11.01.2002

Moldawien: Abgedrängt in den Osten

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Moldawien: Abgedrängt in den Osten

SEIT dem 1. Juli 2001 benötigen die Bürger Rumäniens und Moldawiens beim Übertritt vom einen in das andere Land einen Reisepass, obwohl zwischen den beiden Staaten enge sprachliche und historische Bindungen bestehen. Diese erste Maßnahme zur Sicherung der künftigen EU-Ostgrenze hat für die Region weitreichende Folgen. Politisch rückt die Republik Moldau noch mehr nach Osten, während ihre Staatsbürger zu hunderttausenden im Westen Arbeit suchen, um der anhaltenden Wirtschaftskrise zu entkommen. Die Chancen für eine Wiedervereinigung, mit der viele fest gerechnet hatten, scheinen langfristig verspielt.

Von GUY-PIERRE CHOMETTE *

Kaum jemand hat zwischen 1945 und 1990 die Brücke bei Sculeni passiert. Sie führt über den Pruth, jenen Fluss, der Rumänien von der heutigen Republik Moldau (dem früheren rumänischen Bessarabien) trennt. Rumänien und die UdSSR, zu der Moldawien seit 1945 gehörte, hatten aus dem Pruth eine unpassierbare Grenze gemacht.

Doch im April 1990 finden in der damaligen Moldauischen Sozialistischen Sowjetrepublik die ersten freien Wahlen statt. Den Befürwortern einer rumänisch-moldauischen Wiedervereinigung, das heißt einer Rückkehr zum Vorkriegszustand, ist damit der Weg geebnet. Einige Wochen später strömen zehntausende von Moldauern und Rumänen nach Sculeni. Unter dem Druck der Bevölkerung öffnen Chisinau und Bukarest die Grenze. Auf der Brücke, die mit Blumensträußen übersät ist, kommt es zu Szenen, die den wenige Wochen zuvor im November 1989 in Berlin erlebten in nichts nachstehen. Beim Überqueren der Brücke werfen die Menschen eine Blume in den Fluss – eine starke symbolische Geste, die dem Bauwerk vorübergehend den Namen „Blumenbrücke“ verleiht. Millionen von Moldauern und Rumänen rechnen mit der Wiedervereinigung.

Elf Jahre später sind die Hoffnungen dahin. So sieht es zumindest Oberst Tudose, der die rumänische Grenzstation befehligt und sich mit Wehmut an die vertane Chance erinnert: „Wir haben die Gelegenheit verstreichen lassen. Damals hätten wir uns wiedervereinigen können. Aber auf beiden Seiten fehlte es an politischem Mut. All die Blumen haben zu nichts geführt. Jetzt ist es zu spät. Denn zu guter Letzt haben sich die Moldauer nach Osten orientiert und wir uns nach Westen.“

Im Dezember 1991 wird in Moldawien Mircea Snegur, Befürworter eines souveränen Staates, zum Präsidenten gewählt; damit ist der Traum von einer Wiedervereinigung zu Ende. Mehrere Gründe haben dazu geführt, dass sich die Bevölkerung von diesem Projekt so rasch wieder lossagte.1

Zunächst einmal hatten die beiden rumänischen Epochen Bessarabiens (1918 bis 1940 und 1941 bis 1944) bei den Moldauern nicht nur gute Erinnerungen hinterlassen. Negativ im Gedächtnis blieben vor allem der Zentralismus Bukarests und die Brutalität der in die Provinz abgestellten rumänischen Beamten. Auch Anfang der Neunzigerjahre befürchteten die Moldauer, innerhalb eines Großrumänien wieder marginalisiert zu werden. Zudem ließ die politische und wirtschaftliche Situation Rumäniens zwischen 1990 bis 1992 zu wünschen übrig. In dieser Zeit ging es Moldawien wirtschaftlich besser als seinem Nachbarn. Und auch die ethnischen Minderheiten der Region standen einer Wiedervereinigung skeptisch gegenüber: Die Gagausen, eine türkischsprachige christliche Gruppe im Süden des Landes (die 3,5 Prozent der 4,5 Millionen moldauischen Staatsbürger stellt) erklären im August 1990 ihre Unabhängigkeit; wenig später folgen die (zu 60 Prozent russischsprachigen) 800 000 Einwohner Transnistriens, eines schmalen Streifens zwischen dem Dnjestr und der Ukraine. Gagausien und Transnistrien drohen bei einem Zusammengehen von Moldau und Rumänien mit der Abspaltung.2 Diese Perspektive hat den Wiedervereinigungsplänen einen deutlichen Dämpfer versetzt.3

Im entscheidenden Augenblick also haben die Moldauer die Gründung eines unabhängigen Staates der unmittelbaren Wiedervereinigung vorgezogen, auch auf die Gefahr hin, dass der Tag, den so viele insgeheim herbeisehnten, damit auf lange Zeit hinausgeschoben wurde. Heute ist er freilich weiter entfernt denn je.

Vor allem die Beitrittsverhandlungen Rumäniens mit der Europäischen Union haben schmerzliche Folgen für die rumänisch-moldauischen Beziehungen nach sich gezogen. Ökonomisch gesehen ist Rumänien bereits der EU angegliedert. Zwar hat das Land sein Wachstumsniveau von vor zehn Jahren noch lange nicht wieder erreicht: Das Bruttoinlandsprodukt belief sich – bei einer Bemessungsgrundlage von 100 für 1989 – auf 82 Punkte im Jahr 2000. Bukarest erhält aber beträchtliche Beihilfen aus Brüssel: zwischen 1991 und 2000 mehr als 1,2 Milliarden Euro (das entspricht 52 Euro pro Einwohner). Seit Januar 1990 flossen 8 Milliarden Euro (348 Euro pro Einwohner) an Investitionsleistungen ins Land.

Ganz anders Moldawien. Legt man für das dortige BIP im Jahr 1995 100 Punkte zugrunde, so belief es sich im Jahr 2000 auf 62 Punkte. Zwischen 1991 und 2000 gewährte die EU Chisinau Beihilfen in Höhe von gerade einmal 95 Millionen Euro (oder 21 Euro pro Kopf), an Investitionsleistungen wurden lediglich 550 Millionen Euro (122 Euro pro Einwohner) erbracht. Und noch eine letzte Vergleichszahl: Mit 1 540 Dollar im Jahr 2000 konnte Rumänien das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gegenüber 1995 (damals betrug es 1 568 Dollar) halten, während es in Moldawien von 470 Dollar (1995) auf 296 Dollar (2000) sank.4 Moldawien war aus der Sicherheit des ehemaligen sowjetischen Wirtschaftsraums herausgefallen, ohne einen neuen Halt im Westen gefunden zu haben. Der Lebensstandard ist deutlich gesunken, die Lebensumstände sind äußerst hart: Selbst in Chisinau ist die Versorgung mit Wasser, Strom und Heizung nicht immer gewährleistet.

Auch in psychologischer Hinsicht vertieft sich die Kluft: Die Moldauer empfinden inzwischen gewisse Minderwertigkeitskomplexe gegenüber den Rumänen, denen sie herablassendes Verhalten vorwerfen. Rosina und Ludmilla studieren in Cahul (Kagul) im Süden des Landes, unweit des Pruth: „Viele von unseren Freunden sind zum Studium nach Brasov (Kronstadt) oder Bukarest gegangen“, erzählen sie. „Aber wenn sie zu Besuch kommen, dann hören wir, dass sie subtil ausgegrenzt werden und die Professoren sie von oben herab behandeln. Da unten halten sie uns für arme Schlucker.“

Neue Russophilie

GEOPOLITISCH zumal strebt Rumänien nach Westen: in die Europäische Union – aber auch in die Nato, bei der ebenfalls ein Aufnahmeantrag läuft. Die Republik Moldau dagegen blickt nach Osten, besonders seitdem die Kommunisten im Februar 2001 an die Macht zurückgekehrt sind. Wie in vielen Ländern Osteuropas spiegelt die wiedergewonnene Regierungsverantwortung der ehemaligen kommunistischen (nun oftmals unter sozialdemokratischem Namen firmierenden) Parteien die tiefe Enttäuschung einer Bevölkerung, der es vor zehn Jahren besser ging. Die Moldauer haben einer Partei ihre Stimme gegeben, die offen eine Rückkehr unter russische Fittiche propagiert. Während des Wahlkampfs hatte der im April 2001 vom Parlament zum Staatspräsidenten gewählte russophile Wladimir Woronin den Beitritt der Republik zur russisch-weißrussischen Union auf seine Fahnen geschrieben.

In der Stadt Lipcani, im Norden Moldawiens, lebt Gheorghe; der 58-Jährige ist arbeitslos, wie die Hälfte der Bevölkerung des Landes. In seinem Hof erledigt er alle möglichen Gelegenheitsreparaturen für Freunde, die ihn mit Obst entlohnen. Er ist rumänischer Abstammung, aber das bedeutet ihm nichts mehr. „Die Union mit Rumänien ist mir egal!“, versetzt er schroff. „Essen will ich, das ist alles. Unter wem, ist mir egal. Ob Ukrainer oder Russen oder Rumänen, egal. Essen will ich.“ Hinter seinem Gemüsegarten liegt ein Feld, dahinter der Pruth und auf der anderen Seite des Ufers Rumänien. Manchmal beobachtet er die Dorfbewohner von drüben. Ob Neid dabei ist? „Ich habe gehört, sie brauchen demnächst kein Visum mehr für die Europäische Union. Und wir? Wir brauchen das Visum noch. Aber es kommt noch schlimmer: Sehen Sie die Grenze da drüben? Die wird dicht gemacht.“

Tatsächlich müssen die Moldauer seit dem 1. Juli 2001 bei der Einreise nach Rumänien einen Reisepass vorlegen, während in den vergangenen zehn Jahren der Personalausweis genügte. Hier bekommt die Bevölkerung der einstigen Sowjetrepublik die rumänische EU-Annäherung am merklichsten zu spüren: Der Passzwang wirkt sich massiv auf den Grenzverkehr aus. Und wer ist dafür verantwortlich? Die Antwort kommt wie aus einem Munde: Brüssel. Tatsächlich hat die Europäische Kommission als Vorbedingung für weitere Beitrittsverhandlungen von Rumänien gefordert, Bürger aus den Nachbarstaaten und auch die ihnen eng verbundenen Moldauer nur noch mit Reisepass ins Land zu lassen. Als Grund wird angegeben: Die Grenze muss sicherer werden; insbesondere sollen illegale Einwanderer aus Asien abgefangen werden. Im Gegenzug hat auch die Republik Moldau die Passpflicht für Rumänen eingeführt.5

Von diesen verschärften Kontrollen ist der gesamte kleine Grenzverkehr betroffen. Seit Jahren verkaufen zahllose moldauische Bauern ihre Erzeugnisse in Rumänien, wo die Kaufkraft viermal so hoch ist. Wenn aber der Reisepass 32 Euro kostet – bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 40 Euro –, dann wird dieser Kleinhandel ruiniert werden. „Das ist praktisch schon eine Visumpflicht“, sagt der 27-jährige Mischa, der in Giurgiulesti, einem Grenzort im Süden, lebt und oft nach Rumänien reist, wo er Ersatzteile einkauft, die er in Moldawien wieder verkauft. „Wir machen uns Sorgen. Wenn die Europäische Union Rumänien zwingt, uns nur noch mit Visum einreisen zu lassen, dann ist es aus mit dem Grenzverkehr, und von dem leben viele hier.“ Und Claudia, die bei Sculeni die Grenze überquert, um ihre in Rumänien studierende Tochter zu besuchen, meint: „Ich habe vier Kinder, müsste also vier Pässe bezahlen. Eine Stange Geld! Aber vor allem mache ich mir Sorgen wegen meiner Tochter: Wer weiß, ob sie ihr Studium fortsetzen kann, ohne dass es neue Probleme gibt. Heute die Pässe – und morgen?“

Rumänien hat Chisinau eine Million Dollar zur Subventionierung der Reisepässe zugesagt, und die EU soll noch einmal dieselbe Summe versprochen haben. Der moldauische Staat wiederum möchte die Studenten unterstützen und ihnen den Pass kostenlos ausstellen. Dennoch empfinden viele Moldauer die Maßnahme als Schlag ins Gesicht. Und nicht wenige fühlen sich doppelt zurückgewiesen: zuerst von Europa und nun auch von Rumänien.

Doch das hält sie nicht davon ab, weiterhin massenhaft in den Westen aufzubrechen. Man schätzt, dass etwa 600 000 Moldauer bereits illegal in einem EU-Land gearbeitet haben. Wobei ihre Einreise in der Regel durchaus gesetzeskonform ist. Costea aus Balti, der zweitgrößten Stadt des Landes, ist ein Beispiel dafür. Der Dreißigjährige hat zunächst einen illegalen Grenzübertritt versucht, wurde aber an der ukrainisch-polnischen Grenze abgefangen. Also hat er sich entschlossen, ein Schengen-Visum zu erstehen: In Chisinau gibt es einige dutzend „Reiseunternehmen“, die darauf spezialisiert sind, Einladungen zu beschaffen, mit denen man bei den Botschaften ein Touristenvisum erhält. Das Ganze hat Costea 1 250 Dollar gekostet. Sobald er in Paris war, beantragte er politisches Asyl. Bis zur Ablehnung seines Antrags verging ein Jahr, in dem er schwarz auf Baustellen arbeitete. Er sagt, er habe monatlich 1 250 Euro verdient und zwei Drittel der Summe nach Hause geschickt. Dort, in Balti, habe inzwischen seine Frau für 3 750 Euro eine 60-m2 -Wohnung gekauft und sie „wie bei Ihnen“ eingerichtet – mit Wasch- und Spülmaschine sowie einer Dusche mit eigener Warmwasseraufbereitung.

Wie Costea versuchen hunderttausende ihr Glück, und Western Union, ein Unternehmen, das mit unkompliziertem internationalem Geldtransfer wirbt, hat mit seiner Reklame das Land überflutet. Ist diese massive Migrationswelle die letzte Leine, mit der die Moldauer versuchen, ihr Land am Westen des Kontinents zu vertäuen, während die Europäische Union ihre künftigen Grenzen abschottet?

Chisinau lehnt offiziell eine doppelte Staatsbürgerschaft zwar ab, doch erhalten die rumänischsprachigen Moldawier problemlos die rumänische Staatsbürgerschaft und damit auch einen Reisepass dieses Landes. In den letzten Jahren haben bereits tausende die Reise nach Bukarest unternommen, um die notwendigen Anträge zu stellen. Offiziell werden keine Zahlen genannt, doch sollen es 500 000 Personen sein, und angeblich ist die Zahl der Anträge in der letzten Zeit sprunghaft angestiegen.

In voraussichtlich einigen Monaten wird den Rumänen, die in ein EU-Land einreisen wollen, kein Schengen-Visum mehr abverlangt: Der Reisepass genügt. Und so hoffen die Moldauer, die durch die unabwendbare EU-Erweiterung hinter den Rand Europas zurückgeschoben werden, mit der doppelten Staatsbürgerschaft das Mittel gefunden zu haben, das die stark gesicherte Grenze für sie wieder durchlässig macht.6

dt. Passet/Petschner

* Journalist

Fußnoten: 1 Vgl. Vladimir Socor: „Why Moldova does not seek reunification with Romania“, Radio Free Europe/Radio Liberty Research Report, München, 31. Januar 1992. 2 Gagausien und Transnistrien erhielten Ende 1994 ein Autonomiestatut. 3 Vgl. Annie Daubenton, „La Moldavie sous la menace étrangère“, Le Monde diplomatique, Januar 1993. 4 Quellen: Poste d’expansion économique français de Bucarest; Caisse des dépôts et consignations; Europäische Kommission. 5 Dieses Problem stellt sich an allen östlichen Grenzen der Beitrittsländer. Einige Staaten – darunter Polen, das auf seine besonderen Beziehungen zur Ukraine verweist – plädieren für eine flexible Gestaltung der Grenzsicherungsmaßnahmen und eine endgültige Umsetzung des Schengener Abkommens erst kurz vor dem Beitritt. 6 Rumänien ist der letzte der zehn Beitrittskandidaten, dessen Staatsbürger bislang noch ein Schengen-Visum benötigen. Aber kürzlich hat die Europäische Kommission sich dafür ausgesprochen, die Visumpflicht für Rumänen im ersten Halbjahr 2002 außer Kraft zu setzen.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von GUY-PIERRE CHOMETTE