11.01.2002

Dubiose Kontakte zwischen Washington und den Taliban

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Dubiose Kontakte zwischen Washington und den Taliban

Von PIERRE ABRAMOVICI *

Mit dem Abzug der sowjetischen Truppen am 15. Februar 1989 kehrte in Afghanistan der Frieden nicht ein. Damals interessierten sich die Vereinigten Staaten, die an der Kriegführung nur indirekt durch afghanische Mittelsmänner im pakistanischen Geheimdienst ISI (Inter Services Intelligence) beteiligt waren, nicht weiter für die afghanische Frage. Selbst ein radikaler Islamist wie der ehemalige ISI-Chef General Hamid Gul bezeichnet den Rückzug der Amerikaner als ein „Verbrechen“, und Vincent Cannistraro, ehemaliger Mitarbeiter der CIA und des Nationalen Sicherheitsrats der USA, räumt Fehler seines Landes ein: „Als sich die Rote Armee zurückzog, waren die Ziele der Vereinigten Staaten erreicht. Was haben sie unternommen? Sie sind nach Hause gefahren. Sie haben Afghanistan sich selbst überlassen und keine Hilfen zur Verfügung gestellt – was eigentlich ihre Pflicht gewesen wäre –, um das Land wieder aufzubauen und seine Stabilität zu gewährleisten. [. . .] Sie haben ein riesiges Vakuum hinterlassen.“1 Um dieses Vakuum zu füllen, traten die Vereinten Nationen auf den Plan und haben den Schauplatz Afghanistan seither nicht mehr verlassen.

Am 28. April 1992 wird Afghanistan offiziell zu einer Islamischen Republik. Schon am Tag darauf treffen die ersten Besucher in Kabul ein: Der pakistanische Premier Nawaz Scharif kommt in Begleitung seines Stabschefs. Seiner Delegation gehört auch Prinz Turki an, Chef des saudischen Geheimdienstes und künftiger Förderer Ussama Bin Ladens, der seit seiner Rückkehr aus dem Krieg gegen die Sowjets wieder in Saudi-Arabien lebt. Am gleichen Tag marschiert Kommandant Massud in Kabul ein und entfesselt eine Schlacht, die die Stadt in ein Trümmerfeld verwandeln wird.

Am 28. Juni wird der gemäßigte Islamist Burhanuddin Rabbani (der 1962 die erste islamistische Partei Afghanistans, die Dschamaat-i-Islami, gegründet hatte) zum Staatspräsidenten ausgerufen. Die Kämpfe gehen weiter, unterbrochen von Feuerpausen, deren Einhaltung (im Allgemeinen) von Iran, Pakistan oder Saudi-Arabien überwacht wird. Im Januar 1994 setzt sich die UNO, die Mahmoud Mestiri zu ihrem Sonderbeauftragten für Afghanistan ernannt hat, drei Ziele: Präsenz vor Ort; Einwirkung auf die verdeckt operierenden Staaten, sich nicht länger in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einzumischen; Freilassung des ehemaligen Präsidenten Muhammed Nadschibullah, der sich in ein UN-Gebäude in Kabul geflüchtet hat.2 Geplant ist auch, das Land durch die Einberufung einer Versammlung (schura) und wenn möglich durch Wahlen zu stabilisieren. Die Mission scheitert 1995, doch der Kampf gegen die Einmischung des Auslands bleibt vorrangiges Ziel der UNO, die den Frieden durch die Abhaltung lokaler Versammlungen auf allen Ebenen sichern will.

Entgegen dem Vorwurf, sie hätten Afghanistan „fallen gelassen“, interessierten sich die Vereinigten Staaten tatsächlich schon sehr bald wieder für das Land, und zwar wegen seiner geografischen Nähe zum Kaspischen Meer, das als neue Schatzgrube fossiler Energien gilt. Schon im Juni 1990 etabliert sich Chevron nach einer wüsten Rangelei unter den Mineralölgesellschaften im seinerzeit noch sowjetischen Kasachstan. Die Konzerne betreiben intensive Lobbyarbeit und rekrutieren Berater unterschiedlichster Provenienz, darunter Richard Cheney, ehemaliger Verteidigungsminister unter Bush senior und späterer Vizepräsident von Bush junior, und der höchst aktive Zbigniew Brzezinski, früher Sicherheitsberater von Präsident Carter, Berater bei Amoco und langjähriger Förderer von Clintons künftiger Außenministerin Albright.

Aus denselben Gründen beginnt sich auch das Pentagon in den ehemaligen Sowjetrepubliken einzunisten, mit deren Erdölreserven die USA energiepolitisch auf Dauer weniger abhängig von den Golfstaaten werden wollen. Unter dem Vorwand eines „humanitären“ Einsatzes (dessen Zweck im Dunkeln bleibt) unterzeichneten die Vereinigten Staaten 1996 erst mit Usbekistan, dem mächtigsten Land der Region, danach mit Kasachstan und Kirgisistan das so genannte Centrasbat-(Central Asia Batallion-)Abkommen. Diese drei Länder veranstalteten 1997 und 1998 gemeinsame Truppenübungen, und im Ausbildungszentrum der US-Eliteeinheiten in Fort Bragg wurden Soldaten, vor allem usbekische, trainiert. Beunruhigt über diese verstärkte militärische Kooperation an den Grenzen ihres Landes, schickten die Russen ab 1998 Manöverbeobachter.

Zwei Mineralölgesellschaften – die zwölftgrößte US-Gesellschaft Unocal und die argentinische Bridas – konkurrieren um das ehrgeizige Projekt einer Pipeline, die von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan gehen soll. „Die einzig mögliche Route“, so John J. Maresca, internationaler Vizepräsident der Unocal, vor einem Ausschuss des amerikanischen Repräsentantenhauses.3 Bei einer Investition in solcher Höhe muss die Zustimmung des turkmenischen Präsidenten Nijasow und der pakistanischen Ministerpräsidentin Benazir Bhutto eingeholt werden. Diese erfolgt am 16. März 1995. Und nach einer intensiven Kampagne der Lobbyisten, die auf Initiative der US-amerikanischen Behörden geführt wird, unterzeichnet der turkmenische Präsident am 21. Oktober mit Unocal4 einen Vertrag über den Bau der afghanischen Pipeline. Doch zuvor muss die Stabilität Afghanistans gesichert sein.

Im Januar 1995, der Krieg ist in vollem Gange, treten die ersten größeren Gruppen von Taliban-Kämpfern in Erscheinung: Sie sind eine Schöpfung des pakistanischen Geheimdienstes und werden vermutlich von der CIA und Saudi-Arabien finanziert. Es wird sogar behauptet, dass Unocal zusammen mit dem saudischen Partner Delta Oil beim „Einkauf“ örtlicher Kommandanten eine große Rolle gespielt habe.5 Die Sicherung Afghanistans ist offenkundig die einzige Funktion dieser Kämpfer.

Am 26. September 1996 erobern die Taliban Kabul. Michael Bearden, Vertreter der CIA in Afghanistan während des Kriegs gegen die Sowjets (und heute halboffizieller Sprecher der CIA), gibt die damalige Stimmung bei den Amerikanern wieder: „Diese Typen [die Taliban] waren nicht einmal die schlimmsten, etwas hitzige junge Leute, aber das war immer noch besser als der Bürgerkrieg. Sie kontrollierten das gesamte Gebiet zwischen Pakistan und den Erdgasfeldern Turkmenistans. Vielleicht war das doch eine ganz gute Idee, dachten wir, wenn wir eine Erdölpipeline durch Afghanistan bauen und das Gas und die Rohstoffe auf den neuen Markt befördern können. Alle wären zufrieden.“6

Chris Taggart, Vizepräsident von Unocal, machte kein Hehl daraus, dass seine Gesellschaft die Taliban unterstützt. Er bezeichnete ihren Vormarsch als „positive Entwicklung“ und versicherte, dass „die jüngsten Ereignisse sich vermutlich vorteilhaft auf das Projekt [der Pipeline] auswirken“ werden. Man rechne sogar mit der Anerkennung der Taliban-Regierung durch Washington.7 Das war zwar eine Fehlinformation, aber zwischen Washington und den „Religionsstudenten“ herrschte eitel Sonnenschein. Für Gas und Öl tut man alles. Auf Einladung von Unocal reiste sogar eine Taliban-Delegation im November 1997 in die Vereinigten Staaten, und Anfang Dezember eröffnete der Konzern an der Universität von Omaha, Nebraska, ein Ausbildungszentrum, in dem 137 Afghanen für den Bau von Pipelines ausgebildet wurden.

Als sich die politische und militärische Situation in Afghanistan nicht besserte, wurden in Washington Stimmen laut, die die Unterstützung des Taliban-Regimes und des Erdgasprojekts für einen politischen Fehler hielten. So warnte Vizeaußenminister Talbott am 21. Juli 1997: „Die Region könnte zur Brutstätte von Terroristen werden, zur Wiege des politischen und religiösen Extremismus und zum Schauplatz eines regelrechten Kriegs.“8 Ein neuer Faktor greift in Afghanistans Innenpolitik ein und beeinflusst seine internationalen Beziehungen entscheidend: die Anwesenheit Ussama Bin Ladens, der auf der Suche nach einem sicheren Ort aus Sudan gekommen war. Mit Unterstützung der Taliban rief er von Afghanistan aus am 22. Februar 1998 eine internationale radikale Islamistenbewegung ins Leben: al-Qaida. Er verkündete eine Fatwa, die zu Anschlägen gegen amerikanische Einrichtungen und Staatsbürger aufrief.

Bei einem Besuch in Kabul am 16. April 1998 erörterte der amerikanische UN-Botschafter William Richardson den Fall Bin Laden mit den Taliban. Nach Einschätzung des damaligen US-Botschafters in Pakistan, Simons, spielten die Taliban das Problem allerdings herunter: „Er besitzt nicht die religiöse Autorität, eine Fatwa zu verkünden, und deshalb dürfte das auch kein Problem für Sie darstellen.“

Doch am 8. August 1998 werden die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi durch Bombenanschläge zerstört, bei denen insgesamt 224 Personen ums Leben kommen, darunter zwölf Amerikaner. Die Vereinigten Staaten schlagen zurück undfeuern 70 Cruise-Missiles auf Afghanistan ab sowie einige auf Sudan. Den Chef von al-Qaida erklären sie zum Staatsfeind Nummer eins. Dennoch warten sie über sechs Monate ab, bis sie einen internationalen Haftbefehl erlassen. Da sie seiner nicht habhaft werden können, hoffen sie, mit den Taliban die Ausweisung Bin Ladens aushandeln zu können.

Die Anschläge auf die US-Botschaften haben einen wichtigen Nebeneffekt: Unocal verzichtet auf das Projekt der afghanischen Erdgasleitung.

Seit 1997 tagt die so genannte Sechs-plus-Zwei-Gruppe, bestehend aus den sechs Nachbarländern Afghanistans (Iran, Pakistan, China, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan) sowie Russland und den Vereinigten Staaten, unter der Schirmherrschaft der UNO und deren Afghanistan-Vermittler Lakhdar Brahimi, eines sehr erfahrenen algerischen Diplomaten, der im Juli 1998 auf diesen Posten berufen wurde. Nach dem militärischen wie politischen Scheitern der früheren Missionen ist die UNO erneut zu einem entscheidenden Faktor in der Region geworden.

Im Laufe des Jahres 1998 kommt es zu zahlreichen diplomatischen Initiativen. Am 12. März 1999 bewegen sich, wie schon zuvor der Iran, die Vereinigten Staaten in der Afghanistan-Frage auf Russland zu. Karl Inderfurth, Sondergesandter des Außenministeriums für Südasien, reist nach Moskau. Ganz offensichtlich unterscheiden sich die Positionen von Russen und Amerikanern kaum, und das gilt auch für die Rolle, die Teheran dabei zukommt: „Iran ist ein Nachbar [Afghanistans] und kann deshalb zur Beendigung des Konflikts beitragen. Nach unserer Einschätzung kann der Iran im Rahmen der Sechs-plus-Zwei-Gruppe eine positive Rolle spielen.“ Inderfurth fügt hinzu: „Afghanistan, und darin liegt eine gewisse Ironie, ist ein Teil der Welt, in dem Russen und Amerikaner zusammen zu einer Lösung gelangen könnten.“ Womit er eine Lösung für das Kampfgeschehen meint, an dem die Russen allerdings insofern beteiligt sind, als sie die Nordallianz offen unterstützen.

Die ersten Anzeichen der gegenwärtigen Probleme tauchen ebenfalls 1998 auf, vor allem die Initiativen bestimmter Gruppierungen aus der Anhängerschaft des ehemaligen Königs Sahir Schah, der 1973 gestürzt wurde und seitdem im römischen Exil lebt. UN-Generalsekretär Kofi Annan vertritt in einem Bericht vor dem Sicherheitsrat die Einschätzung, dass „die von einigen Führern der nicht kriegführenden afghanischen Parteien befürwortete ‚Loja Dschirga‘ (Große Versammlung) als informelle, traditionelle afghanische Methode der Streitbeilegung auch weiterhin Aufmerksamkeit“ verdient. Der Sicherheitsrat „legt der Sondermission der Vereinten Nationen in Afghanistan nahe, zu diesen Führern auch künftig nützliche Kontakte zu wahren“9 . Zu weiteren diplomatischen Initiativen, die im Umfeld der UNO stattfinden, gehört unter anderem auch ein Treffen von 21 Ländern „mit Einfluss in Afghanistan“.10

Wie geplant tritt am 19. Juli 1999 die Vollversammlung der Sechs-plus-Zwei-Gruppe in der usbekischen Hauptstadt Taschkent zusammen und eröffnet damit eine neue Phase in der Afghanistan-Diplomatie. Zum ersten Mal sitzen Taliban-Vertreter und Angehörige der Nordallianz an einem Tisch. Die Taliban, die 90 Prozent des afghanischen Territoriums vertreten, sprechen der Nordallianz jegliche Repräsentativität ab. Wie nicht anders zu erwarten endet die Versammlung ohne Ergebnisse, doch von da an laufen die meisten diplomatischen Initiativen über die Sechs-plus-Zwei-Gruppe.

Die US-Regierung allerdings, die die Auslieferung des Al-Qaida-Chefs durch die Taliban unbedingt durchsetzen will, unterhält weiterhin Kontakte aller Art und unterstützt auch verschiedene Initiativen, die geeignet sind, eine politische Lösung herbeizuführen. Mit ihrer Billigung findet zwischen dem 22. und 25. November 1999 in Rom ein von Exkönig Sahir Schah organisiertes Treffen zur Vorbereitung der Loja Dschirga statt. Zwischenzeitlich hat der UN-Sicherheitsrat am 15. September eine Resolution verabschiedet, in der die Taliban zur Auslieferung Bin Ladens aufgefordert und ihnen eingeschränkte Sanktionen angedroht werden.

Am 18. Januar 2000 wird der spanische Diplomat Francesc Vendrell zum neuen Afghanistan-Beauftragten der Vereinten Nationen ernannt, nachdem sein Vorgänger Brahimi, frustriert von der Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen, zurückgetreten ist. Zwei Tage später reist Inderfurth nach Islamabad, um mit dem neuen pakistanischen Machthaber General Pervez Muscharraf zusammenzutreffen. Er führt auch Gespräche mit zwei Würdenträgern der Taliban und stellt seine – immer gleiche – Forderung: „Geben Sie uns Bin Laden.“ Als Gegenleistung stellt er die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kabul und der internationalen Staatengemeinschaft in Aussicht.

Auch wenn Washington das Gegenteil behauptet – die Taliban, die aufgrund ihrer Politik gegen Frauen, ihrer Einstellung zu den Menschenrechten und ihrer anhaltenden Protektion von Bin Laden überall auf der Welt in Misskredit geraten sind, bleiben nach wie vor Gesprächspartner der Vereinigten Staaten. Am 27. September 2000 hält der stellvertretende Außenminister der Taliban-Regierung, Abdur Rahmin Zahid, sogar einen Vortrag im Washingtoner Middle East Institute. Darin fordert er die politische Anerkennung seines Regimes und gibt zu verstehen, dass unter dieser Voraussetzung auch der Fall Bin Laden geregelt werden könnte.11

Am 30. September findet auf Initiative der Iraner eine neue Verhandlungsrunde in Zypern statt. Anwesend sind diesmal auch Anhänger des ehemaligen „Schlächters von Kabul“, Gulbuddin Hekmatjar, jenes Fundamentalislamisten, der früher von den Amerikanern und den Saudis gegen die Sowjets unterstützt wurde und der sich inzwischen im iranischen Exil aufhält. Bei dem Treffen knüpft die Nordallianz vor allem Kontakte zu den Delegierten aus Rom, die unter dem Banner von Exkönig Sahir Schah auftreten. Diese Kontakte führen am 6. April 2001 zu einem ersten gemeinsamen Treffen zwischen der „Initiative von Rom“, die eine Loja Dschirga unter der Schirmherrschaft des ehemaligen Monarchen befürwortet, und der „Initiative von Zypern“ unter Federführung der Iraner. Obwohl mit den Pro-Iranern keine Übereinstimmung zustande kommt, einigen sich die übrigen Gruppierungen darauf, erneut zusammenzukommen.

Am 3. November 2000 gibt Vendrell öffentlich bekannt, dass die beiden gegnerischen Parteien, die Taliban und die Nordallianz, gemeinsam einen Friedensplan unter Schirmherrschaft der Sechs-plus-Zwei-Gruppe geprüft haben.12 Zur selben Zeit bewirken die internationalen Sanktionen, dass die Taliban zunehmend unter Druck geraten. Die wachsende Anspannung im Lager der Taliban führt im Frühjahr 2001 zur spektakulären Zerstörung der Buddhastatuen von Bamian. Unterdessen ist die Sechs-plus-Zwei-Gruppe in eine neue Phase eingetreten, die entscheidende, wie die Amerikaner glauben. Insgeheim wird eine Untergruppe – „auf Ebene zwei“ – ins Leben gerufen, von der man sich eine größere Effizienz erwartet. Sie setzt sich aus Diplomaten oder Experten zusammen, die erst jüngst in der Region tätig waren. Unter der Hand wird sie von den jeweiligen Staatskanzleien der Delegierten geleitet. An den in Berlin stattfindenden Treffen nehmen nur die Vereinigten Staaten, Russland, Iran und Pakistan teil.

Der Runde gehören unter anderen folgende Delegierte an: Robert Oakley, ehemaliger US-Botschafter in Pakistan und Unocal-Lobbyist;13 Niaz Naik, ehemaliger Außenminister Pakistans, spezialisiert auf schwierige Geheimverhandlungen im Auftrag seines Landes; Tom Simons, ehemaliger US-Botschafter und letzter offizieller Unterhändler mit den Taliban; Nikolai Kosyrew, ehemaliger russischer Sonderbeauftragter in Afghanistan; Sayid Rajai Khorassani, früher UNO-Botschafter Irans.

Jackpot für die Taliban

AUF den beiden ersten Treffen im November 2000 und März 2001, bei denen direkte Verhandlungen zwischen den Taliban und der Nordallianz vorbereitet werden, erörtern die Teilnehmer mögliche politische Anstrengungen, die den Taliban einen Ausweg aus der Sackgasse weisen könnten. Naik: „Wenn wir von Anstrengung sprachen, so wollten wir antworten auf das, was sie uns sagen könnten hinsichtlich ihrer Haltung, ihrer tatsächlichen Einstellung zum internationalen Friedensplan, zu einer erweiterten Regierung oder zu den Menschenrechten usw. Des Weiteren hätten wir mit ihnen diskutieren und sie davon überzeugen müssen, dass sie, sollten sie all das einhalten, nach und nach den ‚Jackpot‘ gewinnen könnten, das heißt von der internationalen Gemeinschaft etwas als Gegenleistung erhalten würden.“

Sollten sich die Taliban bereit erklären, so die bei dem Treffen anwesenden Pakistani, die Menschenrechtsfrage „innerhalb von zwei oder drei Jahren“ zu überdenken und eine gemeinsame Übergangsregierung mit der Nordallianz zu akzeptieren, würden sie massive internationale Hilfe finanzieller wie technischer Art für den Wiederaufbau des Landes erhalten. „Dabei dachten wir natürlich“, so Naik, „an die Wiederherstellung von Frieden und Stabilität, aber auch an die Erdgasleitung. Vielleicht könnte man die Taliban überzeugen, dass sie davon profitieren werden, wenn erst einmal alles geregelt wäre, wenn die erweiterte Regierung im Amt und die Erdölleitung gebaut wäre: dass dann Milliardenbeträge fließen würden.“ Ein „Jackpot“ fürwahr.

In ihrer Besessenheit hoffen die Amerikaner immer noch darauf, dass ihnen Bin Laden ausgeliefert wird. „Wenn sie [die Taliban] Bin Laden rausrücken oder ernsthafte Verhandlungen aufnehmen würden“, so Tom Simons, „wären wir auch bereit, einen ernsthaften Wiederaufbauplan zu starten.“ Daran hat das State Department in Washington ein um so größeres Interesse, als inzwischen eine neue Regierung angetreten ist, in der Vertreter der Ölindustrie den Ton angeben, allen voran Präsident George W. Bush selbst. Die neuen Verhandlungen mit den Taliban werden Christina Rocca anvertraut, die Karl Inderfurth als Sonderbeauftragten für Südasien abgelöst hat. Mit Afghanistan kennt sie sich aus. Das Land fiel von 1982 bis 1987 in ihren Zuständigkeitsbereich – bei der CIA.

Bereits am 12. Februar 2001 versichert die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, dass die Vereinigten Staaten – auf Bitten von Francesc Vendrell hin – versuchen werden, mit den Taliban in einen „dauerhaften“ Dialog auf „humanitärer“ Basis zu treten.14 Die Amerikaner sind damals so sehr vom Zustandekommen der Verhandlungen überzeugt, dass das FBI seine Untersuchung über eine mögliche Beteiligung Bin Ladens (und seiner Taliban-Komplizen) am Anschlag auf den amerikanischen Zerstörer USS „Cole“ am 12. Oktober in Aden auf Veranlassung des State Department einstellen muss. Und am 5. Juli lässt man John O’Neil, den „Mister Bin Laden“ des FBI, sogar aus Jemen ausweisen, um ihn an weiteren Untersuchungen zu hindern.15

Ein drittes Treffen findet zwischen dem 17. und 21. Juli, wiederum in Berlin, statt; diesmal in Anwesenheit der Außenminister der gegnerischen Parteien: Mullah Mutawakil von den Taliban, Abdullah Abdullah von der Nordallianz. Kurz zuvor, zu Beginn des Monats, gab es in Weston Park bei London ein Geheimtreffen der 21 Länder „mit Einfluss in Afghanistan“. Dabei einigte man sich auf die Kompromisslösung im Zusammenhang mit Exkönig Sahir Schah, die vor allem bei den Vertretern der Nordallianz Anklang fand. „Wir mussten den Taliban klar machen“, so Naik, „dass wir, sollten sie nicht kooperieren, immer noch König Sahir Schah als Option hatten.“ Eine Option, die für die gesamte internationale Diplomatie zu einer ernst zu nehmenden Alternative wurde.

Aus dem schönen Plan ist leider nichts geworden. Die Taliban verweigern sich dem Gespräch: Für sie ist die Anwesenheit Vendrells inakzeptabel, da er die Vereinten Nationen repräsentiert, die für die über sie verhängten internationalen Sanktionen verantwortlich sind. Sie wollen nicht gezwungen werden, mit einem unliebsamen Gesprächspartner zu verhandeln.

Nach Aussage von Niaz Naik bringt Tom Simons in dieser Situation eine „offene militärische Option“ gegen Afghanistan ins Spiel, und zwar von Usbekistan und Tadschikistan aus. Das erscheint insofern plausibel, als zwischen Usbekistan und den Vereinigten Staaten ein militärisches Abkommen besteht. Gab es tatsächlich eine so präzise Androhung? US-Botschafter Simons bestreitet dies auf zwei Ebenen: Zum einen war er dort nicht in offizieller Mission und war demnach auch nicht ermächtigt, Drohungen auszusprechen (wobei sich die Frage stellt, ob die Taliban, wenn sie denn gekommen wären, sich tatsächlich von einer halboffiziellen Delegation ohne Kontakt zum State Department zu irgendetwas hätten bewegen lassen). Zum anderen habe er lediglich erklärt, die Amerikaner untersuchten das Beweismaterial in Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Schlachtschiff USS „Cole“, und „wenn sich herausstellen würde, dass Bin Laden dahinter steckte, habe man mit einer Militäraktion zu rechnen“. Dazu ließe sich wiederum anmerken, dass die Amerikaner am 5. Juli eben keine Beweise in der Affäre der USS „Cole“ suchten, weil sie zu diesem Zeitpunkt noch von der Teilnahme der Taliban an den Verhandlungen überzeugt waren.

Ob diese Aussagen übertrieben sind oder nicht, sei dahingestellt, auf jeden Fall werden sie von den Mitgliedern der pakistanischen Delegation ihrem zuständigen Ministerium hinterbracht und vor allem dem Geheimdienst, der sie, wie man sich unschwer vorzustellen kann, seinerseits an die Taliban weitergibt. Ende Juli verbreiteten militärische Kreise in Islamabad Kriegsgerüchte. Einer halboffiziellen Quelle vom Quai d’Orsay zufolge ist nicht auszuschließen, dass der pakistanische Geheimdienst die Worte von Tom Simons aufbauschte, um dadurch Druck auf die Taliban auszuüben und sie zu einer Auslieferung des saudischen Milliardärs zu bewegen. Am 29. Juli kommt es zu einer letzten erfolglosen Unterredung zwischen Christina Rocca und dem Taliban-Botschafter in Pakistan. Damit sind die Verhandlungen beendet. Ab sofort sucht das FBI aktiv nach Beweismaterial gegen Bin Laden.

Noch heute erregt eine Hypothese die Gemüter. Wäre es denkbar, dass Bin Laden von der Kriegsbereitschaft der Amerikaner überzeugt war und sich deshalb zum Erstschlag entschloss? Wie auch immer: Die Kommandos, die die Türme des World Trade Center am 11. September zerstörten, wurden erst Mitte August aktiviert. Drei Tage nach den Anschlägen gab Unocal in einem Kommuniqué bekannt, man werde das ohnehin auf Eis gelegte Pipelineprojekt vorerst nicht weiterverfolgen und lehne es ab, mit den Taliban zu verhandeln; womit der Sturz des Regimes in Kabul und ein politischer Machtwechsel vorweggenommen wird. Einen Monat später beginnen die Vereinigten Staaten mit den Bombardements. Tadschiken und Usbeken „erklären sich bereit“, den US-Streitkräften militärische Einrichtungen zur Verfügung zu stellen, Russland sagt den USA „spontan“ alle nötige Hilfe im Kampf gegen den Terrorismus zu, und die Anti-Taliban-Gruppierungen gelangen zu einer Einigung. Das alles innerhalb von zwei Monaten!

Am 27. November reist US-Energieminister Spencer Abraham mit einem Team aus seinem Ressort nach Russland, um im Schwarzmeerhafen Noworossisk an der Einweihung der Erdölpipeline des Caspian Pipeline Consortium (CPC) teilzunehmen. Die Verbindung, deren Bau 2,5 Milliarden Dollar kostete, wurde von 8 Mineralölgesellschaften in Auftrag gegeben, darunter Chevron, Texaco und ExxonMobil. Ein Neuanfang in den Beziehungen zwischen Russland und den Vereinigten Staaten, wie Abraham erklärt.16 Und ein neuer Vorstoß der Amerikaner zu den gewaltigen Erdölreserven der ehemaligen Sowjetunion.

Zum selben Zeitpunkt wird bei den Afghanistan-Verhandlungen auf dem Bonner Petersberg Hamid Karsai zum Chef der afghanischen Interimsregierung bestimmt. Karsai, so wurde bei dieser Gelegenheit bekannt, fungierte bei den Verhandlungen über die afghanische Pipeline als Berater im Auftrag von Unocal.17

dt. Matthias Wolf

* Journalist, Autor von „Un rocher bien occupé“, Paris (Seuil) 2001.

Fußnoten: 1 „Pièces à conviction“, France 3, 18. Oktober 2001. 2 Nadschibullah wurde auf äußerst grausame Weise ermordet, nachdem die Taliban in das UNO-Gebäude eingedrungen waren. 3 John J. Maresca, US House of Representatives, Committee On International Relations, Subcommittee On Asia and the Pacific, 12. Februar 1998. 4 In Partnerschaft mit der saudischen Delta Oil. 5 Olivier Roy, „Die Taliban als Wächter der Scharia und der Pipeline“, Le Monde diplomatique, November 1996. 6 „Pièces à conviction“, a. a. O. 7 Financial Times, London, 3. Oktober 1996. 8 Strobe Talbott, „US policy toward Central Asia and the Caucasus“, The Central Asia Institute, Montana (USA), 21. Juli 1997. 9 UN-Sicherheitsrat, S/PRST/1998/22, New York, 14. Juli 1998. 10 Ägypten, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Iran, Italien, Japan, Kasachstan, Kirgisistan, Niederlande, Pakistan, Russland, Saudi-Arabien, Schweden, Tadschikistan, Türkei, Turkmenistan, USA und Usbekistan sowie die Organisation der Islamischen Konferenz. 11 UPI, 27. September 2000. 12 UN-Sicherheitsrat, 3. November 2000. 13 Auf Oakley folgte im März 2001 Karl Inderfurth. 14 Nancy Soderberg, US-Mission bei den Vereinten Nationen, New York, 12. Februar 2001. 15 O’Neil übernahm Ende August den Posten des Sicherheitschefs im World Trade Center, wo er am 11. September umkam. 16 US Department of Energy, 27. November 2001. 17 Le Monde, 5. Dezember 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von PIERRE ABRAMOVICI