Motive aus der Mythenkiste
SOEBEN ist der Film „Harry Potter und der Stein der Weisen“ zeitgleich in den Kinos der Welt angelaufen und hat bereits sämtliche Rekorde gebrochen. Begleitet wird der Kinostart von einer Merchandising-Kampagne allererster Güte, die vor Weihnachten die Wünsche der Jugendlichen in Goldbarren für Warner Brothers ummünzen soll. Die Abenteuer des Zauberlehrlings Harry Potter basieren – auch – auf einem alten Mythos: dem Mythos vom Gral. Sie spiegeln die Ängste und Hoffnungen von Millionen Jugendlichen wider, denen die Umwelt heute ständig neue Herausforderungen stellt.
Von SERGE TISSERON *
Welcher Zaubertrank mag wohl die Faszination, die von Harry Potter ausgeht, in solch Schwindel erregende Höhen getrieben haben? Wie im Fall der Pokémons1 könnte man behaupten, dahinter stecke eine teuflisch raffinierte Werbekampagne. Dabei ist in beiden Fällen die Werbung dem wahrlich nicht vorhergesehenen Erfolg hinterhergehinkt. Viele Verleger haben das erste Manuskript von Joanne Kathleen Rowling abgelehnt. Insofern müssen wir wohl zur Kenntnis nehmen, dass Harrys Abenteuer nicht bloß eine mit einem Schuss Haloweensoße zubereitete Zaubermischung aus Magie, Hexenkesseln und Schicksalsschlägen sind. Vielmehr gehen sie offensichtlich zumindest auf einige der Themen ein, die ihr Zielpublikum beschäftigen: die Elf- bis Vierzehnjährigen.
Die Abenteuer des Harry Potter sind zuallererst, daran sei erinnert, auch die Abenteuer von Ron, Hermine und deren Freunden. Die Eltern sind weit weg. Zumal die Eltern, bei denen Harry aufgewachsen ist, nicht seine wirklichen Eltern sind. Im Übrigen haben sie sich in Harrys und des Lesers Augen schon in den ersten Szenen aufgrund besonderer Blödheit als Eltern ohnehin disqualifiziert. „Muggels“ sind sie, arme Menschenwesen also, die auf immer von der Welt der Magie ausgeschlossen bleiben. Harry hat somit keine Wahl, er muss statt auf seine – falschen – Eltern auf die fürsorgliche Unterstützung seiner Freunde bauen. Da auch viele Jugendliche das Gefühl haben, dass sie bei all ihren Beziehungsproblemen nur auf die Hilfe ihrer Freunde setzen können, erkennen sie sich unschwer in Harry wieder.
Der Erfolg der Fernsehserie „Friends“ war recht ähnlich gestrickt: Auch hier steht eine Gruppe Gleichaltriger im Mittelpunkt, die sich nicht mit den Ratschlägen von älteren Herrschaften – will heißen: alles andere als idealisierten Erwachsenen – belasten wollen und die mit der ewig gleichen „Message“ aufwarten: Man ist seinen Aufgaben nur gewachsen, wenn es eine Gruppe gibt, die gut zusammenhält, und wenn die Fähigkeiten jedes Einzelnen anerkannt werden, und seien sie auf den ersten Blick auch noch so schrullig. Bei Harry Potter kommt als weitere Zutat hinzu, dass mit jedem Ereignis das geheime Einverständnis zwischen ihm und Direktor Dumbledor, dem guten Geist des Ortes, wächst. Aber dieses geheime Einverständnis will erkämpft sein, Harry muss es sich verdienen, auch wenn um ihn herum die Welt der Zauberaristokratie ihre Privilegien von Generation zu Generation, mit mehr oder weniger „reinen“ Stammbüchern weiter vererbt . . . und außerdem gibt es natürlich auch die Auserkorenen der republikanischen Zauberherkunft.
Im Übrigen fügt sich Potters Familiensituation in die Ödipuserzählung, so wie sie sich jedes Kind gern als die eigene Geschichte zurechtlegt: Die Eltern, bei denen man heranwächst, sind eigentlich nicht die wirklichen Eltern. Die wirklichen seien viel klüger, reicher und berühmter als Ziehvater und Ziehmutter. So kann das Kind besser mit seinen extremen Gefühlen gegen das Elternhaus umgehen: Denn wenn die Eltern ohnehin Stellvertreter sind, wird die schwierige Ablösung nicht ganz so schmerzhaft spürbar. Die Träume von der noblen Herkunft erhalten im Falle Harry Potters zusätzliche Nahrung, denn er findet heraus, dass seine Eltern Helden sind, deren Tod, so will es die Geschichte, er rächen muss . . .
Tim aus „Tim und Struppi“ war ein Held in der Latenzphase, ohne Sexualität und ohne Aufbegehren – ein Produkt seiner Zeit. Wie Peter Pan lebte er im Reich des „Niemals“: niemals einen Bart, niemals Haare auf den Beinen, niemals Fantasiebilder oder gar sexuelle Träume. Bei Spirou war es ebenso, weder Kind noch erwachsen – eine ewige, zugleich erstarrte Jugend. Aber heute, wo sich schon achtjährige Mädchen „sexy“ anziehen und die Sexualaufklärung lange vor der dazugehörigen körperlichen Entwicklung erfolgt, passt es gut, dass jeder Harry-Potter-Band ein Schuljahr umfasst und Harry von Band zu Band um ein Jahr älter wird: Aus dem Kind wird ein Jugendlicher mit allen dazugehörigen Ängsten. Nur stellt ihn die Welt der Magie, in welcher er sich entwickelt, vor die besondere Herausforderung so mancher wachstumsunabhängiger Metamorphose, die sich die verschiedenen Hexen und Zauberer der Geschichte, Lehrlinge wie Meister, gutwillige wie bösartige, gegenseitig zufügen.
Diese Metamorphosen konfrontieren den jungen Leser unweigerlich mit den Wandlungen seines eigenen pubertierenden Körpers, die, auch wenn er noch so viel darüber gelernt hat, mit starken Ängsten besetzt sind. Denn der Jugendliche ist nicht nur mit seiner veränderten Muskulatur, seinem Haarwuchs und den sich entwickelnden Sexualorganen befasst, sondern auch mit der Angst vor dem aufkommenden sexuellen Verlangen und vor seinen – entwicklungsbedingten – zerstörerischen Fähigkeiten.
Im dritten Band, „Der Gefangene von Askaban“, verwandelt sich eine der Personen (Lupin) immer bei Vollmond – ohne es zu wollen – in einen Werwolf, weshalb seine Freunde (als sie es herausgefunden haben) sich in Hunde verwandeln, um ihn zu beschützen. Gute Tiere gegen böse . . . Was dem Jugendlichen da begegnet, ist eine recht deutliche Inszenierung seiner eigenen Ängste: Birgt das Animalische, das er mitunter in sich aufwallen spürt, nicht die gleiche Gefahr? Und wer wäre da, ihn zu beschützen?
Hinzu kommt, dass J. K. Rowling mit ihrer Erzählweise dem Leser ein Feuerwerk von unerwarteten Situationen präsentiert, die wie in einem Videospiel nachgerade nach – ebenso unerwarteten – Lösungen verlangen. Der Vergleich ließe sich fortführen. Immer wieder sagen Leser, dass sie beim Lesen das Geschehen vor sich sähen, als spiele es sich auf einer Kinoleinwand ab.2
Vor meiner Harry-Potter-Lektüre haben nur zwei Bücher beim Lesen einen solchen Eindruck auf mich gemacht: zum einen „Der Hund von Baskerville“ von Conan Doyle und zum anderen „Dracula“ von Bram Stoker. Rowling erzielt diesen Eindruck durch ausführliche Beschreibungen – vor allem von Bewegungen und Ortswechseln. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich weder auf die Orte selbst noch auf das Aussehen der Personen, sondern allein auf das, was diese tun, kurz gesagt: auf alles, was in Bewegung ist. Körper werden nur in Aktion beschrieben und Landschaften nur ausgemalt als Hintergrund der Action, die im Allgemeinen sowohl in ihren klanglichen, gefühlsmäßigen wie kinästhetischen Aspekten skizziert wird. Dabei gelingt es der Autorin, das ausgedachte Bestiarium mit der ganzen Bandbreite möglicher Bewegungen auszustatten.
Diese Art des Schreibens zieht die Jugendlichen in Bann, zumal darin die Erschütterung widerhallt, als deren Schauplatz sie sich selbst empfinden, eine Erschütterung, die Jugendliche – ob auf dem Roller oder dem Motorrad – den Geschwindigkeitsrausch suchen lässt oder den Rausch beim Tanz nach schnellen, abgehackten Technorhythmen. Gleichzeitig birgt diese Art des Schreibens für die Jugendlichen die Gewähr, dass sie auch den umgekehrten Weg beschreiten und die eigenen tief empfundenen körperlichen Erschütterungen in Worte fassen könnten. Rowlings Schreibweise hätte somit eine euphorisierende Wirkung auf junge Leser, weil sie ihnen zeigt, dass sich mit Hilfe der Sprache die Bilder ihrer inneren Erschütterung übersetzen lassen.
Man könnte meinen, es handele sich bei den Abenteuern des Harry Potter um ein modernes Märchen mit einer werbewirksamen Verpackung, made in USA, ein traditionelles Halloween eben. Aber das stimmt nur auf den ersten Blick. In Wirklichkeit zeichnet sich die Geschichte von Harry Potter – im Unterschied zur Welt der Märchen ebenso wie zu der der Pokémons oder Tim und Struppis – gerade dadurch aus, dass er (und mit ihm seine Leser) die verschiedenen Personen nicht anhand ihrer Gesten und Verhaltensweisen als freundlich oder feindlich gesinnt, gut meinend oder böswillig einordnen kann. Mit anderen Worten: Die Figuren bei Harry Potter sind nie von vornherein im Guten oder im Bösen angesiedelt. Doch auch diese Erzählform hat ihre Vorläufer. Ihr Vorbild ist . . . der Gralsmythos.
Dieser Mythos hat verschiedene Kulturen durchlaufen, die indoeuropäische, die keltische wie die christliche. Es existieren viele verschiedene Fassungen, doch alle Erzählungen, die ihn aufgreifen, zeichnen sich durch gemeinsame Orts- und Situationsmerkmale aus. Mindest fünf davon trifft man auch bei Harry Potter wieder: die Verwendung magischer Waffen, die sinnbildliche Hirschgestalt, den Kuss als Probe der Standhaftigkeit, die Bedeutung des Kessels und zu guter Letzt das Stigma als Zeichen der Auserwähltheit.
Der Heilige Gral
IN der Gralsgeschichte gibt es besondere Speere und Lanzen. Sie verfügen über die Kraft, denjenigen, auf den sie gerichtet werden, zu heilen oder zu töten. Genauso bei Harry Potter: Dort allerdings sind es Zauberstäbe, die, je nach Absicht ihrer Besitzer, töten oder heilen können.
Zweitens spielt in der keltischen Gralsgeschichte der Hirsch eine besondere Rolle. Ähnlich wählt Rowling den Hirsch als Sinnbild für Harrys Vater, der, als er noch lebte und jung war, sich zur Tarnung bevorzugt in dieses Tier verwandelte. Außerdem erscheint der Vater dem Sohn in dessen Fantasie einmal als leuchtende Hirschgestalt und rettet ihm dadurch das Leben.
Die dritte Parallele zum Gralsmythos ist der Kuss. Im zweiten Akt von Parzival entdeckt der Held, dass der Kuss Kundrys (die sowohl gut als auch böse ist) in Wirklichkeit eine Waffe ist. Desgleichen bei Harry Potter, wo die Dementoren, die für den Gefängniswärter von Askaban arbeiten, den Hexen und Zauberern einen tödlichen Kuss aufnötigen und ihnen damit buchstäblich die Seele totküssen.
Das vierte gemeinsame Element ist der Kessel. Dieses Gefäß, in dem das Geheimnis der Unsterblichkeit verborgen liegt, erinnert an den Kelch der Eucharistie, der in der katholischen Glaubenslehre das Geheimnis des ewigen Lebens birgt. Im vierten Band gelangt Harry auf der Suche nach dem Feuerkelch zu einem Friedhof, wo ein Kessel im Zentrum einer Zeremonie steht. Harry wird gezwungen, etwas von seinem Blut herzugeben, damit Lord Voldemort, der mit den finsteren Mächten verschworene Todfeind Harrys, wiederbelebt werden kann. Potters Blut wird somit, gleich dem von Jesus Christus, durch die Kommunion zum Garanten der Unsterblichkeit, sodass Harry letztlich selbst den Heiligen Gral verkörpert, also jenes „Gefäß des ewigen Lebens“, in welchem am Fuße des Kreuzes das Blut aus der Seitenwunde Christi aufgefangen wurde.3 Mittlerweile haben sich die Jugendlichen längst daran gewöhnt, dass sie in Videospielen wie Gottvater selbst Wesen erschaffen und deren Geschicke lenken, so etwa bei dem Videospiel Populus. Bei Harry Potter hingegen werden die Jugendlichen zur Identifikation mit Gottes Sohn aufgefordert.
Zu guter Letzt: Harry Potter trägt eine Narbe auf der Stirn. Sie bezeugt, dass er dem Tod geweiht war, diesem jedoch von der Schippe sprang. Seine Eltern, die zu den mächtigsten Zauberern gehörten, wurden von Lord Voldemort getötet, nur an dem unschuldigen Kind, das Harry Potter damals war, prallte der tödliche Fluch ab. Was blieb, war die Narbe, die ihn zum Gezeichneten im Sinne von Auserwählten macht und an die Wundmale Christi erinnert. Harry Potter steht also in der Nachfolge Christi, wie er dem ungläubigen Thomas erscheint: Er trägt ein sichtbares Zeichen seines auserwählten Schicksals.
Die Abenteuer des Harry Potter sind weniger ein modernes Märchen als vielmehr eine moderne Version des Gralsmythos. Und diese Anlehnung ist gewiss kein Zufall, dafür sind die Parallelen zu deutlich. Doch es ist schwer, zu sagen, ob sich der enorme Erfolg von „Harry Potter“ diesen Anleihen verdankt, auch wenn man bedenkt, dass die Jugend von heute auf die Themen der Gralsmythologie anspringt, da sie durch die verschiedenen Rollenspiele längst mit ihnen vertraut ist.
Es könnte allerdings noch eine andere Zutat geben, die den Erfolg des Rezeptes besiegelt hat: Die implizite Moral der Rowling’schen Werke korrespondiert mit den Lebensvorstellungen der heutigen Jugend. Kurz zusammengefasst lautet diese: Heutzutage, da sich alles so rapide verändert – angefangen bei der Vorpubertät –, lohnt es nicht, sich feste Ziele zu setzen und erreichen zu wollen. Vielmehr muss man sich rapide an die jeweiligen neuen Situationen anpassen können. Diese Auffassung ist unter Jugendlichen umso verbreiteter, als sie nicht nur durch die soziale Wirklichkeit, sondern auch durch zahlreiche Computerspiele vermittelt wird. Die traditionelle, in den Wissenschaften nach wie vor gültige Auffassung, dass man versuchen muss, durch logische Schritte zum Ziel zu gelangen, zählt nicht mehr.
In der Welt des Harry Potter ist es sinnlos, Hypothesen zu formulieren und darauf basierende Strategien zu entwickeln. Das Reale – wenn man das so nennen kann – ist immer derart unvorhersehbar, dass man am besten nur vorsichtige Tastversuche unternimmt und entsprechend die lohnenden Aktionen weiterverfolgt. In einer Welt, in der die Ausrichtungen der älteren Generation sich als wenig brauchbar für die permanent neuen Probleme erweist, konstruieren sich die Jugendlichen versuchsweise ihre Innen- und Außenwelt, die morgen die unsere sein wird.
dt. Marie Luise Knott
* Kinderpsychiater und Psychoanalytiker, Autor von „Petites mythologies d’aujourd'hui“, Paris 2000, „Phänomen Scham“, München 2000, und „Die verbotene Tür. Familiengeheimnisse und wie man mit ihnen umgeht“, München 1998.