11.01.2002

Bauern zu Terroristen

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Bauern zu Terroristen

Von ROLAND-PIERRE PARINGAUX

IN den vergangenen beiden Jahren war es um die Menschenrechte in Jammu und Kaschmir schlecht bestellt“, heißt es in einem im Mai 2000 erschienenen Bericht von amnesty international.1 Die Organisation verweist auf die „Zunahme außergerichtlicher Exekutionen von Personen, die angeblich Verbindungen zu bewaffneten Gruppen haben, durch die Sicherheitskräfte“ und erklärt weiter: „Offenbar ist die Zahl der Personen gewachsen, die von den Sicherheitskräften bewusst nicht verhaftet, sondern getötet wurden, zugleich nahm die willkürliche Verhaftung und Internierung von Personen zu, die auf friedliche Weise ihre Opposition demonstrierten. Weit verbreitet ist nach wie vor das Foltern von Häftlingen, das immer wieder Tote fordert. Weiterhin ‚verschwinden‘ verhaftete Personen; und da der Staat die Entscheidungen der Justiz missachtet, ist in solchen Fällen keine juristische Wiedergutmachung möglich.“2 Amnesty international erkennt an, dass die Sicherheitskräfte in Jammu und Kaschmir unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten und dass der Staat das Recht und die Pflicht hat, die Bürger vor Gewalttaten zu schützen, gibt jedoch zu bedenken: „Diese Situation darf nicht zur Rechtfertigung außergerichtlicher Tötungen und anderer Menschenrechtsverletzungen dienen.“

Organisationen zur Verteidigung von Menschenrechten haben diese Praktiken und ihrer straflose Anwendung seit Jahren kritisiert. In jüngster Zeit wurde die öffentliche Meinung durch drei besonders drastische Fälle alarmiert, die typisch für das Vorgehen der Sicherheitskräfte waren. Am 20. März 2000 drangen Bewaffnete, von denen einige indische Armeeuniformen trugen, in das von Sikhs bewohnte Dorf Chithisinghpora ein und töteten 34 Menschen.3 Eine in der Nähe stationierte Einheit der National Rifles griff nicht ein. Das Massaker, das von der Regierung bewaffneten islamischen Gruppen zugeschrieben wurde, fand kurz nach der Ankunft von US-Präsident Clinton in Indien statt. Vertreter der Opposition sprachen damals von einer Inszenierung, die nur dazu dienen solle, die „Freiheitskämpfer“ in Misskredit zu bringen. Clinton ließ sich nicht täuschen und erklärte, die Sikhs seien „nur getötet worden, weil ich hier bin. Kräfte, die eine friedliche Lösung nicht wünschen, haben meine Reise zum Anlass dafür genommen. Man hat unschuldige Menschen getötet, und ich möchte betonen, dass sie einer Gruppe angehören, die seit dem Beginn des Kaschmirkonflikts noch nie zum Ziel von Gewalttaten geworden ist.“4

Kurz darauf gab eine andere paramilitärische Organisation, die Special Operations Group (SOG), die Liquidierung von fünf „ausländischen Söldnern“ bekannt, denen sie Mordtaten anlastete. Doch am Ort des Geschehens erhob sich sofort Widerspruch: Die Bauern der Gegend erklärten, es handele sich um eine erfundene Geschichte, die fünf Getöteten seien allesamt unbescholtene Dorfbewohner gewesen. Der Vorfall führte zu Forderungen nach einem Untersuchungsausschuss und zu Demonstrationen, bei denen verschiedene Mitglieder der Opposition verhaftet und ins Gefängnis eingeliefert wurden. Am 3. April eröffnete die Polizei das Feuer auf eine Kundgebung, zurück blieben sieben Tote und fünfzehn Verletzte. Angesichts zunehmender Empörung über den Skandal sah sich die Regierung gezwungen, die fünf Opfer der Kommandoaktion exhumieren zu lassen – sie wurden von Familienangehörigen tatsächlich als Bewohner des Dorfes identifiziert. Seit über einem Jahr ist eine gerichtliche Untersuchung des Falles anhängig. Für die Opposition belegen solche Vorfälle natürlich den „staatlichen Terrorismus“. Die Regierung dagegen macht stets die bewaffneten muslimischen „Terrorgruppen“ verantwortlich.

dt. Edgar Peinelt

Fußnoten: 1 „India. Punitive use of preventive legislation in Jammu and Kashmir“, London, ASA 20/010/2000. 2 Nach Angaben von amnesty international sind seit 1990 mehr als 1 000 Menschen verschwunden. 3 In Jammu und Kaschmir leben etwa 80.000 Menschen, die der Religionsgemeinschaft der Sikhs zugehören. Im Unterschied zu den Hindus, die immer wieder Ziel von Anschlägen der „Militanten“ wurden, lebten die Sikhs seit 1989 in gutem Einvernehmen mit der muslimischen Mehrheit. Dagegen flohen seither mehr als 100.000 Hindus aus dem Kaschmirtal nach Jammu. 4 „India. A trail of unlawful killings in Jammu and Kashmir“, London, ASA 20/024/2000.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von ROLAND-PIERRE PARINGAUX