14.12.2001

Das Rätsel der Herkunft

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Das Rätsel der Herkunft

Von PASCALE CASANOVA *

DIE Entscheidung, den diesjährigen Nobelpreis für Literatur an Vidiadhar Surajprasad Naipaul zu verleihen, erinnert an die Verleihung des Friedensnobelpreises 1973 an Henry Kissinger. Ein Mythos bröckelt: der Mythos nämlich, dass es sich bei der Königlich-Schwedischen Akademie um eine unabhängige, der Aufklärung verpflichtete, mutige und unerschrockene Versammlung handele, die – im Norden Europas ansässig und gewissermaßen eine Schweiz der Literatur – mit der Meisterschaft und Treffsicherheit von großen Experten „die Klassiker der Moderne“ auszeichnet.

Mehrfach seit 1945 hat die Schwedische Akademie die Preisträger in ihren Würdigungen als Pioniere der Literatur bezeichnet:1 T. S. Eliot wurde 1948 ausgezeichnet „für seine bemerkenswerte Leistung als Bahnbrecher in der heutigen Poesie“. William Faulkner erhielt die Auszeichnung 1950 „für seine kraftvolle und künstlerisch selbstständige Leistung in Amerikas Romanliteratur“, wie es in der Begründung hieß – und dabei war er im eigenen Lande damals noch ein Unbekannter. 1969 wurde Samuel Beckett, 1985 Claude Simon ausgezeichnet.

Dabei wurde häufig einer internationalen Avantgarde das Wort geredet. Man wahrte Abstand von erzählerischen Moden und schnellen – oft kurzlebigen – Berühmtheiten und verbat sich jede politische Einflussnahme. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat sich das Nobel-Komitee erfolgreich diplomatischem Druck widersetzt und dem Zugriff sonstiger Instanzen entzogen, ob schwedischen, europäischen oder internationalen. Es hat immer auf dezidiert literarischen Kriterien bestanden und stillschweigend eine gewisse „Fortschrittlichkeit“ dokumentiert.

Selbstverständlich stieß, um nur ein Beispiel zu nennen, die letztjährige Vergabe des Literaturnobelpreises an Gao Xingjian nicht auf die Zustimmung der politischen Machthaber in Peking, denn damit ehrte die Schwedische Akademie einen chinesischen Dissidenten mit französischem Pass. Mit anderen Worten: Die Akademie unterwirft sich nicht dem niederen Spiel der politischen Diplomatie – auch wenn ihr dies (fälschlicherweise) immer wieder vorgeworfen wird –, sondern hält sich lieber an die literarischen und politischen Positionen der Werke und Autoren. Darum gingen die Auszeichnungen 1992 an Derek Walcott (englischsprachiger schwarzhäutiger karibischer Dichter), 1993 an Toni Morrison (afroamerikanische Romanautorin), 1994 an Kenzaburo Oe (engagierter japanischer Schriftsteller), 1997 an Dario Fo (subversiver italienischer Bühnenautor) und 1999 an Günter Grass.

Die Vergabe des Nobelpreises an V. S. Naipaul ist somit ein Bruch mit Geschichte und Tradition der bedeutendsten literarischen Auszeichnung der Welt. Sie steht im Widerspruch zum Geist des Preises, ja sie verrät dessen literarische und politische Idee. In literarischer Hinsicht kann man sagen, dass der diesjährige Preisträger nichts Innovatives geschaffen hat. Vielmehr erzählt er am Beginn des 21. Jahrhunderts streng und brav nach den Modellen des 19. Jahrhunderts. Sein literarischer Konformismus steht außer Frage. Er hat mehr journalistische Bücher verfasst als jeder andere Schriftsteller – Reportagen aus zahlreichen Ländern der Dritten Welt, die angeblich „objektiv“ die politische und religiöse Lage beschreiben. Er hinkt der ästhetischen Entwicklung um 150 Jahre hinterher (1981 erklärte er, sein literarisches Vorbild sei Honoré de Balzac2 ) und bezeichnet folglich das Werk von James Joyce als „unverständlich“. Naipauls (akademistischer) Stil ist für die Literatur, was seine (nationalkonservativen) Positionen für die Politik sind.

V. S. Naipaul identifiziert sich offensichtlich uneingeschränkt mit den Werten der britischen society und konzentriert sich auf die Darstellung und Verteidigung britischer Größe. Naipaul, der 1932 in Trinidad als Kind einer armen emigrierten indischen Familie, wenngleich aus gehobener Kaste, zur Welt kam und 1950 mit einem Studienstipendium nach London ging, versteht sich heute als britischer Schriftsteller. Als Krönung dieser leidenschaftlichen Assimilierung wurde er 1990 von Königin Elisabeth in den Adelsstand gehoben.

In „The Enigma of Arrival“ (London 1988, dt. „Das Rätsel der Ankunft“, Köln 1993) beschreibt er, wie er sich gleich einer „zweiten Geburt“ in Wiltshire niederlässt: In sehnsüchtigem Tonfall schildert er die Schönheit der Landschaften, Jahreszeiten und Blumen und vor allem der englischen manors, jener Zeugen einer vergangenen britischen Macht. Dieser nahezu ergreifende Wille, Herkunft und Hautfarbe in Vergessenheit geraten zu lassen, erklärt zu Teilen, warum Naipaul den herrschenden Werten verhaftet ist und entsprechend all jene verachtet, die er sich vom Leibe halten muss: die immigrant workers ebenso wie die Armen in der Dritten Welt. Eine seiner berühmtesten Reden, gehalten 1991 am New Yorker Manhattan Institute, hat diesen Bruch mit der eigenen Herkunft öffentlich bekundet, bezeichnenderweise unter dem Titel „Unsere universelle Zivilisation“3 . Aus jedem dieser drei Worte kann man die naive Identifikation mit dem Westen ablesen.

In jener Art Umkehrung, wie sie für überintegrierte Einwanderer typisch ist, übernimmt Sir V. S. Naipaul eine ausgesprochen verächtliche Haltung gegenüber den Bewohnern des Südens – konservative Meinungen und extrem nationalistische Ansichten, die sich in England wie auch anderswo ganz unbefangen artikulieren, berufen sich auf ihn. Jedes seiner Bücher ist ein erneuter Verrat, insofern er in ihnen, auf die Autorität seiner doppelten Zugehörigkeit pochend, die abschätzigste Meinung über die Entrechteten äußert.

Dieses Verhalten ist umso verwerflicher, als seine grausamen, zynischen Beschreibungen des Elends wie auch seine Vorurteile – die Unterentwicklung nicht als historisch bedingt, sondern als naturgegeben darstellend – in den Köpfen westlicher Leser als objektive Beschreibungen registriert werden; Naipaul tritt schließlich als „einer der Ihren“ auf. Gerade dies macht es den Opfern so schwer, sich gegen derlei Auffassungen zur Wehr zu setzen. Davon sprach wohl auch Salman Rushdie, als er bei Naipaul einen „olympischen Ekel“4 diagnostizierte. Und Derek Walcott sah sich zu der Feststellung veranlasst: „Naipaul doesn’t like negroes.“5

Naipaul begnügt sich offenkundig nicht damit, unter dem Deckmantel der Literatur eine essenzialistische Ideologie zu verbreiten. Hinzu kommt, dass er seit Jahren immer wieder seinen Hass auf den Islam bekundet und diesen mit historischen und politischen Argumenten untermauert. „Wenn man (zum Islam) konvertiert, wird man durchsichtig, kulturell leer“6 , wiederholt er ununterbrochen und befindet: „Keine Kolonisierung ist so tief in die Menschen eingedrungen wie die des Islam und der Araber“, denn die kolonisierten Völker seien durch ihren Glauben „all ihres geistigen Lebens beraubt“; ihre „Identität sei in ihrem Glauben aufgegangen“, sodass man von einer „muslimischen Hysterie“7 , einer „Tyrannei“ des Islam sprechen müsse. So dürfe man etwa für den Niedergang Indiens keinesfalls die englische Kolonialherrschaft verantwortlich machen, sondern schuld sei der muslimische Imperialismus, der „die Vergangenheit zerstöre“, und so fort.

Erst kürzlich hat Naipaul erklärt, er als Hindu, der aus einer Brahmanenkaste abstamme, könne allmählich verstehen, wie sinnvoll das indische Kastensystem sei. Außerdem empfinde er – so bemerkte er im Zusammenhang mit der faschistoiden Shiv-Sena-Partei – „tiefe Sympathie für derartige Bewegungen von unten“8 .

Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Naipaul – mit der niemand ernsthaft gerechnet hatte – wäre auch zu einem anderen Zeitpunkt ungerechtfertigt gewesen. Mit seiner innovationslosen Prosa hätte er erst gar nicht auf die Kandidatenliste kommen dürfen.9 Aber dass gerade jetzt, nach dem 11. September, da immer wieder der „Kampf der Kulturen“ beschworen wird, ein dezidierter Gegner des Islam ausgezeichnet wird, ist kein gutes Signal für die Welt.

dt. Marie Luise Knott

* Schriftsteller und Literaturkritiker. Autor von „La République mondiale des lettres. Histoire structurale des révoltes et des révolutions littéraires“, Paris (Seuil) 1999.

Fußnoten: 1 Siehe Kjell Espmark, „Der Nobelpreis für Literatur. Prinzipien und Bewertungen hinter den Entscheidungen“, aus dem Schwed. von Ruprecht Volz und Fritz Paul, Stuttgart 1988. 2 Unterhaltung mit Hector Bianciotti, Nouvel Observateur, 18. Juli 1981. 3 New York Review of Books, 31. Januar 1991, Auszüge auch in der tageszeitung, 22. 12. 1990. 4 Salman Rushdie, „Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken, München 1992. 5 Siehe Petri Liukkonen, Books and Writers, www.kirjasto.sci.fi/vnaipaul.htm 6 Le Monde, 17. Juli 1998 7 V. S. Naipaul, „Notre civilisation universelle“, Le Débat, Paris, No. 68, S. 86 8 Le Monde, 13. Oktober 2001 9 Dabei gibt es Bücher von Naipaul (etwa die drei frühen Romane „Miguel Street“, „Ein Haus für Mr. Biswas“ und „Der mystische Masseur“), in denen das Leben der Allerärmsten und der Blickwinkel von Einwanderern auf originelle und eindringliche Weise geschildert werden.

Le Monde diplomatique vom 14.12.2001, von PASCALE CASANOVA