11.01.2002

Keine demokratische Lösung für Kaschmir in Sicht

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Keine demokratische Lösung für Kaschmir in Sicht

DIE Krise in Afghanistan hat die Aufmerksamkeit auf einen anderen Konflikt in der Region gelenkt, der etwas in den Hintergrund getreten war: auf den Streit zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir. Hier operieren seit langem muslimische bewaffnete Gruppen, die von der Regierung in Neu-Delhi als „Terroristen“ angesehen werden, während Islamabad von „Freiheitskämpfern“ spricht. Indien versucht, die neue Lage zu nutzen, indem es sich als Opfer eines Glaubenskriegs darstellt. Der werde von Pakistans Führung und Militär mithilfe islamistischer Bewegungen geführt, die den Taliban und den Terroristen von al-Qaida nahe stehen. Damit hat sich die indische Regierung auf eine gewaltsame Lösung und die Fortführung eines Krieges eingeschworen, unter dem das einstige Touristenparadies Kaschmir seit zwölf Jahren leidet.

Von ROLAND-PIERRE PARINGAUX *

Srinagar, die Hauptstadt des Bundesstaats Jammu und Kaschmir, der im Nordwesten Indiens liegt, ist eine Stadt im Belagerungszustand – die indische Armee und die Sicherheitskräfte sind hier omnipräsent.1 Bereits bei der Ankunft am Flughafen fallen die umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen auf, in der Stadt und der näheren Umgebung sieht man an jeder Ecke Soldaten und Polizisten. Sie schützen sich mit vorgehaltenen Schilden und kugelsicheren Westen, sie sitzen in gepanzerten Fahrzeugen oder verschanzen sich in ihren Bunkern und Unterständen hinter Stacheldrahtrollen. Eine derart engmaschige Überwachung gab es nicht einmal in Beirut oder Saigon zu Krisenzeiten. Im Stadtzentrum sind Arbeiter damit beschäftigt, eine Außenwand des Parlamentsgebäudes zu erneuern, das im Oktober 2001 durch einen Selbstmordanschlag zerstört wurde. Das Attentat forderte vierzig Tote und achtzig Verletzte.

Auch in den Dörfern des Kaschmir-Hochtals sind Armeeeinheiten stationiert, desgleichen entlang der Kontrolllinie, der alten Waffenstillstandslinie hoch in den Bergen, die bis heute das Land in Ost-West-Richtung durchschneidet und immer wieder zum Schauplatz bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen pakistanischen und indischen Truppen wird. Überall wird der Alltag von den Aktivitäten „bewaffneter Gruppen“ und der massiven Präsenz von Militär und Polizei dominiert. Die Furcht vor Anschlägen bringt die indischen Streitkräfte gelegentlich dazu, brutal gegen die Bevölkerung vorzugehen.

Krieg und Elend haben die Menschen in eine verzweifelte Lage gebracht. Am Dal-See, zwischen Srinagar und den Ausläufern des Hindukusch gelegen, beklagen die Besitzer der houseboats (das sind mit reichen Holzschnitzereien verzierte schwimmende Hotels) das Versiegen des einträglichen Touristenstroms. Nachdem Kaschmir in den Neunzigerjahren bis zu 800 000 Touristen pro Jahr zu verzeichnen hatte, sind es mittlerweile nur noch wenige tausend. Weil die Gäste ausbleiben, lassen viele Besitzer ihre Boote verrotten. Statt der ausländischen Besucher sind indische Militäreinheiten eingerückt, die ihre Lager vor dem malerischen Hintergrund der schneebedeckten Gipfel aufgeschlagen haben.

Indien hat stets die Position vertreten, allein Pakistan trage die Schuld an der Situation in Kaschmir. Es ist nicht zu leugnen, dass die Regierungen in Islamabad sich niemals mit dem Anschluss des Fürstentums Jammu und Kaschmir an die indische Union abfinden wollten. Stattdessen erklärten sie die Rückgewinnung des Gebiets zu einer nationalen Aufgabe von hoher symbolischer Bedeutung und unterstützten über Jahrzehnte hinweg die sezessionistischen Bewegungen in Kaschmir. Zuletzt wurde das im Mai 1999 deutlich, als die Region um Kargil, im indischen Teil Kaschmirs, eine Invasion von muslimischen Separatisten erlebte, die von der pakistanischen Armee geplant und logistisch unterstützt wurde.2 Doch auch die indischen Bundesregierungen sind in der Kaschmirfrage keineswegs unschuldig. Das gilt vor allem für die innenpolitischen Aspekte, also die Art, wie man in Neu-Delhi mit Kaschmir, seinen Bewohnern und deren Rechten und legitimen Forderungen umzugehen pflegt.

Vor dem Hintergrund der militärischen und diplomatischen Konflikte mit Pakistan entstand in Indien eine Klima des Misstrauens und der Missachtung. Für die Machthaber in Neu-Delhi steht die muslimische Bevölkerungsmehrheit der Provinz unter dem pauschalen Anfangsverdacht, sie sympathisiere mit den propakistanischen Sezessionisten. „Die indischen Regierungen hatten seit je eine misstrauische und unfreundliche Haltung gegenüber den muslimischen Einwohnern Kaschmirs“, meint Mehbora Mufti, der als Führer einer proindischen kaschmirischen Partei ins indische Parlament gewählt wurde. „Und das führte dazu, dass alle Kritik und jede politische Initiative abgewürgt wurden.“ So erklärt sich auch, dass die von den Vereinten Nationen 1948 beschlossene Volksabstimmung nie in Betracht gezogen wurde. Trotz wiederholter Anstrengungen, in Neu-Delhi Gehör zu finden, blieben die Belange der Bevölkerung weitgehend unberücksichtigt. Die Spannungen nahmen immer weiter zu, wurden aber von den Machthabern lange kaum zur Kenntnis genommen.

In einem kürzlich erschienenen Buch beurteilt der frühere indische Außenminister Jyotindra Nath Dixit die Lage in Kaschmir wie folgt: „Unsere Führer und das politische Establishment wollten nicht zugeben, dass die Konflikte um Kaschmir nicht allein dem Einfluss Pakistans zuzuschreiben waren, sondern ebenso der Entfremdung bestimmter Bevölkerungsgruppen von der Regierung. [. . .] Wenn man sich mit den Menschen in Indien unterhält, hört man überall, dass dieses Problem nicht allein durch Waffengewalt zu lösen sei und dass man wieder in politische Verhandlungen eintreten müsse. Doch bislang gibt es keine Ansätze in dieser Richtung.“3

Seit vielen Jahrzehnten ist das Schicksal der muslimischen Bewohner Kaschmirs, auf deren Rücken der Konflikt zwischen den Nachbarstaaten ausgetragen wird, für Indien kein vorrangiges Problem. Die kaschmirischen Muslime sind überwiegend Anhänger einer sufischen Glaubensrichtung, die als besonders gemäßigte Form des Islam gilt. Über fünfzig Jahre lang haben sie ihr Los geduldig ertragen. Anlass zu Hoffnung hatten die Wahlen von 1987 gegeben, von denen man sich demokratische Fortschritte nach indischem Muster versprochen hatte. Unter dem Banner einer muslimischen Einheitsfront war damals ein Parteienbündnis (Anhänger der Unabhängigkeit, proindische, wie propakistanische Gruppierungen und Vertreter einer erweiterten Teilautonomie) gegen die Regierungspartei National Conference angetreten und schien aussichtsreich im Rennen zu liegen.

Vielleicht hatten die damaligen Machthaber ein drastisches Votum gegen Indien befürchtet – sie griffen jedenfalls zu den härtesten Mitteln. Nicht nur ließen sie zahlreiche Führer der muslimischen Front verhaften, die Wahlen wurden auch derart manipuliert, dass die Mehrheit für die National Conference gewährleistet war. Neu-Delhi erklärte das Wahlergebnis zum Beleg dafür, dass die Kaschmiris sich für Indien entschieden hätten. Es wies alle Forderungen nach einer Volksbefragung unter Aufsicht der Vereinten Nationen zurück. Doch die Wahl führte zu nachhaltiger Verstimmung bei den Millionen von Muslimen in Kaschmir, die sich von Indien übergangen und missachtet fühlten und keine eigenen politischen Perspektiven mehr sahen. Vor allem unter den jungen Muslimen wuchs der Zorn gegen Indien. Es drohte ein Aufstand, den Pakistan zu nutzen wusste.

„Vierzig Jahre lang haben wir mit demokratischen und friedlichen Mitteln gekämpft“ betont Abdul Gani Bhat, Präsident der All Party Hurriyat Conference (APHC), einer Koalition separatistischer und propakistanischer Kräfte. „Aber Indien hat mit Gewalt geantwortet. Gewalt führt zu Gewalt, und Hass bringt neuen Hass hervor – und so kam es, wie es kommen musste.“ Seit 1989 unterstützt Pakistan die kaschmirischen Gruppen, die zum bewaffneten Kampf aufrufen, indem es ihnen erlaubt, Stützpunkte auf seinem Territorium zu unterhalten. „Wir waren gezwungen zu kämpfen, nicht aus Glaubensgründen oder weil wir zur Gewalt neigen, sondern um der Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen und unsere Forderungen zu bekräftigen“, erklärt Javed Mir, ein Veteran des bewaffneten Kampfs gegen das indische Militär. „Indien muss aufhören, hier mit einer Besatzungsarmee zu herrschen, und uns die demokratischen Rechte gewähren, die im übrigen Land gelten.“ Der frühere Studentenführer ist heute Zweiter Vorsitzender der Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF), die für die Unabhängigkeit eintritt. Er schlug sich auf die Seite der Kämpfer, nachdem man ihn – wie so viele muslimische Intellektuelle – wegen seiner politischen Aktivitäten wiederholt verhaftet und zu Gefängnis verurteilt hatte.

Doch der bewaffnete Kampf resultierte nicht allein aus den Enttäuschungen, die den Kaschmiris bereitet wurden. Der Publizist Tahir Mohiudin verweist auf einen anderen Zusammenhang: „1989 war auch das Jahr der sowjetischen Niederlage in Afghanistan. Das weckte große Begeisterung, und viele glaubten damals, man könne in Kaschmir wiederholen, was den Mudschaheddin in ihrem Land gelungen war.“ Dazu gehörte die Idee, einen Teil der abgemusterten islamischen Kämpfer in Kaschmir einzusetzen – in der Hoffnung, auch von deren Unterstützung aus Pakistan zu profitieren.

1989 war ein entscheidendes Jahr: Damals formierten sich die ersten Guerillaverbände, getragen vor allem von jungen Muslimen aus dem Kaschmirtal – den so genannten Militanten –, die über die Grenze in den pakistanischen Teil Kaschmirs, nach Pakistan oder sogar nach Afghanistan gegangen waren, um eine militärische Grundausbildung und religiöse Unterweisung zu erhalten. Pakistan finanzierte diese Projekte und sorgte für die Logistik. Nach einem oder zwei Monaten kehrten die jungen Kämpfer nach Kaschmir zurück. Sie bildeten kleine mobile Kommandos von fünf bis zehn Mann, die ein bestimmtes Ziel angriffen und dann untertauchten.

Etwa fünf Jahre lang wurde der bewaffnete Kampf vor allem von diesen kaschmirischen „Militanten“ getragen – nach Meinung vieler im Lande ein Beleg dafür, dass jene großen Rückhalt in der Bevölkerung hatten. Schließlich hatte der Krieg in Kaschmir, den die Weltöffentlichkeit weitgehend ignorierte, zehntausende Opfer gefordert.

Die Zivilbevölkerung zwischen den Fronten

IN fast jeder Familie gab es Tote zu beklagen: den Vater, den Bruder, den Sohn, einen Freund . . . Jedes Gespräch kommt irgendwann auf solche schmerzlichen Verluste. Manche glauben, dieser Blutzoll sei die Ursache dafür, dass ab 1993 der zuvor geringe Anteil von Kämpfern aus dem Ausland deutlich anstieg: Die neuen Militanten kamen vor allem aus Pakistan, aber auch aus Afghanistan und Sudan. Andere Beobachter erinnern daran, dass damals – und verstärkt nach 1996, als in Afghanistan die Taliban an die Macht gekommen waren – in Pakistan radikale geistliche Führer, wie Maulana Massud, offen erklärten: „Die Befreiung Kaschmirs ist Teil unseres Plans, Indien zu zerstören.“4 Bis vor wenigen Monaten wurden für diesen neuen Dschihad öffentlich Freiwillige angeworben und Gelder gesammelt.

Damit verschoben sich die Kräfteverhältnisse in der bewaffneten Auseinandersetzung. Rajinder Singh, Generalinspekteur der indischen Grenztruppen (Border Security Forces), der uns in seinem Bunker in Srinagar zum Tee empfängt, hat dazu statistische Angaben zu bieten: Er schätzt den Anteil der „ausländischen Söldner“ unter den etwa 2 000 Kämpfern auf 40 bis 50 Prozent. Als stärkste Kraft der Guerilla im Kaschmirtal gilt ihm nach wie vor die Hisbul Mudschaheddin, mit 1 000 Kämpfern, zu 85 Prozent Kaschmiris. Die übrigen 1 000 sollen sich vor allem aus vier pakistanischen Gruppierungen rekrutieren: der Laschkar e-Taiba (die seit einem Jahr zahlreiche Selbstmordanschläge verübt hat), der Jaisch e-Mohammad (der Verbindungen zu Ussama Bin Ladens al-Qaida nachgesagt werden) und den Organisationen Harakat ul-Ansar und al-Badar.

Diesen Kämpfern stehen indische Armee- und Polizeikräfte in einer Stärke von schätzungsweise 200 000 Mann gegenüber. Der Krieg ist im Laufe der Jahre immer verlustreicher geworden: Man spricht von 25 000 bis 40 000 Toten. Die Liste der Opfer, eine makabre regelmäßige Kolumne auf der Titelseite der Regionalzeitung, verzeichnet täglich die gefallenen Kämpfer, aber auch die getöteten Zivilisten, die bei Anschlägen umgekommen oder zwischen die Fronten geraten sind. In Srinagar, Baramulla, Kupwara, Sopore und unzähligen Dörfern gibt es kaum einen Friedhof ohne die Gräber junger „Märtyrer“. Sondergesetze gegen die „Subversion“, wie der Public Safety Act (PSA), bringen keine Lösung. Und gewaltlose Organisationen und Parteien beklagen, dass sie darunter zu leiden haben, sobald sie irgendeine Form von Opposition versuchen.

Es gibt zahlreiche Verhaftungen und viele „verschwundene Personen“, aber nur selten werden Kriegsgefangene gemacht. „Das Militär hält sich mit Gefangenen nicht auf“, meint Manzoor Ganai, Strafverteidiger beim Obersten Gerichtshof von Kaschmir. Besonders verrufen sind einige paramilitärische Einheiten, wie die Special Operations Group und die National Rifles, denen immer wieder Morde, Vergewaltigungen, Schutzgelderpressungen und Menschenrechtsverletzungen aller Art vorgeworfen werden. Sie kommen stets ungestraft davon.

2001 ging der Kaschmirkonflikt ins zwölfte Jahr – ein besonders gewaltsames und blutiges Jahr: Nach amtlichen Angaben vom November gab es 4 000 Zusammenstöße (gegenüber 2 500 im Vorjahr), bei denen mehr als 3 000 Menschen starben (1 600 „Militante“, 1 000 Zivilisten und 500 indische Soldaten) und 4 000 verletzt wurden, die meisten davon Zivilisten.

Es fehlt nicht an Aufrufen, das Blutbad zu beenden, dem bewaffneten Kampf abzuschwören und eine demokratische Lösung anzustreben. Doch in Srinagar gibt es Stimmen, die daran nicht mehr glauben – oder nicht mehr glauben wollen. Sie sehen keinerlei Vertrauensbasis und keine Versuche, die Atmosphäre zu entgiften. Im Gegenteil, meint der angesehene Journalist Jusuf Jamil: „In den vergangenen Jahren hat es keinen einzigen ernsthaften Versuch gegeben, den Graben zwischen Indien und der hiesigen Bevölkerung zu überwinden. Das macht die Tragödie Kaschmirs aus.“ Jamil beklagt, dass „die Weigerung, zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen zu unterscheiden, ihre pauschale Behandlung als Terroristen, eine Verkennung der Wirklichkeit bedeutet, die jede Chance für Verhandlungen zunichte macht. Auf alle wichtigen Fragen hat Indien nur eine Antwort gewusst: gewaltsame Unterdrückung. Die Machthaber in Delhi haben jeden Kredit verspielt. Und die Zeit läuft ab.“

Ist alles schon zu spät? Das glauben nicht wenige Menschen in Kaschmir, aber einige sehen noch eine letzte Chance. Im Jahr 2002 scheinen für Indien alle Zeichen günstig zu stehen: Die Bevölkerung hat den Konflikt satt, die Afghanistankrise hat Bewegung in die Sache gebracht, und Regionalwahlen stehen vor der Tür. Mehboba Mufti hat dazu eine klare Meinung: „Wenn Indien das Blutvergießen beenden will, muss unbedingt neues Vertrauen geschaffen werden – vor allem durch unmanipulierte Wahlen. Sonst geht gar nichts mehr.“

Indiens Ministerpräsident hat schon im August 2001 das Versprechen gegeben, in Kaschmir „freie und ehrliche“ Wahlen abzuhalten. Allerdings wird der bevorstehende Urnengang durch eine schwere Hypothek belastet: Nach den Wahlfälschungen von 1987 hatten die Parteien, die für Sezession oder Unabhängigkeit eintreten, die folgenden Wahlen – 1996 und 1999 – boykottiert, und die wichtigste Kraft der Opposition, die APHC, will erklärtermaßen an von Indien organisierten Wahlen nicht mehr teilnehmen. Stattdessen fordert sie, gemeinsam mit Pakistan, die Durchführung eines Referendums unter Aufsicht der UNO und Verhandlungen mit Indien unter Einschluss von Vertretern aus Kaschmir. Bleibt die Frage, ob Indien das Risiko eingehen will, freie Wahlen in einer Provinz abzuhalten, deren Bevölkerung offensichtlich die indische Oberhoheit ablehnt. „Die [regierende] National Conference verfügt über eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, aber sie hat keine Basis in der Bevölkerung“, hieß es im November 2001 in der Zeitung Kashmir Times.

Der Versuch, die Entwicklungen in Afghanistan auszunutzen, um die Kaschmirfrage auf die internationale Tagesordnung zu setzen, könnte sich für Indien durchaus als zweischneidige Sache erweisen. Einerseits bedeuteten der internationale Feldzug gegen den Terrorismus, die Entmachtung des Taliban-Regimes in Afghanistan und das Einschwenken von Pakistans Militärherrscher Pervez Muscharraf auf den US-amerikanischen Kurs einen schweren Schlag für die islamistischen Gruppen in Kaschmir und haben Indien auf innenpolitischer wie internationaler Ebene Vorteile gebracht. Die Regierenden in Neu-Delhi könnten also versuchen, es Indira Gandhi gleichzutun, die 1972, als sich Ostpakistan zum unabhängigen Staat Bangladesch erklärte, von der geschwächten pakistanischen Führung unter Ali Bhutto erhebliche Zugeständnisse erwirkte. Doch die Frage ist, ob sie in Sachen Kaschmir überhaupt initiativ werden wollen. Sie wollen es vermutlich nicht, solange die pakistanische Seite nicht zusichert, die Unterstützung für die antiindischen Gruppen in Kaschmir einzustellen. „Es geht darum, den Terror und den Dschihad zu beenden“, erklärt ein hoher indischer Regierungsvertreter. Und davon ist man noch weit entfernt.

Indien dürfte aber auch wenig Neigung zeigen, diese Büchse der Pandora zu öffnen. Denn Neu-Delhi hat seit je die Politik verfolgt, die Einmischung Dritter in diesen Konflikt zu vermeiden. Die internationale Gemeinschaft könnte ja aus ihren Erfahrungen in Afghanistan den Schluss ziehen, dass man sich auch um den Krisenherd Kaschmir kümmern müsse. Sie könnte also die Konfliktparteien – die beide im Besitz von Atomwaffen sind – zu Verhandlungen nötigen.

„Der Kaschmirkonflikt ist nicht nur für unsere Region eine große Bedrohung, sondern für die gesamte Welt“, meint Shabir Dar, Generalsekretär der Muslimischen Konferenz von Kaschmir. „Die internationale Gemeinschaft muss etwas unternehmen.“ Doch Indien will sich keine Vorschriften machen lassen: „Wir sind kein kleines Land, dem man nach Belieben Konzessionen und Kompromisse aufzwingen kann“, lautet die selbstbewusste Stellungnahme eines hochrangigen Beamten im indischen Außenministerium.

Solche Großmachtrhetorik kommt besonders in dem politischen Lager gut an, das den Konflikt unbedingt militärisch lösen will. Dieses Lager ist gar nicht so klein, und die Kaschmirfrage gibt den Politikern immer wieder Anlass, sich gegenseitig in nationalistischen Parolen zu überbieten. Der indische Verteidigungsminister George Fernandes wie auch Innenminister Lal Krishna Advani und Farooq Abdullah, der Ministerpräsident von Jammu und Kaschmir, haben jüngst erklärt, Indien habe das Recht, die „Militanten“ grenzüberschreitend bis zu ihren Stützpunkten in Pakistan zu verfolgen. Andere „Falken“ machen kein Hehl daraus, dass sie am liebsten einen „richtigen Krieg“ gegen Pakistan führen würden, um den schwärenden Konflikt um Kaschmir radikal zu beenden.

Bei der hinduistischen Wählerschaft können sie mit solchen Auftritten auf große Zustimmung rechnen, und natürlich auch bei all den – zivilen wie militärischen – Kräften, die aus dem Krieg ihre Vorteile ziehen. Vielleicht hat auch der kaschmirische Journalist Recht, der sarkastisch feststellt: „Einer Nation mit einer Milliarde Staatsbürgern kann sich ein Militärkontingent dieser Größenordnung und den Tod von 500 Soldaten im Jahr durchaus leisten.“

dt. Edgar Peinelt

* Journalist

Fußnoten: 1 Jammu und Kaschmir, Teil der Bundesrepublik Indien, besteht aus drei Gebieten: An Kaschmir (auch „das Tal“ genannt) schließt sich im Süden Jammu und im Osten das Ladakh an. Von den etwa acht Millionen Einwohnern sind 61 Prozent Muslime (vorwiegend in Kaschmir lebend), 30 Prozent Hindus (in Jammu) und 6 Prozent Buddhisten (im Ladakh). 2 Siehe Negarajan V. Subramanian, „Ein nuklearer Schatten über Kaschmir“, Le Monde diplomatique, Juli 1999, und Selig S. Harrison, „Das Dilemma der pakistanischen Generäle“, Le Monde diplomatique, Oktober 2001. 3 Jyotindra Nath Dixit, „Across Borders: 50 Years of India’s Foreign Policy“, Neu-Delhi (Thomson Press [India] Ltd.) 1998. 4 Erklärung in der pakistanischen Zeitschrift Newsline, Karatschi, Februar 2000.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von ROLAND-PIERRE PARINGAUX