Die Exekutive marschiert
UNILATERALISMUS nach außen, Autoritarismus nach innen lautet die Zwischenbilanz des Kriegs der USA gegen den Terrorismus. Anders als die Europäische Union erhoffte, verweigert die Bush-Regierung jede multilaterale Zusammenarbeit bei der Biowaffen-Konvention, der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs. Und innenpolitisch nutzt sie die Volksstimmung, um die Macht der Exekutive auszubauen. Dass damit der Rechtsstaat lädiert wird, kann Präsident Bush nicht irritieren. Als Stellvertreter des Guten auf Erden hat er ein unfehlbares Argument: „Wie immer unsere militärgerichtlichen Verfahren aussehen, unser System wird fairer sein als das von Bin Laden und den Taliban.“
Von PHILIP S. GOLUB *
Seit Ende des Vietnamkriegs träumt die amerikanische Rechte von einer Restauration der imperialen Größe ihres Landes. Die „konservative (Gegen-)Revolution“ der Achtzigerjahre hatte nicht nur eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik im Sinn. Sie wollte auch den gebeutelten Patriotismus reaktivieren, die militärische Ehre der USA wiederherstellen und der Exekutive die Handlungsautonomie zurückgeben, die sie nach dem Fall Saigons und der „Watergate-Affäre“ weitgehend an Legislative und Judikative abgetreten hatte. Paradoxerweise neigen im Land des „schwachen Staats“ gerade die schärfsten Verfechter des Föderalismus, sind sie an der Regierung, immer wieder dazu, die bundesstaatlichen Machtmittel, zumal im militärischen Bereich, auszubauen.
Einer der Herolde der Formel „Weniger Staat“ war Ronald Reagan (1980–1988), aber gerade seine Präsidentschaft brachte den umfassendsten Ausbau des US-Militärapparats zu Friedenszeiten, obwohl die Steigerung der Rüstungsausgaben schon unter dem Demokraten Jimmy Carter begonnen hatte.1 Reagans Nachfolger George Bush (1988–1992), der politisch ein kleines Licht, geopolitisch jedoch ein geschickter Stratege war, setzte die begonnene Remobilisierung des nationalen Sicherheitsapparats nach dem Ende des Kalten Kriegs fort. Doch keiner von ihnen schaffte es, das Projekt zu Ende zu führen.
Nun aber scheint die Erneuerung einer starken, auf den nationalen Sicherheitsapparat gestützten Exekutive doch noch Realität zu werden; und dies unter einem Präsidenten, in dem man zunächst eine politisch mittelmäßige und ohnmächtige Figur gesehen hatte. Dank dem unerhörten Verbrechen vom 11. September und dem darauf folgenden Krieg gegen Afghanistan (der dritte Sieg der USA in einem High-Tech-Konflikt binnen zehn Jahren) ist der einstige Provinzgouverneur zum amerikanischen Cäsar aufgestiegen – ein Kunststück, das weder Reagan noch Bush senior fertig brachten. Die Washington Post formulierte es so: „Die Anschläge vom 11. September und der Afghanistankrieg trugen in erheblichem Maß dazu bei, die von der Bush-Administration angestrebte Stärkung der präsidialen Machtbefugnisse zu ermöglichen. [. . .] Präsident Bush genießt eine Machtstellung wie kein Präsident nach Watergate und kommt in dieser Hinsicht sogar Franklin D. Roosevelt nahe.“2
Machtstellung: das Wort ist gut gewählt. Krieg hat von jeher zwei Gesichter, ein innen- und ein außenpolitisches. Bereits Aristoteles betonte, dass Tyrannen mitunter Krieg führen, um ihre Untertanen der Muße zu berauben und ihnen den starken Wunsch nach einem Führer dauerhaft einzuimpfen.3 Bush ist gewiss kein Tyrann, sondern nur der glückliche Gewinner anfechtbarer und angefochtener Wahlen. Auch hat er die Feindseligkeiten nicht eröffnet. Gleichwohl gibt ihm der Krieg, den er als „ewig“ bezeichnet, die nötigen Mittel an die Hand, um die US-amerikanische Machtposition auszubauen und seine persönliche politische Macht zu festigen. Außenpolitisch gibt ihm der Krieg Gelegenheit, erneut die militärisch-technologische Überlegenheit der Vereinigten Staaten zu demonstrieren, den Nutzen militärischer Mittel auch nach dem Ende des Kalten Kriegs vorzuführen – wie sein Vater und Bill Clinton es im Irak gemacht haben – und die strategische Landschaft gründlich umzugestalten. Innenpolitisch gibt ihm der Krieg die Möglichkeit, den „Nationalen Sicherheitsstaat“4 wiederzubeleben, seine Autorität zu stärken und das Zurückdrängen von Legislative und Judikative zu rechtfertigen. Der Exgouverneur, dem man zu Recht autoritäre Neigungen nachsagt, ist auf dem besten Weg, eine starke, geschlossene, autonome und interventionistisch agierende Exekutive aufzubauen.
Indem die beiden Häuser des Kongresses – wobei im Senat die Demokraten die Mehrheit haben – mit der Verabschiedung des „USA Patriot Act“ Ende September 20015 freiwillig auf einen gut Teil ihrer Machtbefugnisse verzichteten, konnte Bush der Exekutive etliche Sondervollmachten verschaffen. So kann er etwa Ausländer ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung heimlich und unbefristet inhaftieren lassen und (aufgrund des Präsidentenerlasses vom 13. November 2001) die Errichtung von militärischen Sondergerichten verfügen. Über 1 200 Personen, die man kurz nach dem 11. September festgenommen hatte, saßen Mitte Dezember noch immer in Haft, ohne dass Genaues über sie oder die gegen sie vorgebrachte Anklage bekannt wäre.6
Weder die Inhaftierten noch ihre Angehörigen erhalten Akteneinsicht. Die ohne Konsultation des Obersten Gerichtshofs eingerichteten militärischen Sondergerichte sind befugt, auf der Grundlage von geheimen Zeugenaussagen und Beweisstücken Haftbefehle gegen „Terroristen“ und „Kriegsverbrecher“ zu erlassen, und diese anschließend abzuurteilen, wobei allein die Exekutive bestimmt, wer als Terrorist oder Kriegsverbrecher zu gelten hat.
Wie die New York Times hervorhob, läuft diese Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze, die theoretisch für alle der Zuständigkeit amerikanischer Gerichte unterliegenden Personen gleichermaßen gelten, auf die „Einrichtung einer parallelen Gerichtsbarkeit“7 hinaus. Während für US-Bürger, auch für Terroristen wie den Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh, weiterhin die normale Justiz zuständig ist, kommen Ausländer künftig vor ein militärisches Sondergericht, gleichviel ob sie ihren Wohnsitz in den USA haben oder nicht. Damit hat die Exekutive aus dem Stand eine rechtsfreie Institution innerhalb des Rechtsstaats geschaffen, die zu allem Überfluss die Macht besitzt, weltweit Nachforschungen anzustellen und zu intervenieren. Mit einem Wort: Das Pentagon könnte Krieg führen, die Schuldigen identifizieren und Recht sprechen.
Die Exekutive hat außerdem ihre innenpolitischen Interventionsmöglichkeiten ausgeweitet. Präsident Bush stellt also, indem er dem Obersten Gerichtshof faktisch sein Amt als höchste Schiedsinstanz nimmt und den Kongress zur Ohnmacht verdammt, grundlegend das Prinzip der Gewaltenteilung in Frage, auf dem die amerikanische Demokratie beruht.
Dieses Abgleiten in den autoritären Staat ist in der jüngeren Geschichte der USA tatsächlich ein beispielloser Vorgang. Nicht einmal auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs war die US-Exekutive so weit gegangen. Damals veranstaltete sie zwar eine regelrechte Hexenjagd, sie übte eine Zensur aus, erstellte schwarze Listen, unterdrückte die Bürgerrechtsbewegung, arbeitete mit staatlicher Geheimhaltung und offenen Lügen, stattete das FBI mit exorbitanten Befugnissen aus und autorisierte illegale Aktionen in den USA wie im Ausland. Doch weder der Korea- noch der Vietnamkrieg – beide begrenzte Kriege – wurden zum Vorwand für eine vom Präsidenten und vom nationalen Sicherheitsapparat kontrollierte Paralleljustiz. Ein rechtsliberaler Leitartikler, ansonsten begeisterter Parteigänger der Republikaner, geißelte die jüngsten Beschlüsse denn auch als „diktatorische Machtergreifung“.8 Der kritische Essayist und Wissenschaftler Chalmers Johnson gelangt in einem Gespräch zu einem ähnlichen Befund. Er spricht von einem „verkappten militärischen Staatsstreich, der sich womöglich als irreversibel erweisen und das ganze Land nach DDR-Vorbild in eine Nation von Denunzianten verwandeln könnte, in der sich nur noch weiße Mormonen sicher fühlen können“.
Rhetorik der permanenten Mobilisierung
DIESES Urteil mag überspitzt klingen, doch es erscheint offenkundig, dass Bushs Ultrasicherheitsstaat der politischen Tradition Amerikas zutiefst widerspricht und sich nur unter der Bedingung eines fortwährenden Kriegs institutionalisieren lässt. Genau dies ist wohl der verborgene Sinn der Kriegsrhetorik einer imperial eingestimmten Präsidentschaft. Dass der 11. September den Beginn eines neuen Weltkriegs markiere und das „Pearl Harbor“ des 21. Jahrhunderts darstelle, kann nur bedeuten, dass der weltweite Kampf gegen den Terrorismus räumlich und zeitlich unbegrenzt sein wird.
Räumlich unbegrenzt, weil nach Abschluss des Afghanistanfeldzugs eine „zweite Phase“ beginnen soll. Schon seit Ende September war die Rede von Militäraktionen gegen Länder im Nahen Osten, in Asien, Afrika und Lateinamerika, die angeblich geheimen Terroristenzellen Unterschlupf bieten. Auf den Philippinen sind die US-Spezialisten schon am Werk, ihr Expertenwissen in Sachen Aufstandsbekämpfung anzuwenden, und auch in Somalia werden sie bald sein, wo den Vereinigten Staaten nach Unterzeichung eines entsprechenden Abkommens die Nutzung des Hafens von Berbera gestattet sein wird. Danach steht die dritte Phase ins Haus, in der gefährlichere Gegner wie Irak ins Visier rücken.
Auch zeitlich soll der Krieg unbegrenzt sein. Die Bush-Administration lässt ständig verlauten, der Kampf werde sich lang, vielleicht sogar endlos hinziehen. Nach der Eliminierung von Ussama Bin Laden werde man sich um die weltweiten Al-Qaida-Netze kümmern müssen. Anschließend wird man sich den Nachfolgeorganisationen widmen müssen, denn die Bekämpfung des Symptoms hat das Übel noch nie kuriert. Einige haben sogar die albtraumhafte Vision eines Krieges, der fünfzig Jahre dauern soll, jedenfall „länger, als wir leben“, wie Vizepräsident Richard Cheney meint, der sich seit dem 11. September in einem geheimen Bunker in der Nähe von Washington versteckt. Nach dem Vorbild des so genannten Kalten Krieges, der vierzig Jahre gedauert hat, sollen dabei „sämtliche Ressourcen staatlicher Macht“ zum Einsatz kommen.
Diese abgestimmte und immer gleiche Rhetorik richtet sich an die Öffentlichkeit sowohl der USA als auch der ganzen Welt. Sie zielt darauf, die Bevölkerung auf einen Zustand permanenter Moblisierung und einen unanfechtbaren Führer einzuschwören. Der allerdings könnte es schon bald nach Beendigung des aktuellen Konflikts – des Afghanistankriegs – mit einer Wahlbevölkerung zu tun bekommen, deren Unzufriedenheit über die immer schwierigere Wirtschaftslage bedenklich anwächst.
Zum Beispiel kommen die staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft – in denen naive Geister schon die „Rückkehr des Politischen“, einer von weltwirtschaftlichen Zwängen endlich befreiten politischen Handlungsfähigkeit, erkennen wollten – einstweilen nur den Großkonzernen und dem militärisch-industriellen Komplex zugute, die naturgemäß zu den Stützpfeilern republikanischer Präsidentschaft zählen. So machte die Regierung zig Milliarden Dollar in Form direkter und indirekter Wirtschaftsbeihilfen locker, darunter etwa 15 Milliarden direkte Zahlungen an die Fluggesellschaften, 25 Milliarden indirekte Subventionen in Form von nachträglichen Steuergeschenken an alle Unternehmen und 20 Milliarden direkte Transferzahlungen an das Pentagon (dessen Budget auf 329 Milliarden Dollar steigt).
Dagegen sind die arbeitende Bevölkerung und die Arbeitslosen, deren Zahl wächst (5,6 Prozent der Erwerbsbevölkerung), bislang leer ausgegangen. Wie Dick Armey, der Vorsitzende der republikanischen Fraktion im Repräsentantenhaus, mit dankenswerter Deutlichkeit verkündete, ist Arbeitslosengeld mit dem „amerikanischen Geist“ unvereinbar. Dabei ist jetzt schon klar, dass die Arbeitslosigkeit durch die anhaltende Rezession bis zu den Kongresswahlen in diesem Jahr und den Präsidentschaftswahlen 2004 weiter ansteigen wird.
Ohne permanente politische Mobilisierung wird Bush es also schwer haben, sein Programm durchzuziehen. Vielleicht hat er den Afghanistankrieg auch zu schnell gewonnen. Es könnte durchaus sein, dass die Amerikaner der neuen imperialen Präsidentschaft schon bald überdrüssig werden.
dt. Bodo Schulze
* Dozent an der Universität Paris-VIII, Journalist.