11.01.2002

Umstrittenes Gebiet

zurück

Umstrittenes Gebiet

DER Kaschmirkonflikt hat seinen Ursprung in der Aufteilung von Britisch-Indien in die neuen Staaten Pakistan und Indien. Im August 1947 sollten alle kolonialen Teilgebiete mit überwiegend muslimischer Bevölkerung den beiden neuen territorialen Einheiten im Osten und Westen des Subkontinents zugeschlagen werden, die den Staat Pakistan bildeten.

Kaschmir, zwischen Indien und Pakistan gelegen, galt aufgrund seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit als Kandidat für den Anschluss an Pakistan, doch der damalige Maharadscha, ein hinduistischer Herrscher, sah sich heftiger Einflussnahme ausgesetzt und erklärte am Ende den Beitritt seines Fürstentums zur Indischen Union. Es heißt auch, er habe eine von Pakistan gesteuerte muslimische Volkserhebung gefürchtet und darum für Indien optiert und dessen Armee zur Hilfe gerufen.

Der daraus folgende militärische Konflikt führte zur Teilung Kaschmirs entlang einer westöstlichen Waffenstillstandslinie: Pakistan hält seither ein Drittel des Landes im Nordwesten besetzt (das als „Azad Kashmir“ – freies Kaschmir – bezeichnet wird), der Rest des Fürstentums wurde als Staat Jammu und Kaschmir mit Sonderstatus zu einem Teil der indischen Bundesrepublik. 1965 und 1971 kam es erneut zu bewaffneten Auseinandersetzungen um Kaschmir, die, wie bereits der erste Krieg, die UNO zu zahlreichen Resolutionen veranlasste. Die Entschließungen der Vereinten Nationen (Einstellung der Kampfhandlungen, Truppenrückzug, Volksbefragung über die Zugehörigkeit des Landes) blieben weitgehend ohne Wirkung, führten aber zu der bizarren Situation, dass es seit über dreißig Jahren eine Blauhelmtruppe in Kaschmir gibt, deren Mandat von Indien souverän ignoriert wird.

Beide Konfliktparteien erheben Anspruch auf das gesamte Territorium Kaschmirs: Pakistan behauptet, die Bevölkerungsmehrheit hinter sich zu haben und von Indien durch List und Gewalt um das Gebiet betrogen worden zu sein. In Islamabad betrachtet man Kaschmir nach wie vor als „umstrittene“ Region und fordert die Umsetzung der UN-Resolutionen, vor allem des Beschlusses über eine Volksabstimmung.

Indien dagegen ist nicht bereit, sich auf verfassungsrechtliche Diskussionen einzulassen. „Unsere Haltung ist vollkommen eindeutig“, erklärt ein ranghoher Regierungsvertreter. „Seit 1947, seit dem Anschluss an Indien, ist der gesamte Staat Jammu und Kaschmir Teil des Bundesstaates Indien. Darüber kann es keine Diskussionen geben.“ Ebenso hart ist Indiens Haltung gegenüber den Vereinten Nationen. Seit dem Vertrag von Simla (1972), in dem festgelegt wurde, dass Indien und Pakistan künftig alle Streitigkeiten auf bilateraler Ebene austragen sollen, hat die UNO nach indischer Auffassung nichts mehr zu sagen. Allerdings sehen viele Muslime in dieser Vertragsklausel eine Art Verrat – der damalige pakistanische Machthaber Ali Bhutto hatte sich die Abmachung von Indira Gandhi diktieren lassen.

Seit 1998 sind Indien wie Pakistan im Besitz von Atomwaffen.1 Nur ein Jahr später hätten neue bewaffnete Auseinandersetzungen an der kaschmirischen Demarkationslinie beinahe zu einem vierten indisch-pakistanischen Krieg geführt. Wie fast alle Verhandlungen seit 1947 blieben auch die jüngsten Gespräche, im Juli 2001, ohne Ergebnis. Was die Kaschmiris betrifft, so hatten sie in der Angelegenheit kaum je etwas zu sagen.

R.-P. P.

Fußnote: 1 Siehe Paul-Marie de la Gorce, „Die Bombe als Eintrittskarte in die Weltpolitik“, Le Monde diplomatique, September 1998, und Ignacio Ramonet, „Bedrohung Pakistan“, Le Monde diplomatique, November 1999.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von R.-P. P.