dieses Jahres die Leitzinsen, doch die Rezession – die lange vor den Ereignissen des 11. September einsetzte – ließ sich davon nicht beeindrucken.

Die Konjunkturentwicklung ist in erster Linie eine Funktion der langfristigen Zinsen, die weitgehend von den Erwartungen der Finanzakteure abhängen, während die Zentralbanken nur einen sehr indirekten Einfluss darauf haben. Im Übrigen hat sich die EZB trotz der zahlreichen Finanzkrisen der letzten Jahre nie über ein Wechselkursziel geäußert, sodass sich die Unternehmen der Eurozone der Instabilität der internationalen Geldmärkte schutzlos ausgeliefert sehen. Die geldpolitischen Bestimmungen des Vertrags von Maastricht sind ein Produkt der 1980er-Jahre, also völlig überholt und den wirtschaftlichen Bedingungen des beginnenden 21. Jahrhunderts keineswegs angemessen.

Auf der anderen Seite gibt es gute Gründe für die Annahme, dass haushalts- und steuerpolitische Maßnahmen im Rahmen der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion besser greifen würden als die Geldpolitik der EZB. Die Eurozone beruht wie gesagt auf zwei Prinzipien: einem gemeinsamen Geld- und Kapitalmarkt und einer Einheitswährung, was gleichbedeutend ist mit einem Regime fester Wechselkurse. Wie einschlägige Untersuchungen zeigen, erzielt die Budgetpolitik unter solchen Voraussetzungen einen höheren Wirkungsgrad. Das ergibt sich aus dem bekannten Mundell-Fleming-Modell3 und erklärt sich aus dem Umstand, dass zusätzliche Haushaltsdefizite bei hoher Kapitalmobilität und globalisierten Finanzmärkten ohne Zinserhöhungen oder exportschädigende Aufwertung finanzierbar sind. Es gibt aber einen weiteren und wichtigeren Grund, der Budgetpolitik größere Bedeutung beizumessen: Die Budgetpolitik liegt noch weitgehend in nationaler Verantwortung und kann daher besser auf die Bedürfnisse der einzelnen EU-Mitgliedstaaten abgestimmt werden, während die Geldpolitik auf EU-Ebene zentralisiert ist und für alle Länder gleichermaßen gilt.

Mit der Einführung des Euro haben die beteiligten Länder die Möglichkeit künftiger Wechselkursänderungen aufgegeben. Aus diesem Grund regeln sich die Anpassungsprozesse innerhalb der Eurozone nun über das Lohn- und Preisniveau und über Schwankungen der wichtigsten makroökonomischen Daten (Produktivität, Beschäftigung, Kapital). Anders, als neoliberale Theorien postulieren, sind die Preise jedoch nur wenig elastisch (zumindest kurzfristig), sodass wechselseitige Anpassungsprozesse bei fehlenden Wechselkursschwankungen erschwert werden. Diese Unelastizität erklärt sich unter anderem aus den recht unterschiedlichen institutionellen Faktoren, die in den einzelnen Ländern der Eurozone in die Festsetzung der Löhne eingehen. Wie Keynes gezeigt hat, führt an aktiver Wirtschaftspolitik kein Weg vorbei, wenn die Märkte aufgrund unzureichender Lohn- und Preisflexibilität nicht aus eigener Kraft ins Gleichgewicht kommen. Nachdem die Geldpolitik auf nationaler Ebene abgedankt hat, hätte logischerweise die Budgetpolitik in den Vordergrund rücken müssen. Das genaue Gegenteil war der Fall.

Der auf dem Amsterdamer Ratsgipfel im Juni 1997 beschlossene „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ – ein irreführender Euphemismus, der eher das Gegenteil kaschiert – beschränkt das Haushaltsdefizit auf maximal 3 Prozent des Bruttosozialprodukts und schreibt damit eines der vier Konvergenzkriterien des Vertrags von Maastricht fort. Darüber hinaus sieht die Entschließung finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedstaaten vor, die nicht alle erforderlichen Schritte unternehmen, um übermäßige Defizite abzubauen. Dahinter steht die Absicht, unter allen Umständen haushaltspolitische Fehlentwicklungen zu verhindern, die die Inflation anheizen und dem sakrosankten Ziel der EZB, nämlich der Preisstabilität, zuwiderlaufen könnten. Wie kontraproduktiv dieses Zwangsregime ist, wird sich zeigen, wenn in Europa eine neue Rezession droht – zumal die Staatseinnahmen mangels europaweiter Steuerharmonisierung und damit einhergehender Fiskalkonkurrenz zusätzlich unter Druck geraten. Dabei zeigt sich, dass Deutschland in einer nicht gerade komfortablen Lage ist: Während Exkanzler Kohl die Unterzeichnung des Stabilitätspakts mit allem Nachdruck gefordert hatte, würde Schröder die darin festgelegten Kriterien gerne ein wenig lockern – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Bundestagswahlen 2002.

Die Asymmetrie zwischen Geld- und Budgetpolitik bedeutet den endgültigen Verzicht auf eine dynamische und ausgewogene Wirtschaftslenkung auf der Grundlage eines optimalen Policy-Mix aus geld- und haushaltspolitischen Maßnahmen. Daraus wird aber nicht der Schluss gezogen, dass eine Abstimmung auf europäischer Ebene absolute Priorität haben müsste. Zwar sollen die Mitgliedstaaten bei ihren Entscheidungen die gemeinsamen „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“ beherzigen und die Interessen ihrer Nachbarn berücksichtigen, doch praktisch ist dies nur eine unverbindliche Empfehlung, die bei weitem nicht ausreicht, eine wirkliche Koordination einzelstaatlicher Maßnahmen zu begründen.

Die Argumente für den Euro sind bekannt. Die Einheitswährung, so heißt es, fördert in den zwölf Ländern der Eurozone ein homogeneres Preissystem und erleichtert die Marktentscheidungen der Verbraucher und Unternehmen, sie verringert die Transaktionskosten (Wegfall der Umrechnungskosten) und beseitigt die Möglichkeit von innereuropäischen Währungsspekulationen samt der damit einhergehenden Instabilität. Alles in allem soll der Euro die Güter-, Dienstleistungs- und Kapitalmärkte stärken und damit den Schlussstein des Gemeinsamen Markts darstellen.

Nicht minder bedeutend sind freilich die „Kosten“ der Europäischen Währungsunion, die größtenteils von dem Defizit an makroökonomischer Regulation herrühren. Problematisch ist nicht die Einheitswährung als solche, sondern die ihr zugrunde liegende liberal-monetaristische Philosophie, die alles auf die eine Karte der ineffizient gewordenen Geldpolitik setzt. Tief greifende Reformen scheinen dringend geboten. Vor allem müsste man das Missverhältnis zwischen monetären und politischen Institutionen beseitigen, um die Union demokratisch zu legitimieren. Denn nicht zuletzt dieses Demokratiedefizit ist der Grund für die Gleichgültigkeit und das Misstrauen der EU-Bürger gegenüber dem Euro, den viele als rein technokratisches Konstrukt ansehen.

dt. Bodo Schulze

* Professor an der Universität Paris-Nord, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats von Attac.

Fußnoten: 1 Die sechs Signatarstaaten: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. 2 Drei der fünfzehn EU-Mitgliedstaaten – Dänemark, Großbritannien und Schweden – haben sich der Währungsunion bislang nicht angeschlossen. 3 Ein Theorem, das die Zusammenhänge zwischen Geld- und Haushaltspolitik bei eingeschränkter Kapitalmobilität darstellt.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von DOMINIQUE PLIHON