Die Sprache des Fremden und das Räubern am Wege
Am 22. September 2001 erhielt der französische Philosoph Jacques Derrida den Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt. Der Preis, der seit 1977 alle drei Jahre vergeben wird, ging unter anderem bereits an Jürgen Habermas, Jean-Luc Godard, Zygmunt Baumann und Pierre Boulez. Jacques Derrida zählt zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Mit seinem Verfahren der „Dekonstruktion“ beschreibt er ein Lesen, das keinen letzten Sinn und keine absolute Wahrheit sucht. „Sicheres Erzeugen von Unsicherheit“ nennt Derrida diese Art der Lektüre, die es ihm in seiner Dankesrede ermöglicht, einen Traum von Walter Benjamin mit Adornos sprachphilosophischen Äußerungen zu verflechten: „Diese Hellsicht, dieses Licht, ja diese Aufklärung eines träumenden Diskurses über den Traum ist es, bei der ich gern an Adorno denke.“ Der 1930 in Algerien geborene Jacques Derrida, der in den Achtzigerjahren in Paris das „Collège Internationale de Philosophie“ begründete, lehrt in Frankreich und in den USA. Zu den bekanntesten seiner zahlreichen Werke zählt „Die Schrift und die Differenz“ (1972), zu den schönsten „Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits“ (1989).
Von JACQUES DERRIDA
Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrter Herr Generalkonsul, sehr geehrtes Kuratorium, lieber Professor Waldenfels, liebe Kollegen, liebe Freunde!
Verzeihen Sie mir, dass ich mich anschicke, Sie in meiner Sprache zu begrüßen und Ihnen in meiner Sprache zu danken.
Die Sprache wird im Übrigen mein Thema sein: die Sprache des Anderen, die Sprache des Gastes, die Sprache des Fremden, ja des Einwanderers, des Ausgewanderten oder des Exilierten. Wie wird sich eine verantwortungsvolle Politik zum Plural und zum Singular, wie zu dem Vielen und zu dem Einzelnen verhalten, angefangen mit den Differenzen zwischen den Sprachen in einem künftigen Europa? Im Verlauf dessen, was mondialisation oder Globalisierung zu nennen immer fragwürdiger wird, finden wir uns in der Tat am Rande von Kriegen wieder, die sich seit dem 11. September weniger als je zuvor ihrer Sprache, ihres Sinnes und ihres Namens gewiss sein können.
Erlauben Sie mir, zunächst einen Satz zu lesen, den Walter Benjamin eines Tages, eines Nachts auf Französisch träumte und den ich dieser dürftigen und nüchternen Danksagung voranstellen möchte. Er hat ihn Gretel Adorno auf Französisch in einem Brief anvertraut, den er ihr am 12. Oktober 1939 aus der Nièvreschrieb, wo er interniert war. Camps de travailleurs volontaires, „Freiwilligen-Arbeitslager“, hieß dergleichen damals in Frankreich. In seinem Traum, der, wenn man ihm glauben darf, euphorisch war, sagt Benjamin sich also auf Französisch: Il s’agissait de changer en fichu une poésie. Und er übersetzt: „Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.“ Wir werden später diesem fichu nachsinnen, dieses Halstuch oder diesen Schal durch die Finger gleiten lassen und uns jenen Buchstaben des Alphabets vor Augen führen, den Benjamin im Traum auf ihm zu erkennen glaubte. Und fichu, auch das wird uns beschäftigen, ist nicht bloß irgendein französisches Wort für den Schal oder das Halstuch einer Frau.
Träumt man stets in seinem Bett? Und immer nachts? Ist man für seine Träume verantwortlich? Kann man für sie die Verantwortung übernehmen? Nehmen Sie an, dass ich träume. Mein Traum wäre ein glücklicher Traum, wie der Benjamins.
Gerade jetzt, da ich aufrecht stehend und offenen Auges das Wort an Sie richte, da ich mich anschicke, Ihnen von ganzem Herzen zu danken, mit den unheimlichen* oder gespenstischen Gebärden eines Schlafwandlers, ja eines Räubers, dem am Weg ein Preis in die Hände fällt, der nicht für ihn bestimmt war, gerade jetzt sieht es ganz so aus, als ob ich träumen und es sogar eingestehen würde: In Wahrheit, ich gestehe es Ihnen, glaube ich zu träumen, während ich sie voll Dankbarkeit begrüße. Mag auch der Schmuggler oder Wegelagerer das, was ihm da zufällt, nicht verdient haben – gleich jenem schlechten Schüler einer Erzählung Kafkas, der sich, wie Abraham, auf den Platz des Klassenersten gerufen glaubt –, sein Traum scheint glücklich. Wie ich.
Träumen und glauben, dass man träumt – welchen Unterschied macht das? Und zunächst? Wer hat das Recht, diese Frage zu stellen? Der Träumende, der tief in die Erfahrung seiner Nacht versunken ist? Oder der Träumende beim Erwachen? Könnte im Übrigen ein Träumender von seinem Traum sprechen, ohne aufzuwachen? Könnte er den Traum im Allgemeinen beim Namen nennen, ihn angemessen analysieren, ja selbst des Wortes „Traum“ nach bestem Wissen und Gewissen sich bedienen, ohne den Schlaf zu unterbrechen und ihn zu verraten, ja, den Schlaf zu verraten?
Zwei Antworten auf diese Frage schweben mir vor. Die des Philosophen wäre ein unerschütterliches „Nein“. Man kann keinen ernsthaften und verantwortungsvollen Diskurs über den Traum führen, niemand könnte einen Traum auch nur erzählen, ohne zu erwachen. Diese negative Antwort, für die sich von Platon bis zu Husserl zahllose Beispiele anführen ließen, definiert vielleicht das Wesen der Philosophie. Ihr „Nein“ knüpft die Verantwortung des Philosophen an den rationalen Imperativ des Wachens, des souveränen Ich, des wachsamen Bewusstseins. Was ist, für den Philosophen, die Philosophie? Das Aufwecken und Erwachen. Ganz anders, aber darum nicht schon weniger verantwortungsvoll, fiele vielleicht die andere Antwort aus, die des Dichters, des Schriftstellers oder Essayisten, des Musikers, des Malers, des Drehbuchautors oder Theaterregisseurs. Und selbst des Psychoanalytikers. Sie würden nicht nein sagen, sondern ja, vielleicht, manchmal. Sie würden das Ereignis, seinen Ausnahmecharakter, seine Singularität bejahen: Ja, vielleicht kann man glauben und eingestehen, dass man träume, ohne zu erwachen, ja, manchmal ist es nicht unmöglich, im Schlaf, mit geschlossenen oder weit aufgerissenen Augen, so etwas wie die Wahrheit des Traums auszusprechen, selbst einen Sinn und eine Vernunft des Traumes, die es wert sind, nicht in der Nacht des Nichts unterzugehen.
Diese Hellsicht, dieses Licht, ja diese Aufklärung* eines träumenden Diskurses über den Traum ist es, bei der ich gerne an Adorno denke. Ich bewundere und liebe in Adorno jemanden, der nicht aufgehört hat, zwischen dem „Nein“ des Philosophen und dem „Ja, vielleicht, manchmal gibt es das“ des Dichters, des Schriftstellers oder Essayisten, des Musikers, des Malers, des Drehbuchautors oder Filmregisseurs, selbst des Psychoanalytikers zu zögern. Zögernd zwischen dem „Nein“ und dem „Ja, manchmal, vielleicht“ hat er beider Erbe angetreten. Er hat dem Rechnung getragen, was am singulären Ereignis vom Begriff, von der Dialektik nicht begriffen werden kann; und er hat alles darangesetzt, der Verantwortung gerecht zu werden, die ihm von dieser doppelten Erbschaft übertragen wurde.
Was gibt Adorno uns in der Tat zu verstehen? Jene Wahrheit, an die das „Nein“ des Philosophen uns mit unnachgiebiger Strenge erinnert, die Differenz zwischen Traum und Wirklichkeit ist es, was die schönsten Träume beschädigt*, wovon wie von einem Makel* die schönsten Träume gezeichnet sind. Das „Nein“, man könnte in einem etwas anderen Sinne auch sagen: die Negativität, die die Philosophie dem Traum entgegenhält, wäre nichts anderes als eine Verletzung, deren Narbe die schönsten Träume auf immer entstellt.
Daran erinnert ein Passus aus den „Minima Moralia“1 , den ich aus zwei Gründen in den Vordergrund stelle. Zunächst sagt Adorno in diesem Passus, inwiefern die schönsten Träume wie verletzt, versehrt, verstümmelt sind, „beschädigt“ durch das Wachbewusstsein, das uns darüber belehrt, dass sie der Wirklichkeit gegenüber bloßer „Schein“ sind. Das Wort aber, das Adorno gebraucht, um diese Verletzung zur Sprache zu bringen, beschädigt*, ist dasselbe, das im Untertitel der „Minima Moralia“ auftaucht: Reflexionen aus dem beschädigten Leben*. Reflexionen nicht über ein beschädigtes, ein verletztes, ein versehrtes, verstümmeltes Leben, sondern solche, die von ihm ihren Ausgang nehmen: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Reflexionen, die vom Schmerz durchdrungen, von der Beschädigung gezeichnet sind. Das Buch ist Max Horkheiner zugeeignet, eine Zueignung, die erklärt, was die Form dieses Buches den leidvollen Umständen seiner Entstehung verdankt: Sie sei jeweils ausgegangen vom engsten privaten Bereich, dem des Intellektuellen in der Emigration*.
Ich habe diesen Passus der „Minima Moralia“ auch gewählt, um heute denjenigen meine dankbare Anerkennung auszusprechen, die den Adorno-Preis ins Leben gerufen haben und darin einen bestimmten Geist respektieren. Wie stets bei Adorno, und das ist sein schönstes Erbe, wird die Philosophie von diesem theatralischen Fragment in einem einzigen Akt, in einer einzigen Szene, auf ein und derselben Bühne vor die Instanz ihres Anderen, und mehr als eines Anderen, zitiert. Die Philosophie muss vor dem Traum, vor der Musik, vertreten durch Schubert, vor der Dichtung, vor dem Theater und vor der Literatur, hier vertreten durch Kafka, Rede und Antwort stehen:
„Wacht man inmitten eines Traumes auf, und wäre es der ärgste, so ist man enttäuscht und kommt sich vor, als wäre man um das Beste betrogen worden. Glückliche Träume aber, erfüllte, gibt es eigentlich so wenig wie, nach Schuberts Wort, fröhliche Musik. Noch dem schönsten bleibt wie ein Makel* seine Differenz von der Wirklichkeit gesellt, das Bewusstsein vom blossen Schein dessen, was er gewährt. Daher sind gerade die schönsten Träume wie beschädigt*. Diese Erfahrung ist unübertrefflich in der Beschreibung des Naturtheaters von Oklahoma in Kafkas ‚Amerika‘ festgehalten.“
Dieses Naturtheater von Oklahoma in Kafkas „Amerika“ hat Adorno verfolgt, vor allem dort, wo er an seine soziologischen Untersuchungen in den Vereinigten Staaten erinnert, an seine Arbeiten über den Jazz, über einen gewissen Fetischcharakter der Musik und über die Probleme, die von der industriellen Erzeugung kultureller Gegenstände aufgeworfen werden, gerade dort, wo seine Kritik, er sagt es selbst, sich als Replik auf Benjamins „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ versteht. Ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht – wie so viele andere, die an die Adresse Benjamins gerichtet sind –, wir sind heute mehr denn je darauf angewiesen, über sie nachzudenken. Indem sie ein bestimmtes Zur-Ware-Werden der Kultur analysiert, kündigt sie auch eine strukturelle Wandlung des Kapitals, des Cyberspace-Marktes, der Reproduktion, der globalen Konzentration und des Eigenen an.
Wir sind enttäuscht, aus dem – sei’s auch ärgsten –Traum gerissen zu werden (die historischen Beispiele ließen sich vervielfältigen), gibt er uns doch das Unaustauschbare zu denken, eine Wahrheit oder einen Sinn, den das Bewusstsein uns beim Erwachen zu verstellen, ja in einen noch tieferen Schlaf fallen zu lassen droht. Als sei der Traum wachsamer als das Wachen, das Unbewusste bewusster als das Bewusstsein, als seien die Literatur oder die Künste philosophischer, zumindest aber kritischer als die Philosophie.
Ich spreche also zu Ihnen in der Nacht, als ob am Anfang der Traum stünde. Was ist der Traum? Und das Denken des Traums? Und die Sprache des Traums? Gibt es eine Ethik oder eine Politik des Traums, die weder dem Imaginären noch der Utopie das Feld überlässt, sich also keiner Abdankung, keiner Verantwortungslosigkeit oder Flucht schuldig macht?
Es ist erneut Adorno, auf den ich mich mit diesen eröffnenden Fragen berufe, genauer: eine andere Bemerkung Adornos, die mich umso mehr berührt, als Adorno, wie ich es meinerseits immer häufiger, vielleicht zu häufig tue, an dieser Stelle buchstäblich von der Möglichkeit des Unmöglichen spricht, vom „Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen“. 1955, in den „Prismen“, gegen Ende seiner „Charakteristik Walter Benjamins“, schreibt Adorno – und ich möchte mir dies als Devise zu eigen machen, zumindest für alle „letzten Male“ meines Lebens:
„Im Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm [Benjamin] ein letztes Mal Mystik und Aufklärung* sich zusammengefunden. Er hat des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu verraten und sich zum Komplizen dessen zu machen, worin stets die Philosophen sich einig waren: dass es nicht sein soll.“2
Die Möglichkeit des Unmöglichen, sagt Adorno. Sich nicht beeindrucken lassen von dem, „worin stets die Philosophen sich einig waren“, von jener Komplizenschaft nämlich, mit der man zuallererst brechen, von dem, was einen vor allem anderen stutzig machen muss, wenn anders man überhaupt denken will. Des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu verraten, das ist es, was es Benjamin, dem Autor von Traumkitsch3 , zufolge gilt: aufwachen, das Wachen und die Wachsamkeit pflegen, ohne die Bedeutung eines Traums außer Acht zu lassen, ohne seinen Lehren und seiner Hellsicht untreu zu werden, das bedenken, was der Traum zu denken gibt, vor allem dort, wo er uns die Möglichkeit des Unmöglichen zu denken aufgibt. Die Möglichkeit des Unmöglichen kann nur geträumt werden, sie kann nur als geträumte sein. Aber das Denken, ein ganz anderes Denken des Verhältnisses zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, jenes andere Denken, dem ich im Laufe meiner Vorlesungen und meiner Läufe so lange schon nachsinne oder nachlaufe, das mich schon lange in Atem hält und manchmal außer Atem bringt, es hat zu diesem Traum vielleicht eine größere Affinität als die Philosophie selbst. Es gälte, erwachend nicht müde zu werden, über den Traum zu wachen. Ob es sich um die Zeit, die Gabe, die Gastfreundschaft, die Vergebung, die Entscheidung handelt – oder um die kommende, im Kommen bleibende Demokratie –, ich versuche, auf meine Weise eine Reihe von Konsequenzen aus dieser Möglichkeit des Unmöglichen zu ziehen und aus dem, was zu tun wäre, wollte man den Versuch wagen, sie anders zu denken, das Denken anders zu denken, in einer Unbedingtheit ohne unteilbare Souveränität, jenseits dessen, wovon unsere metaphysische Überlieferung beherrscht wurde.
Ich habe noch nicht begonnen, Ihnen meinen ganzen Dank auszusprechen, aber ich habe soeben, um mich auf ihn zu berufen, Adorno zugehört, habe ihn von Benjamin sprechen hören: zwei Expatriierte, von denen einer nie zurückkam – und es bleibt ungewiss, ob der andere je zurückgekommen ist. Ich werde nachher noch einen Benjamin, der Adorno zugewandt ist, in Erinnerung rufen. Wenn sich mir dabei häufig Zitate aufgedrängt haben – nun, es ist einmal mehr ein von Adorno angeführtes Zitat Benjamins, das mich zu dem Gedanken ermutigt, ich sollte hier von meinen Zitaten einen alles andere als akademischen, protokollgerechten, konventionellen Gebrauch machen, nämlich einen, der sich erneut als beunruhigend, beirrend, ja unheimlich* erweist. Zwei Seiten weiter oben im selben Text schreibt Adorno: „Den Satz aus der Einbahnstraße, Zitate aus seinen Arbeiten seien wie Räuber am Wege, die hervorbrechen und dem Leser seine Überzeugung abnehmen, fasste er wörtlich auf.“4 Das sollten Sie über den wissen, den Sie heute mit einem großen Preis ehren, von dem er nicht recht weiß, ob er ihn verdient: Er ist auch einer, der stets Gefahr läuft – vor allem dann, wenn er zitiert –, Räubern am Weg mehr zu gleichen als ehrwürdigen Philosophieprofessoren, und seien sie auch seine Freunde.
Ich träume. Ich glaube, geträumt zu haben, und ich träume zweifellos noch immer: davon, ich könnte nicht bloß als Räuber am Weg, sondern dichterisch, als Dichter zu Ihnen sprechen, um der Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, mit der mich das große Privileg erfüllt, das mir heute zuteil wird. Diesem erträumten Gedicht werde ich zweifellos nicht gewachsen sein. Und in welcher Sprache hätte ich es auch schreiben oder erklingen lassen können? In welcher sollte ich es mir erträumen? Ich wäre hin- und hergerissen zwischen den Gesetzen der Gastfreundschaft, nämlich dem Wunsch des dankbaren Gastes, der in Ihrer Sprache das Wort an Sie richten sollte, und der unüberwindlichen Anhänglichkeit, die mich mit einem französischen Idiom verbindet, ohne das ich verlorener, exilierter bin als je zuvor. Denn was ich mehr als alles andere verstehe und, bis zum Mitleid, mit Adorno teile, ist vielleicht seine Liebe zur Sprache, ja eine Art Nostalgie, die sich auf das richtet, was doch seine eigene Sprache gewesen sein wird. Ursprüngliche Nostalgie, Nostalgie, die auf den historischen oder tatsächlichen Verlust der Sprache nicht erst wartet, eingeborene Nostalgie, so alt wie unser Ringen mit jener Sprache, die man die Muttersprache nennt – oder die Vatersprache. Als sei diese Sprache eine von Kindheit an, eine beim ersten Wort schon verlorene gewesen. Als sei diese Katastrophe bestimmt, sich zu wiederholen. Als drohte sie an jedem Wendepunkt der Geschichte, und für Adorno bis ins amerikanische Exil hinein, aufs Neue einzutreten. In seiner 1965 verfassten Antwort auf die überlieferte Frage „Was ist deutsch?“5 hat Adorno einbekannt, es habe zunächst einmal die Sprache ihm den Wunsch diktiert, 1949 aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland zurückzukehren: „Der Entschluss zur Rückkehr nach Deutschland war kaum einfach vom subjektiven Bedürfnis, vom Heimweh motiviert*, so wenig ich es verleugne. Auch ein Objektives machte sich geltend. Das ist die Sprache.“*
Weshalb liegt darin mehr als eine Nostalgie und anderes als ein subjektiver Affekt? Weshalb sucht Adorno seine Rückkehr nach Deutschland durch ein Argument zu rechtfertigen, das sich auf die Sprache beruft, die hier als ein „Objektives“ sich geltend macht? Sein Plädoyer sollte heute all denjenigen ein Beispiel sein, die in der ganzen Welt, insbesondere aber in einem im Aufbau begriffenen Europa, den Versuch unternehmen, eine andere Ethik oder eine andere Politik, eine andere Ökonomie, ja eine andere Ökologie der Sprache zu umgrenzen: Wie kann man die Poetizität des Idioms im Allgemeinen, das „Daheim“ des Idioms, seinen oikos pflegen, wie die sprachliche Differenz retten, ganz gleich, ob es sich um eine regionale oder eine nationale handelt, wie zugleich der internationalen Hegemonie einer Verständigungssprache Widerstand leisten (die schon für Adorno das Angloamerikanische war), wie dem instrumentellen Utilitarismus einer rein funktionalen und kommunikativen Sprache sich entgegenstellen – ohne darum dem Nationalismus, der Feier des Nationalstaats oder der nationalstaatlichen Souveränität das Feld zu überlassen, ohne der Reaktivität einer Identitätsbehauptung und der ganzen alten souveränitätsgläubigen, kommunitaristischen und differenzialistischen Ideologie diese alten rostigen Waffen zu liefern?
Adorno schlägt in der Tat den zuweilen nicht ungefährlichen Weg einer komplexen Argumentation ein, der vor fast zwanzig Jahren eine lange und bewegte Diskussion in einem Seminar gewidmet war, das ich über den „Nationalismus“, über „Kant, der Jude, der Deutsche“, über Wagners „Was ist deutsch?“* und über das abgehalten habe, was ich damals, um eine rätselhafte Spekularität, einen großen und schrecklichen historischen Spiegel überzubenennen, die „jüdisch-deutsche Psyche“ nannte. Ich halte nur zwei Züge fest: A Der erste unterstreicht in klassischer Weise – manche würden nicht zögern, sie bedenklich zu nennen – die Vorzüge der deutschen Sprache. Einen doppelten Vorzug, nämlich im Hinblick auf die Philosophie und auf das, was Philosophie und Literatur miteinander vereint: „Die deutsche Sprache [hat] offenbar eine besondere Wahlverwandtschaft zur Philosophie, und zwar zu deren spekulativem Moment, das im Westen so leicht als gefährlich unklar – keineswegs ohne allen Grund – beargwöhnt wird.“ Wenn Texte obersten Anspruchs wie Hegels „Phänomenologie des Geistes“ oder seine „Wissenschaft der Logik“ so schwer zu übersetzen sind, dann weil in der deutschen Sprache, so denkt Adorno, die philosophischen Begriffe in einer natürlichen Sprache wurzeln, in der man aufgewachsen sein muss. Daher ein radikales Bündnis von Philosophie und Literatur – radikal, weil beide sich aus denselben Wurzeln nähren, aus denen der Kindheit. Keinen großen Philosophen hätte es gegeben, so sagt Adorno mit einem Zitat Ulrich Sonnemanns, der nicht auch ein großer Schriftsteller gewesen wäre. Und wie sehr er doch Recht hat! Ist es ein Zufall, dass Adorno auf die Kindheit – eines der Themen, die ihn nicht losgelassen haben – just im Anschluss an zwei kurze und berühmte Aphorismen über die Juden und über die Sprache zu sprechen kommt: „Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“* und „Fremdwörter sind die Juden der Sprache“*?6 Ist es also ein Zufall, dass Adorno uns gleich darauf die „fassungslose Traurigkeit“* eingesteht, die „Schwermut“*, in der er sich dabei ertappt habe, die Sprache seiner Kindheit zu wecken, genauer: wie in einem Wachtraum, einem Tagtraum eine Wendung aufwachen zu lassen, die dem Dialekt seiner Kindheit angehört, seiner Muttersprache, jener, die er in seiner Geburtsstadt, die er hier Vaterstadt* nennt, gesprochen hatte. Muttersprache* und Vaterstadt*:
„An einem Abend der fassungslosen Traurigkeit* ertappte ich mich über dem Gebrauch des lächerlich falschen Konjunktivs eines selber schon nicht recht hochdeutschen Verbs, der dem Dialekt meiner Vaterstadt gehört. Ich hatte die zutrauliche Missform seit den ersten Schuljahren nicht mehr vernommen, geschweige denn verwandt. Schwermut*, die unwiderstehlich in den Abgrund der Kindheit* hinunterzog, weckte auf dem Grunde den alten, ohnmächtig verlangenden Laut*. Wie ein Echo warf mir die Sprache die Beschämung zurück, die das Unglück mit antat, indem es vergaß, was ich bin.“
Traum, poetisches Idiom, Schwermut, „Abgrund der Kindheit“, der, Sie haben es gehört, nichts anderes ist als die Tiefe eines musikalischen Grundes*, des Lautes der Stimme oder der Vokabeln, die in uns verborgen liegen, des verlangenden, aber ohnmächtig* verlangenden Lautes. Ohnmächtig*, ich betone dieses Wort: machtlos, verwundbar. Bliebe mir dafür Zeit, ich wäre gern über diese skizzenhafte Rekonstruktion hinausgegangen und hätte eine Logik des Adorno’schen Denkens erkundet, die in quasi systematischer Weise versucht, dies Schwache, Verwundbare, in welcher Gestalt es auch auftreten mag, diese wehrlosen Opfer vor der Gewaltsamkeit, ja Grausamkeit der traditionellen Interpretation in Schutz zu nehmen, sie dem Zugriff jener philosophischen, metaphysischen, idealistischen, selbst dialektischen – und kapitalistischen – Übermächtigung zu entreißen, die sie zur Räson bringen will.
Der Traum, die Sprache, das Unbewusste, sie sind vielleicht ebenso Beispiele dieser Wehrlosigkeit, dieser Machtlosigkeit, dieser verletzbaren Ohnmächtigkeit*, Exposition dieses Exponiertseins, wie das Tier, das Kind, der Jude, der Fremde, die Frau. „Schutzlos“, so das Wort von Jürgen Habermas in einem dem Gedächtnis Adornos gewidmeten Buch, war Adorno weniger als Benjamin, aber er war es auch selbst:
„Schutzlos war Adorno aus einem anderen Grund: Gegenüber ‚Teddie‘ konnte man umstandslos die Rolle des ‚richtigen‘ Erwachsenen ausspielen; denn dessen realitätsgerechte Immunisierungs- und Anpassungsstrategien sich anzueignen, ist Adorno nie imstande gewesen. In allen Institutionen ist er ein Fremdling geblieben – nicht, als hätte er das gewollt.“7 B Ein anderer Zug von „Was ist deutsch?“* scheint mir noch ausschlaggebender. Auf das Lob jener „spezifische[n], objektive[n] Eigenschaft der deutschen Sprache“ folgt ein kritischer Vorbehalt. Er lässt sich als Schutzvorkehrung begreifen, als eine für die Zukunft Europas und der mondialisation, oder Globalisierung, unerlässliche Vorkehrung gegen den Wahn. Ohne im Kampf gegen jede sprachliche Hegemonie nachzulassen, müsste damit begonnen werden, die onto-theologisch-politischen Phantasmen einer unteilbaren Souveränität und die nationaletatistischen Metaphysiken zu „dekonstruieren“. Gewiss will Adorno, und nichts verstehe ich besser, seine Liebe zur deutschen Sprache nicht verraten, will er jene ursprüngliche Vertrautheit mit seinem Idiom pflegen – aber ohne Nationalismus, ohne den „kollektiven Narzissmus“ einer Metaphysik der Sprache. Dieser Metaphysik der Nationalsprache, deren Tradition so bekannt ist wie ihre Versuchungen, gilt es „mit unermüdlicher Wachsamkeit“ zu begegnen:
„Der [aus dem Exil] Zurückkehrende, der die Naivität zum Eigenen [. . .] verloren hat, muss die innigste Beziehung zur eigenen Sprache vereinen mit unermüdlicher Wachsamkeit* gegen allen Schwindel, den sie befördert; gegen den Glauben, das, was ich den metaphysischen Überschuss der deutschen Sprache* nennen möchte, garantiere bereits die Wahrheit der von ihr nahe gelegten Metaphysik oder von Metaphysik überhaupt. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang gestehen, dass ich den Jargon der Eigentlichkeit* auch darum geschrieben habe. [. . .] Der metaphysische Sprachcharakter ist kein Privileg. Nicht ist von ihm die Idee einer Tiefe zu erborgen, die in dem Augenblick verdächtig wird, in dem sie sich ihrer selbst rühmt. Ähnlich ward, was immer am Begriff der deutschen Seele einmal daran war, tödlich beschädigt, als ein ultrakonservativer Komponist sein romantisch-retrospektives Werk danach betitelte. [. . .] Keiner, der deutsch schreibt und seine Gedanken von der deutschen Sprache durchtränkt weiß, dürfte die Kritik Nietzsches an dieser Sphäre vergessen.“8
Dieser Hinweis auf den „Jargon der Eigentlichkeit“* würde uns zu weit führen. Ich ziehe es vor, dieses Glaubensbekenntnis als den Aufruf zu einer neuen Aufklärung* zu verstehen. Etwas weiter unten erklärt Adorno, es sei ebendiese metaphysische Feier der Sprache, der Tiefe und der deutschen Seele gewesen, in deren Tradition man „die Aufklärung als flach verketzert hat“.
Frau Oberbürgermeisterin, liebe Kollegen, liebe Freunde, als ich mich erkundigte, wie viel Redezeit mir zur Verfügung stehen würde, erhielt ich von drei Personen drei verschiedene Auskünfte. Ich denke mir, sie wurden ebenso vom Wunsch diktiert wie von einer nicht unberechtigten Befürchtung: Erst waren es 15 bis 20, dann 30, zuletzt 30 bis 45 Minuten. Dabei habe ich, grausam, wie die Beschränkungen einer solchen Rede sind, noch nicht einmal begonnen, auch nur ein einziges Wort zu verlieren über die Schuld, die mich mit Ihnen verbindet, mit der Stadt Frankfurt und ihrer Universität, mit so vielen Kollegen und Freunden (namentlich den Professoren Habermas und Honneth), mit all denen, die es mir, in Frankfurt und diesem Land, verzeihen werden, dass ich sie nur in einer kursorischen Fußnote nenne.9 Sie sind so zahlreich, die Übersetzer (angefangen hier und heute mit Stefan Lorenzer), die Studenten, die Verleger, die mir bereits die Gunst ihrer Gastfreundschaft erwiesen haben seit 1968, an den Universitäten von Berlin, Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Kassel, Bochum, Siegen und vor allem, dreimal und noch letztes Jahr, an der Frankfurter Universität: Zu Vorträgen über die Universität, während eines gemeinsamen Seminars mit Jürgen Habermas oder, schon 1984, eines großen Symposiums über Joyce.
Bevor ich mich beeile, zum Schluss zu kommen, möchte ich weder den fichu, das Halstuch im Traum Benjamins, noch das Inhaltsverzeichnis eines virtuellen Buchs über diesen Adorno-Preis vergessen, auch wenn ich nicht mehr hoffe, ich könnte eines Tages noch imstande sein, jenes Buch zu schreiben und mich dieses Preises würdig zu erweisen. Nachdem ich Ihnen von der Sprache und vom Traum, dann von einer geträumten Sprache, die man zu sprechen träumt, erzählt habe, komme ich also nun zur Sprache des Traums, wie Freud sagen würde.
Ich verschone Sie mit einem Lehrvortrag zur Philologie, Semantik oder Pragmatik der Ableitungen und Verwendungen dieses außerordentlichen Wortes: „fichu“. Es bedeutet Verschiedenes, je nachdem, ob es einen Namen oder ein Adjektiv vorstellt. „Le fichu“, und das ist die augenfälligste Bedeutung des Wortes in dem Satz Benjamins, bezeichnet also einen Schal, jenes Stück Tuch, das eine Frau sich schnell noch um ihren Kopf oder Hals schlingen mag. Das Adjektiv fichu dagegen meint das Schlechte: das, was übel, verdorben, verloren, verdammt ist. An einem Tag des Jahres 1970, als er seinen Tod kommen sah, vertraute mir mein Vater an: „Je suis fichu“ – „ich bin fertig“, „mit mir ist es aus“. Wenn ich mich heute in so oneirophiler Rede an Sie wende, dann weil der Traum das Element ist, das wie kein anderes durchlässig ist für die Trauer, die Heimsuchung, das Geisterhafte aller Geister und allen Geistes, die Wiederkehr der Revenants (zum Beispiel jener Adoptivväter, die neben einigen anderen und noch in ihren Uneinigkeiten Adorno und Benjamin für uns sind – und zu denen, vielleicht, für Benjamin Adorno selbst zählte). Der Traum ist auch ein gastlicher Ort, der dem Anspruch auf Gerechtigkeit und den unverbrüchlichsten messianischen Hoffnungen Unterkunft gewährt. Statt fichu sagt man im Französischen zuweilen auch foutu – verdorben, hinüber, futsch, aber auch verarscht oder gefickt –, ein Wort, das dem eschatologischen Register des Endes oder des Todes ebenso angehört wie dem skatologischen der sexuellen Gewalt. Gelegentlich hat es eine ironische Färbung: „Il s’est fichu de quelqu’un“ heißt so viel wie „er hat sich über jemanden lustig gemacht, ihn nicht ernst genommen oder ist seiner Verantwortung ihm gegenüber nicht nachgekommen“.
Benjamin beginnt den langen Brief, den er auf Französisch am 12. Oktober 1939, aus einem Camps de travailleurs volontaires in der Nièvre, an Gretel Adorno schreibt, mit folgenden Worten:
„Ich träumte heute Nacht auf meinem erbärmlichen Strohlager einen Traum von solcher Schönheit, dass ich dem Drang, ihn Dir zu erzählen, nicht widerstehe. [. . .] Es handelt sich um einen der Träume, die ich vielleicht alle fünf Jahre habe und die sich um das Motiv des „Lesens“ ranken. Teddie wird sich erinnern, welche Rolle dieses Motiv in meinen Reflexionen zur Erkenntnis spielt.“
Eine an Teddie gerichtete Botschaft, an Adorno also, Gretels Mann. Warum erzählt Benjamin den Traum der Frau, nicht ihrem Mann? Warum schreibt er, vier Jahre zuvor, auch dort an Gretel Adorno,10 wo er auf die ein wenig autoritär und väterlich vorgetragenen kritischen Einwände antwortet, die Adorno, wie so oft, in einem Brief erhoben hatte11 – Einwände, die nichts anderes betreffen als Überlegungen zum Traum, zu den Beziehungen zwischen „Traumfiguren“ und „dialektischem Bild“? Ich lasse diesen Schwarm von Fragen ruhen.
Die folgende lange Erzählung lässt (dies ist meine eigene deutende Selektion) einen „alten Strohhut“ wiederaufleben, einen „Panama“, den Benjamin von seinem Vater geerbt hatte und an dem, in seinem Traum, oben ein großer Schlitz angebracht ist, auf dessen Rändern „rote Farbspuren“ zu erkennen sind; dann tauchen Frauen auf, von denen eine sich der Grafologie widmet und etwas in der Hand hält, das Benjamin geschrieben hatte. Benjamin nähert sich ihr und, so sagt er, „was ich sah, war ein mit Bildern bedecktes Stück Stoff, auf dem ich keine anderen Schriftzüge unterscheiden konnte als das obere Ende des Buchstabens d, dessen spitz zulaufenden Oberlängen eine extreme Neigung zur Spiritualität erkennen ließen. Dieser Teil des Buchstabens war außerdem mit einem kleinen blau gesäumten Schleier versehen, und der Schleier bauschte sich über der Zeichnung, als hätte ihn der Wind erfasst. Das war das Einzige, was ich ‚lesen‘ konnte. [. . .] Die Unterhaltung kreiste einen Moment um diesen Schriftzug. [. . .] Zu einem bestimmten Zeitpunkt sagte ich wörtlich: ‚Il s’agissait de changer en fichu une poésie.‘ (Es handelte sich darum, aus einem Gedicht ein Halstuch zu machen.*) [. . .] Unter den Frauen gab es eine, die sehr schön war und in einem Bett lag. Als sie meine Erklärung vernahm, machte sie eine kurze blitzartige Bewegung. Sie zog einen Zipfel der Decke zurück, in die sie auf ihrem Bett eingehüllt lag. [. . .] Nicht, um mich ihren Körper, sondern um mich die Zeichnung ihres Betttuchs sehen zu lassen, das eine Bilderschrift aufwies, die jener entsprach, die ich ‚geschrieben‘ haben sollte, es ist einige Jahre her, um sie Dausse zu schenken. [. . .] Nachdem ich diesen Traum geträumt hatte, konnte ich Stunden nicht mehr schlafen, vor Glück. Und um Dich an diesen Stunden teilhaben zu lassen, schreibe ich Dir.“
„Träumt man stets in seinem Bett?“, so hatte ich eingangs gefragt. Aus seinem Camp de travailleurs volontaires schreibt Benjamin an Gretel Adorno, dass er dort, in seinem eigenen Bett, von einer Frau geträumt habe, einer sehr schönen Frau, die „in einem Bett lag“ und für ihn die „Zeichnung ihres Betttuchs“ aufdeckte. Auf dieser Zeichnung aber treten ihm, wie eine Signatur oder eine Paraphe, die Züge seiner, Benjamins eigener, Schrift entgegen. Man wird stets über das d spekulieren können, das Benjamin auf dem fichu, dem Halstuch, entdeckt. Vielleicht ist es das Initial jenes Docteur Dausse, der ihn einige Jahre zuvor während seiner Malaria gepflegt und, in Benjamins Traum, einer seiner Frauen etwas gegeben hatte, von dem Benjamin sagt, er habe es geschrieben. Es könnte aber auch sein, unter anderen Hypothesen, unter anderen Initialen, dass dieses d der erste Buchstabe von Detlef ist. Benjamin zeichnete seine Briefe manchmal mit dem vertraulichen „Detlef“. So lautet auch der Vorname, dessen er sich in einigen seiner Pseudonyme bediente, so in Detlef Holz, jenem politischen Beinamen, mit dem er zum Beispiel, damals in die Schweiz emigriert, ein anderes Briefbuch signierte, „Deutsche Menschen“*12. Seine Briefe an Gretel Adorno trugen stets diese Unterschrift, zuweilen auch zu „Dein alter Detlef“ präzisiert. Von Benjamin zugleich gelesen und geschrieben, stünde dann der Buchstabe d für die Initiale seiner eigenen Signatur, als wollte Detlef sich zu verstehen geben: „Je suis le fichu“: „Ich bin dieses Halstuch“, ja als wollte er aus dem Camp de travailleurs volontaires, weniger als ein Jahr vor seinem Selbstmord, und wie jeder Sterbliche, der Ich sagt, in seiner Traumsprache zu sich sagen: „Moi, d, je suis fichu“: „Ich, d, bin fertig, mit mir ist es aus.“ Weniger als ein Jahr vor seinem Selbstmord, und einige Monate bevor er sich bei Adorno dafür bedankt, ihm aus New York zu seinem letzten Geburtstag, ebenfalls einem 15. Juli, gratuliert zu haben, hätte also Benjamin, wissend, ohne es zu wissen, eine Art von poetischer und vorausdeutender Hieroglyphe geträumt: „Moi, d, je suis dorénavant ce qui s’appelle fichu“: Ich, d, bin von nun an das, was man fichu nennt – elend, verloren, arm dran, fertig, am Ende. Und all dies, der Unterzeichnete weiß es, er sagt es selbst zu Gretel, all dies lässt sich nur auf Französisch sagen, schreiben und lesen, es lässt sich so, im Traum, nur auf Französisch unterzeichnen und entziffern: „Der Satz, den ich gegen Ende dieses Traums deutlich ausgesprochen habe, war auf Französisch. Ein Grund mehr, Dir in der gleichen Sprache davon zu erzählen.“ Keine Übersetzung, im konventionellen Sinne des Worts, wird dem je Rechnung tragen, keine in verständlicher, durchsichtig kommunizierbarer Weise (sich) darüber Rechenschaft ablegen können. Und dennoch, in der Achtung vor den Idiomen, in ihrer Achtung voreinander, ist ein bestimmter didaktischer Übergang möglich, sogar gefordert, erforderlich, universal wünschbar – möglich und wünschbar vom Unübersetzbaren aus. Zum Beispiel an der Universität oder in einer Kirche am Tag einer Preisverleihung. Vor allem dann, wenn man nicht ausschließt, dass in diesem Würfelwurf der Traum, wie Werner Hamacher mir zuflüstert, zugleich den Vornamen der ersten Frau Benjamins, aber auch seiner damals schwer erkrankten Schwester ins Spiel bringt: Dora, im Griechischen die abgeschürfte, zerkratzte oder geschundene Haut.
Dieser Traum scheint mit dem von Freud formulierten Gesetz zu brechen, raubt er doch Benjamin in den folgenden Stunden den Schlaf. „Den ganzen Schlafzustand über“, so hatte jener andere Emigrierte formuliert, „wissen wir ebenso sicher, dass wir träumen, wie wir es wissen, dass wir schlafen [. . .], während sich das herrschende System“, das System, das souverän über das Unbewusste herrscht, „auf den Wunsch zu schlafen zurückgezogen hat“, auf den Wunsch, sich in den Schlaf zurückzuziehen.13
Seit Jahrzehnten höre ich, wie man sagt, im Traum Stimmen. Manchmal sind es befreundete Stimmen, manchmal nicht. Es sind Stimmen in mir. Alle scheinen sie mir zu sagen: Weshalb solltest du nicht ein für alle Mal, in aller Deutlichkeit und in aller Öffentlichkeit, die Verwandtschaften zwischen deiner Arbeit und der Adornos anerkennen, ja in Wahrheit die Schuld, in der du Adorno gegenüberstehst? Bist du nicht ein Erbe der Frankfurter Schule?
Gewiss, die Antwort auf diese Frage wird, in mir und außer mir, stets kompliziert, zum Teil auch eine virtuelle Antwort bleiben. Aber von nun an, und dafür sage ich Ihnen noch einmal „Danke“, wurde ich nicht länger so tun können, als hörte ich diese Stimmen nicht. Mag die Landschaft der Einfüsse, die Filiationen oder der Erbschaften auch stets eine zerfurchte, labyrinthische bleiben – und sie ist in diesem Fall vielleicht widersprüchlicher und überbestimmter als je zuvor –, ich bin heute glücklich, Ihnen sei Dank, zu meiner Schuld gegenüber Adorno „Ja“ sagen zu können und zu müssen, in mehr als einer Hinsicht, mit mehr als einem Recht, auch wenn ich noch nicht imstande bin, ihr gerecht zu werden und sie zu tragen.
Um Ihnen für das, was Sie mir heute zuteil werden lassen, nämlich ein Zeichen des Vertrauens und die Übertragung einer Verantwortung, in wirklich angemessener Weise zu danken, um dieses Vertrauen zu rechtfertigen und dieser Verantwortung gerecht zu werden, hätte ich zwei Versuchungen widerstehen müssen. Mit der Bitte, mir ein doppeltes Scheitern nachzusehen, werde ich Ihnen im Modus der Verneinung sagen, was ich lieber nicht getan hätte oder was ich nicht tun sollte.
Ich hätte zum einen jede narzisstische Selbstgefälligkeit vermeiden sollen und zum anderen die – philosophische, historische, politische – Überinterpretation des Ereignisses, mit dem Sie mich heute so großzügig in Verbindung bringen, mich selbst, meine Arbeit, ja das Land, die Kultur und die Sprache, in denen meine bescheidene Geschichte wurzelt oder aus denen sie sich speist – wie untreu und marginal sie ihnen gegenüber auch bleiben mag. Würde ich es eines Tages schreiben, jenes erträumte Buch, um die Geschichte, die Möglichkeit und die Gunst dieses Preises zu interpretieren, es hätte mindestens sieben Kapitel, deren vorläufige Titel ich Ihnen im Stil eines Teleprogramms mitteile:
1. Eine vergleichende Geschichte der französischen und deutschen Erbschaften von Hegel und Marx, der gemeinsamen und doch so unterschiedlichen Ablehnung des Idealismus und zumal der spekulativen Dialektik, vor und nach dem Krieg. Dieses Kapitel, ungefähr 10.000 Seiten, wäre der Differenz von Kritik und Dekonstruktion gewidmet, unter besonderer Berücksichtigung der Begriffe der „bestimmten Negativität“, der Souveränität, der Ganzheit und der Teilbarkeit, des Fetischismus (einschließlich dessen, was Adorno zu Recht den Fetischismus des „Begriff[s] der Kultur“ in einer bestimmten Kulturkritik* genannt hat),14 unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Begriffe von Aufklärung* und von Lumières, wie auch der Auseinandersetzungen und Grenzverläufe im Innern der deutschen, aber auch im Innern der französischen Landschaft, sind doch diese beiden Gesamtheiten innerhalb der Nationalgrenzen sehr viel heterogener, als man häufig annimmt – und diese Annahme hat zu einer ganzen Reihe von perspektivischen Verzerrungen geführt. Um den Narzissmus verstummen zu lassen, würde ich von all den Abständen und Abweichungen schweigen, in denen sich meine Unzugehörigkeit zur so genannten französischen und vor allem zur universitären Kultur bekundet, in die ich mich gleichwohl eingelassen weiß – was die Dinge zu sehr kompliziert, um nicht den Rahmen dieser kurzen Ansprache zu sprengen.
2. Eine vergleichende Geschichte der Rezeption und Erbschaft Heideggers im Zuge der politischen Tragödien beider Länder. Auch in diesem Kapitel würde ich, auf etwa 10.000 Seiten zu diesem entscheidenden Punkt, an das erinnern, was die jeweiligen Strategien miteinander verbindet und voneinander trennt, und deutlich zu machen suchen, worin die meine, die mindestens ebenso zurückhaltend wie die Adornos und jedenfalls eine radikal dekonstruktive Strategie ist, einen ganz andren Weg einschlägt und ganz anderen Anforderungen gehorcht. Wir müssten zugleich, hier wie dort, das Erbe Nietzsches und Freuds, ja, wenn ich so weit gehen darf, selbst Husserls und, wenn ich noch weiter gehen darf, Benjamins neu interpretieren. (Lebte Gretel Adorno noch, ich würde ihr einen vertraulichen Brief über die Beziehungen zwischen Teddie und Detlef schreiben. Ich würde sie fragen, weshalb es keinen Benjamin-Preis gibt, und ihr meine Hypothesen dazu mitteilen.)
3. Das Interesse für die Psychoanalyse. Den Philosophen der deutschen Universität weitgehend fremd, hat Adorno es mit fast allen französischen Philosophen meiner oder der mir unmittelbar vorausgegangenen Generation geteilt. Man müsste unter anderem die politische Wachsamkeit betonen, in der die Lektüre Freuds, ohne Reaktivität oder Ungerechtigkeit, sich üben müsste. Ich hätte gerne jenen Passus der „Minima Moralia“, der den Titel „Diesseits des Lustprinzips“ trägt, mit dem gekreuzt, was ich kürzlich „das Jenseits des Jenseits des Lustprinzips“ genannt habe.
4. Nach Auschwitz. Was immer dieser Name bedeutet, zu welchen Debatten die Präskriptionen Adornos in dieser Sache auch Anlass gegeben haben mögen (diese Debatten sind zu zahlreich, zu vielfältig und zu komplex, als dass ich sie hier analysieren könnte) und ob man ihm nun zustimmt oder nicht – es ist das unleugbare Verdienst Adornos, das einzigartige Ereignis, das seine Signatur trägt, in so vielen Denkern, Schriftstellern, Professoren oder Künstlern das Bewusstsein ihrer Verantwortung angesichts all dessen wachgerufen zu haben, wofür Auschwitz der unaustauschbare Eigenname und die Metonymie bleiben muss.
5. Eine genau differenzierende Geschichte der Widerstände und Missverständnisse (eine Geschichte, die, seit kurzem, weitgehend vergangen, aber vielleicht noch nicht überwunden ist) zwischen deutschen Denkern, die für mich auch respektierte Freunde sind, ich meine Jürgen Habermas und Hans-Georg Gadamer, und auf der anderen Seite den französischen Philosophen meiner Generation. In diesem Kapitel würde ich zu zeigen versuchen, dass ungeachtet der Differenzen zwischen diesen beiden großen Debatten (sie mögen explizit oder implizit, direkt oder indirekt geführt worden sein) die Missverständnisse stets um die Interpretation und Möglichkeit des Missverständnisses selber kreisen, um den Begriff des Missverständnisses, auch des Dissenses, des Anderen und der Singularität des Ereignisses, und folglich um das Wesen des Idioms, das Wesen der Sprache, jenseits ihres unleugbaren und notwendigen Funktionierens, jenseits ihrer kommunikativen Verständlichkeit. Die Missverständnisse darüber sind ihrerseits vergangen, sie stellen sich zuweilen noch ein im Zuge von Idiomatizitätseffekten, die keine bloß sprachlichen, sondern ebenso traditionsgebundene, nationale, institutionelle sind – und manchmal auch, bewusst oder unbewusst, idiosynkratischer oder persönlicher Natur. Wenn diese Missverständnisse sich heute zwar nicht völlig in Luft aufgelöst, aber doch in einer Atmosphäre freundschaftlicher Versöhnung an Schärfe verloren haben, dann ist dies nicht allein der Arbeit, der Lektüre, der Redlichkeit, der Freundschaft der einen oder anderen, häufig der jüngeren Philosophen dieses Landes, zu danken. Man muss auch das wachsende Bewusstsein einer Verantwortung in Rechnung stellen, die es im Angesicht der Zukunft, und nicht allein der Zukunft Europas, zu teilen gilt: in politischen Diskussionen, Unterredungen, Entscheidungen, aber auch in solchen, die das Wesen des Politischen betreffen, in denen es um neue Strategien geht, die zu erfinden sind, um das, wofür es gemeinsam Partei zu ergreifen gilt, und schließlich um die Logik, ja die Aporien einer Souveränität, die nicht länger akkreditiert, aber auch nicht einfach diskreditiert werden kann – in Anbetracht neuartiger Formen des Kapitalismus und des Weltmarktes so wenig wie im Hinblick auf eine neue Gestalt, ja eine neue Konstitution und Verfassung Europas, die, in treuer Untreue, etwas anderes sein müsste als das, was die verschiedenen „Krisen“ des europäischen Geistes, die in diesem Jahrhundert diagnostiziert wurden, davon gewusst haben. Aber auch etwas anderes als ein Superstaat, der bloße ökonomische oder militärische Konkurrent der USA oder Chinas.
Das Datum des 11. September erinnert uns eher daran, als dass es uns in New York oder Washington erst darüber belehrt hätte: Niemals waren die fraglichen Verantwortungen so singulär, so unabweisbar, so notwendig. Niemals war ein anderes Denken Europas so dringend vonnöten. Es verpflichtet zu einer ernüchterten, wachen, wachsamen, dekonstruktiven Kritik, die aufmerksam ist für alles, was noch in der bestlegitimierten, mit allen Vollmachten ausgestatteten Strategie – sei es der politischen Rhetorik, der medialen und teletechnologischen Mächte, der spontanen oder organisierten Gefühlsäußerungen – das Politische mit dem Metaphysischen, mit den Kapitalspekulationen, mit den Perversionen des religiösen oder nationalistischen Affekts, mit dem Phantasma der Souveränität verschweißt. Außerhalb Europas, aber auch in Europa. An allen Grenzen und in allen Lagern. Ich muss es zu schnell sagen, aber ich wage es, unerschütterlich daran festzuhalten: An allen Grenzen und in allen Lagern. Mein unbedingtes Mitgefühl, das den Opfern des 11. September gilt, hindert mich nicht, es auszusprechen: Ich glaube angesichts dieses Verbrechens an die politische Unschuld von niemandem. Und wenn mein Mitgefühl, das allen unschuldigen Opfern gilt, grenzenlos ist, dann weil es bei denen nicht endet, die am 11. September in den Vereinigten Staaten den Tod gefunden haben. Das ist meine Interpretation dessen, was jene Gerechtigkeit sein müsste, die der vom Weißen Haus ausgegebenen Parole zufolge „Unendliche Gerechtigkeit“ heißt: von den eigenen Fehlern, dem eigenen Unrecht, den Irrtümern der eigenen Politik sich nicht freisprechen, und sei es auch in dem Augenblick, da man den furchtbarsten Preis für sie zahlt.
6. Die Frage nach der Literatur, und zumal das, was sich an ihr von der Frage nach der Sprache und ihren Institutionen nicht trennen lässt, würde in dieser Geschichte eine entscheidende Rolle spielen. Was ich am bereitwilligsten mit Adorno geteilt, ja von ihm übernommen habe – wie andere französische Philosophen es auch getan haben, wenngleich erneut in je unterschiedlicher Weise –, ist das Interesse für die Literatur und für das, was innerhalb des Feldes der universitären Philosophie von der Literatur wie den anderen Künsten, in kritischer Weise, dezentriert wird. Auch hier käme es darauf an, der Gemeinsamkeit der Interessen links und rechts des Rheins und der Verschiedenheit des jeweils in Frage stehenden Korpus Rechnung zu tragen, des literarischen ebenso wie des musikalischen und bildnerischen, bis zum Kino – und man müsste zugleich den Sinn dessen beherzigen, was Kandinsky in einem von Adorno zitierten Ausdruck, der keine Hierarchisierung einschließt, „Farbtonmusik“* genannt hat.15 Dies würde mich zu einer Geschichte der wechselseitigen Lektüre führen, vor und nach dem Krieg, innerhalb und außerhalb der Universität, zu einer Politologie der Übersetzung, der Beziehungen zwischen dem kulturellen Markt des Verlagswesens und der Universität etc. All dies müsste in einem Stil behandelt werden, der dem Adornos zuweilen eng verwandt bliebe.
7. Ich komme schließlich zu dem Kapitel, das zu schreiben ich die größte Lust hätte, weil es den Weg nähme, der noch am wenigsten betreten, ja überhaupt gebahnt wurde, der aber, wie mir scheint, zu den entscheidendsten einer künftigen Lektüre Adornos zählt. Es geht um das, was man mit einem Generalsingular, der mich stets schockiert hat, „das Tier“ nennt. Als gäbe es bloß ein einziges. Ausgehend von verstreuten Entwürfen oder Hinweisen, die in der gemeinsam mit Horkheimer in den Vereinigten Staaten verfassten „Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente“ oder in seinem „Beethoven. Philosophie der Musik“16 zu finden sind, bislang aber kaum zur Kenntnis genommen wurden, würde ich zu zeigen versuchen (ich habe diesen Versuch an anderer Stelle bereits in Angriff genommen), dass wir es hier mit Prämissen zu tun haben, die mit großer Umsicht entfaltet werden müssten, ja mit dem Vorschein zumindest einer denkenden und handelnden Revolution, deren wir im Zusammenleben mit jenen anderen Lebewesen, die man die Tiere nennt, dringend bedürfen. Adorno hat erkannt, dass diese neue kritische Ökologie, ich würde eher von einer „dekonstruktiven“ sprechen, zwei Furcht einflößenden Kräften entgegentreten müsste, die zuweilen einander entgegengesetzt, zuweilen miteinander im Bunde sind.
Auf der einen Seite die mächtigste idealistische und humanistische Tradition der Philosophie. Die Herrschaft* [des Menschen] über die Natur“, so präzisiert Adorno, „richtet sich gegen die Tiere“. Vor allem an Kant, dem Adorno in anderen Hinsichten die größte Achtung entgegenbringt, ergeht der Vorwurf, sein Begriff der Würde* und Autonomie lasse „fürs Mitleid“, für das Mitleid zwischen Mensch und Tier, „keinen Raum“. „Nichts“, so schreibt Adorno, „ist dem Kantianer verhasster* als die Tierähnlichkeit des Menschen.“ Nichts als Hass hat der kantianische Mensch für die Animalität des Menschen übrig, ja nichts anderes ist sein „Tabu“. Adorno spricht von „Tabuierung*“ und wagt sich jäh sehr viel weiter vor: „Die Tiere spielen fürs idealistische System virtuell die gleiche Rolle wie die Juden fürs faschistische.“* Die Tiere wären die Juden der Idealisten, die so nichts anderes wären als virtuelle Faschisten. Der Faschismus beginnt, wenn man ein Tier, ja das Tier im Menschen beschimpft. Auf das Tier im Menschen schimpfen oder „den Menschen ein Tier schimpfen – das ist echter Idealismus“*. Zweimal spricht Adorno vom „Schimpfen“*.
Auf der anderen Seite aber, an der anderen Front, das ist eines der Themen eines „Mensch und Tier“ überschriebenen Fragments der „Dialektik der Aufklärung“, gälte es die Ideologie zu bekämpfen, die sich hinter dem zwielichtigen Interesse verbirgt, das umgekehrt, zuweilen bis zum Vegetarismus, die Faschisten, die Nazis und die Führer für die Tiere an den Tag zu legen schienen.
Die sieben Kapitel dieser Geschichte, von der ich träume, sie schreiben sich bereits, ich bin mir dessen sicher. Was wir heute miteinander teilen, bezeugt es zweifellos. Jene Kriege und jene Friedensschlüsse werden ihre Neuen Historiker, ihre neuen Neuen Historiker finden und selbst den einen oder anderen neuen „Historikerstreit“*. Aber wir wissen nicht, wie und auf welchem Träger, auf welchen Schleiern für welchen Schleiermacher einer künftigen Hermeneutik, auf welcher Leinwand und auf welchem verdammten WWWeb, sur quel fichu WWWeb, der Schöpfer dieses Gewebes (hyphántes, würde der Platon der „Politeia“ sagen) sich morgen ans Werk machen wird. Auf welchem verdammten Web ein künftiger Weber unsere Geschichte zu signieren oder zu übermitteln gedenkt, wir werden es nie erfahren. Keine historische Metasprache, um davon im durchsichtigen Element irgendeines absoluten Wissens zu zeugen.
Celan: „Niemand zeugt für den Zeugen“*
Ich danke Ihnen, noch einmal, für Ihre Geduld.
aus dem Französischen von Stefan Lorenzer