11.01.2002

Die Hölle für die anderen

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Die Hölle für die anderen

DIE apokalyptische Vision der al-Qaida lässt sich mit den Versprechungen anderer Sekten vergleichen, die private Heilserwartungen bedienen. Die islamistischen Terroristen bieten statt politischer Analysen nur religiöse Beschwörungsformeln. Ihre Rekrutierungserfolge verdanken sie auch dem Scheitern anderer Ideologien wie der des arabischen Sozialismus. Die Mitglieder der al-Qaida haben kein Programm für bestimmte muslimische Länder. Als „Heimatlose wider Willen“ kennen sie kein Vaterland. Viele von ihnen sind Produkte der Globalisierung, die es in „den Westen“ verschlagen hat, ohne dass sie dort reüssieren konnten.

Von PIERRE CONESA *

Schon vor dem 11. September waren alle Bestandteile der Tragödie vorhanden. Doch wie alle strategischen Revolutionen führten die Attentate nur die bereits im Keim vorhandenen Tendenzen und Entwicklungen synergetisch zusammen. Einen entscheidenden strategischen Wandel stellen sie auch deshalb dar, weil sie zum ersten Konflikt zwischen einem Staat und einer Sekte geführt haben: zum ersten Krieg, bei dem es keine Front gibt und der nicht auf territoriale Eroberungen, sondern auf die physische Vernichtung des Anderen aus ist. Insofern zwingt uns die strategische Revolution, die diesen Krieg bewirkt hat, zu einer umfassenden Überprüfung der Konzepte, auf die sich die westlichen Analytiker bislang stützten

Nur wenige Beobachter haben die Entwicklungen in der islamischen Welt vor dem Hintergrund jener Sektenphänomene analysiert, die sich seit einigen Jahrzehnten in der modernen Welt ausbreiten. Der Islam lässt den Gläubigen einen großen Spielraum religiöser Auslegung und betrachtet die islamistische Erscheinungsform der jüngsten Zeit keineswegs als sektenhaft. Gleichwohl gibt es zahlreiche Merkmale, die erlauben, al-Qaida mit gewissen Sekten zu vergleichen, zum Beispiel was ihre apokalyptische Tendenz und ihre todbringende Dimension betrifft.

Der Chef von al-Qaida bedient sich bei all seinen Äußerungen ausschließlich religiöser Bilder. In seiner vom katarischen Sender al-Dschasira ausgestrahlten Rede vom 7. Oktober spricht Ussama Bin Laden – als Ersatz für jedes Argumentieren – vor allem darüber, dass die „islamische Nation seit achtzig Jahren erniedrigt und missachtet wird“. Damit bezieht er sich nicht etwa auf Palästina oder Irak, sondern auf die Abschaffung des Kalifats durch Atatürk im Jahre 1924. Und weiter: „Amerika wird nicht in Frieden leben, solange in Palästina kein Frieden herrscht (sprich: solange Jerusalem nicht befreit ist) und die gesamte Armee der Ungläubigen das Land Mohammeds (sprich: Saudi-Arabien) nicht verlassen hat.“ Mit keiner Silbe dagegen erwähnt er regionale politische Gegebenheiten wie die Lage in Algerien oder konkrete Forderungen wie die Aufhebung des Embargos gegen den Irak.

Als Anhänger des salafistischen Sunnismus bezieht sich Bin Laden auch nicht auf die uneingeschränkte Solidarität unter Muslimen: Dass der Kommandant Massud ebenfalls Muslim ist, hindert ihn nicht daran, diesen zu ermorden, und er sucht auch keine Unterstützung beim iranischen Regime, das zwar durch und durch islamistisch, aber eben schiitisch ist.

Diese Form der Religiosität mündet in eine apokalyptische Sichtweise, von der das Denken des Al-Qaida-Führers völlig durchdrungen ist. Das Politische ist auf das absolute Minimum reduziert. In den „Militärstudien des Dschihad gegen die Tyrannen“, einem etwa 200-seitigen Dokument, das im Mai 2000 in Großbritannien auftauchte, heißt es: „Der Märtyrer [. . .] sorgt für die Verwirklichung der Religion Allahs des Allmächtigen auf Erden.“1 Wie in allen Verlautbarungen von Sekten überdeckt das Religiöse das Politische und macht es überflüssig, indem die rasche Verwirklichung des Paradieses auf Erden verkündet wird.

Diese neue Form des radikalen Islamismus hat ihre Ursache gewiss im Scheitern einer Reihe von politischen wie ideologischen Konzepten: dem Ende der Dritte-Welt-Bewegung, dem Zusammenbruch des arabischen Sozialismus, der Aussichtslosigkeit des politischen Islam.2 Ebenso spielt eine Rolle, dass die offiziellen religiösen Autoritäten in der arabischen Welt durch die jeweils herrschenden Regime „nationalisiert“ wurden (etwa in Saudi-Arabien oder in Ägypten mit der Al-Azhar-Universität).

Hinter den Attentaten von New York und Washington stehen im Übrigen keine Forderungen, die Verhandlungen mit „dem Anderen“ einleiten sollen. Keiner der am 11. September umgekommenen Terroristen hat eine militante Vergangenheit, keiner gehörte einer Partei des politischen Islam an. Ähnlich wie Trotzki den „Sozialismus in einem Land“ ablehnte, ist für Bin Laden der Islamismus in einem Land nicht vorstellbar. Er verfolgt keine nationale Strategie, weil er auf Allahs Triumph über die ganze Erde hinarbeitet.

Ein weiteres sektiererisches Merkmal dieser Form von Islamismus ist die mörderische Tendenz. Die Selbstmordattentate der Hamas sind kein Einzelbeispiel. Die blindwütigen Massaker an Frauen und Kindern, die in Algerien von den Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) oder der „Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC) verübt wurden, suchen keine politische oder strategische Legitimität, sie sind zur Methode des Kriegs selbst geworden. Ebenso schwebt Bin Laden ersichtlich der Begriff des Märtyrers vor, der für seinen schiitischen Glauben stirbt, nach dem Vorbild der „Bassidschi“ – jener jugendlichen Kämpfer, die vom Regime des Ajatollah Chomeini während des Kriegs gegen Irak an der Front geopfert wurden. 3

Sämtliche Attentate, die auf das Konto von al-Qaida gingen, forderten das Leben von einem oder mehreren eigenen Männern. Der gewaltsame Tod als Bedingung für den privilegierten Eintritt des Gläubigen oder Kämpfers ins Paradies findet sich auch bei den kollektiven Selbstmorden von Sekten (Volkstempler in Guyana, Sonnentempler in der Schweiz), die Bestrafung von Verrat bei politischen (japanische Rote Armee oder tamilische Befreiungstiger in Sri Lanka) oder religiösen Sekten (japanische Aum-Sekte). Unschuldige Opfer sind für das Erreichen dieses jenseitigen Ziels offenbar unvermeidlich. Das Testament im Gepäck von Mohamed Atta lässt keinerlei Mitleid mit künftigen Opfern erkennen, die gelegentlich auch als „Feinde“ bezeichnet werden, da sie ja keine Muslime sind.

Andererseits sind nach den Vorstellungen der Aum-Sekte, die am 20. März 1995 den ersten Giftgasanschlag in der U-Bahn von Tokio verübte,4 sowohl die Märtyrer als auch deren Opfer für den Einzug ins Paradies vorbestimmt. Manche der zahllosen chiliastischen Sekten, die es heute weltweit gibt, sind sogar vom Mythos der magischen Unbesiegbarkeit durchdrungen: So laufen die Kämpfer des Holy Spirit Movement in Uganda vor die Gewehre, weil sie überzeugt sind, unter göttlichem Schutz zu stehen und unverwundbar zu sein.

Die Dimension der wahren Parusie5 besitzt die Sekte allerdings erst, wenn sie über einen Guru verfügt. Der al-Qaida-Führer wird von seinen Anhängern „Scheich Ussama“ oder „Emir Bin Laden“ genannt, denn seine religiösen Kenntnisse sind nicht so weit ausgebildet, dass er Anspruch auf einen Status als Glaubenslehrer erheben könnte.6 Doch in den Videoaufnahmen, die er dem Sender al-Dschasira zukommen ließ, zögert der Mann nicht, vor einer Höhle zu posieren: eine eindeutige Anspielung auf Mohammed nach der Vertreibung aus Mekka. Wenn es Bin Laden schon versagt ist, als Gott aufzutreten, so kann er sich doch implizit mit dem Propheten im Exil, mit Saladin im Kampf gegen die Kreuzfahrer oder mit Hassan Sabah, dem „Alten vom Berge“, Anführer der Sekte der Assassinen, gleichsetzen.

Die Ideologie Bin Ladens beruht im Übrigen auf der intellektuellen Bequemlichkeit eines bedenkenlosen Rassismus. Die Feinde sind „die Kreuzfahrer und die Juden“, “die Heuchler und die Ungläubigen“, wie die Fatwa beweist, die 1998 zur Unterstützung von Scheich Abdul Rahman verkündet wurde, nachdem ein US-Gericht diesen wegen des ersten Anschlags auf das World Trade Center verurteilt hatte. „Jeder Muslim“, heißt es dort, „ist aufgerufen, amerikanische Staatsbürger zu töten, egal ob Soldaten oder Zivilisten.“ Hier finden sich dieselben Vereinfachungen wie in den Reden von Khaled Kelkal, einem der Urheber der 1995 in Frankreich verübten Anschläge: Für ihn haben die Juden den Schiismus erfunden, um den Sunnismus zu schwächen.

Dieser Rassismus äußert sich auch in dem antisemitischen Topos, wonach die Juden die Finanzwelt beherrschen. Die Anschläge richteten sich ja nicht etwa gegen den Vatikan, die Knesset oder die Freiheitsstatue, sondern (zum zweiten Mal) gegen die Zwillingstürme des World Trade Center, was eher für Feindschaft gegen die Globalisierung steht als für einen Religionskrieg. In derselben Videoaufnahme bezeichnete Bin Laden die USA als „Symbol des modernen Heidentums“. Dieser Mischmasch aus theologischen Versatzstücken und Elementen von Globalisierungskritik symbolisiert die tiefe Schizophrenie, in der sich die saudische Gesellschaft befindet: Im Ausland lebt sie all das aus, was sie sich zu Hause versagt; im „Anderen“, vor allem im Amerikanischen, sieht sie eine Hölle, die dem Paradies sehr ähnlich ist, das den Kämpfern verheißen wird: mit Alkohol und Frauen, die den Märtyrer erwarten (wie aus dem in Mohammed Attas Gepäck gefundenen Dokument hervorgeht).

Die Kämpfer von al-Qaida kommen aus drei Generationen. Die Gründerväter sind Veteranen des Afghanistankriegs, die aus dem Nahen Osten stammen (Bin Laden und seine rechte Hand, Ayman al-Zawahiri). Eine zweite Generation, die ab 1992/93 in den Einflussbereich der Sekte geriet, trat beim Anschlag auf das World Trade Center vom Februar 1993 in Erscheinung (etwa Ramzi Ahmed Yusuf). Es handelt sich um Heimatlose wider Willen, die wegen der unterschiedlichen Nationalität ihrer Eltern zu den Sans-papiers des Nahen Ostens wurden, also keine Palästinenser, sondern Leute, die aus Pakistan, den Philippinen oder ostafrikanischen Ländern stammen (wie Zacarias Mussawi, Samir al-Jarrah usw.) und durch ihren Aufenthalt im Westen radikalisiert wurden. Der Eintritt in die Sekte bedeutet – ein klassisches Phänomen – den Bruch mit der Familie, dem Gastland wie dem Heimatland und den Beginn einer neuen Identität: „Ich bin weder Franzose noch Algerier, ich bin Muslim“, verkündete Khaled Kerkal.

Für einige handelt es sich um eine Reise ohne Wiederkehr, denn zu Hause wartet auf sie das Gefängnis oder gar der Tod. Afghanistan wurde zur letzten Zuflucht von Männern, die fliehen mussten oder wollten. Für sie war der Märtyrertod der Königsweg, um aus dieser Sackgasse zu entkommen. All diese unbehausten und opferbereiten Menschen gingen durch die Hände von Bin Laden, dem es die Taliban überließen, Nichtafghanen zu rekrutieren. Diese Generation, die das Scheitern der islamistischen Parteien in den verschiedenen Ländern miterlebt hat, schließt sich dem Kampf gegen den neuen, viel gestaltigen Feind an – gegen „der Westen“. Die vielen Saudis unter den Attentätern des 11. September – 12 der 19 Terroristen – zeugt von der schweren politischen und moralischen Krise, die dieses Land erfasst hat. Diese Männer aus führenden Familien und mit Hochschulabschluss erinnern an die russischen Nihilisten: Sie bilden eine Intelligenzija, die das Volk mit Mordanschlägen provozieren und aufrütteln will.

Der dritte Kreis von Attentätern besteht aus jungen Rebellen – Franzosen oder Immigranten –, die sich vor rund dreißig Jahren einer maoistischen Bewegung wie der „Gauche prolétarienne“ angeschlossen hätten und heute zum Islam übertreten, wie der junge Taliban-Kämpfer US-amerikanischer Herkunft, der unter den meuterernden Gefangenen von Masar-i Scharif entdeckt wurde.

Sie sind nicht staatenlos, sondern besitzen mehrere Pässe wie der wegen der Attentate von 1998 verurteilte Libanese und US-Bürger Wadih al-Hage.

Häufig handelt es sich um Leute, deren sozialer Aufstieg jäh unterbrochen wurde und die sich aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus radikalisieren. Das trifft etwa auf die Attentäter von 1995 zu: Zacarias Mussawi, Kamel Daoudi und Khaled Kelkal. Rekrutiert werden solche Aktivisten in bestimmten großen Moscheen des Westens, vor allem dort, wo diese in der Hand der radikalen fundamentalistischen Organisation „Tabligh“ („Verkündigung“) sind, also etwa Finnsbury Park, Mantes-la-Jolie, Brooklyn).

Al-Qaida ist eine Art Holdinggesellschaft mit einem Aufsichtsrat (schura) an der Spitze, dem Vertreter verschiedener Terrorbewegungen angehören. Es handelt sich um einen totalitären Quasistaat mit verschiedenen Unterabteilungen, die alle seine lebenswichtigen Funktionen organisieren: Ideologie, Medien, Verwaltung und Militär. Diese Struktur gewährleistet sämtliche im Zusammenhang mit terroristischen Operationen nötigen Leistungen (wahrscheinlich sogar einschließlich der Hinterbliebenenversorgung für die Familen der Märtyrer). Dank dieser Struktur können Allianzen gebildet werden – eine Art terroristische Interessengemeinschaft mit anderen Bewegungen, die al-Qaida partnerschaftlich verbunden sind (der ägyptische Dschihad, die philippinischen Abu Sayyaf). Es handelt sich also, wie es Jean-François Daguzan es ausdrückt, um ein terroristisches Franchisesystem.7

Betrachtet man die von Washington veröffentlichte Liste der 27 „Ziele“ im Kampf gegen den Terrorismus, die Mitte Oktober um 39 weitere Ziele erweitert wurde und die Gruppen, karitative Organisationen und Persönlichkeiten benennt, erkennt man die Komplexität des Netzes, das Bin Laden im Laufe der Jahre gesponnen hat.

Und natürlich gebietet auch al-Quaida – wie jede ordentliche Sekte – über eine finanzielle Organisation, die Spenden einsammelt und Gelder diskret verschwinden lässt – wie die großen islamischen Stiftungen, zum Beispiel al-Barakat.

So ist auch der Islam, nicht anders als alle anderen Religionen, von der Krankheit des Sektierertums befallen, die seine mannigfachen unangenehmen Seiten herauskehrt und ins Exzessive steigert. Kein Wunder also, dass al-Qaida die Vereinigten Staaten, offizielle muslimische Autoritäten, Israel, die UNO, die Globalisierung und überhaupt alles in einen Topf wirft und gleichermaßen verurteilt.

dt. Matthias Wolf

* Hoher Beamter in Paris.

Fußnoten: 1 Zitiert nach The International Herald Tribune, 29. Oktober 2001. 2 Siehe Olivier Roy, Gilles Kepel: „Débat sur la fin de l’islam politique“, Paris (Esprit), August/September 2001. 3 Sehr gut analysiert von Farhad Khoskhokavar (Cavard) in einer Studie mit dem Titel „Les nouvelles formes de la violence“, Cultur et conflits Nr. 29/30 Paris (L’Harmattan) 1997. 5 Parusie (griech. „Anwesenheit“, „Ankunft“), das Hervortreten der verborgenen Gottheit; das zweite Erscheinen Christi („Wiederkunft“) am Jüngsten Tag zur Abhaltung des Endgerichts; Beginn der endgültigen Gottesherrschaft (zitiert nach Brockhaus). 6 Interview mit Bin Laden von Hamid Mir, Chefredakteur der pakistanischen Zeitung Aussaf, zitiert in Libération, Sondernummer, 21. September 2001. 7 „L`Hyper-terrorisme“. Eine Veröffentlichung der Fondation pour la recherche stratégique, Paris (Odile Jacob) 2001.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2002, von PIERRE CONESA