Ökonomischer GAU in Argentinien
ALS der Internationale Währungsfonds am 5. Dezember 2001 der argentinischen Regierung einen weiteren Kredit verweigerte, stürzte das mit 132 Milliarden US-Dollar verschuldete Land in die tiefste Krise seiner Geschichte. Die Bevölkerung trotzte den neuen Austeritätsmaßnahmen, und Präsident Fernando de la Rúa musste demissionieren. Sein Nachfolger Adolfo Rodríguez Saá verkündete die Aussetzung des Schuldendienstes, aber auch die Sperrung der privaten Bankkonten. Daraufhin musste auch er dem Volkszorn weichen. Zehntausende demonstrierten in der Hauptstadt und in den Provinzen. Der neue Präsident Eduardo Duhalde versucht einen Kurswechsel und wertet den Peso gegenüber dem Dollar um 40 Prozent ab. Das wirtschaftliche Desaster ist zugleich ein Bankrott der korrupten politischen Klasse, die das Vertrauen ihrer Wähler längst verspielt hat.
Von CARLOS GABETTA *
Ein Modellversuch ist gescheitert. Argentinien ist explodiert. Manche Beobachter waren ohnehin erstaunt, dass eine Gesellschaft mit so langer kämpferischer Tradition und einem so hohen politischen und gewerkschaftlichen Organisationsniveau so erstaunlich passiv geblieben ist. Früher rebellierten die Argentinier schon bei viel geringeren Anlässen als der unerträglichen Situation, der sie in jüngster Zeit ausgesetzt sind: Die Arbeitslosenrate liegt bei 20 Prozent, 14 Millionen von 37 Millionen Argentiniern leben unterhalb der Armutsgrenze, die Kaufkraft ist in den letzten fünf Jahren um fast 50 Prozent gesunken.
Bis zum 19. Dezember 2001, an dem zehntausende Bürger spontan auf die Straße gingen, schien die Gesellschaft jedoch wie betäubt zu sein – außerstande, ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Mit der Erinnerung an die blutige Militärdiktatur (1976–1983), das Fiasko des Falklandkriegs 1982 und die traumatische Hyperinflation von 1989 ließen sich die Bürger von einer politischen Führung erpressen, die ihnen mit der „Rückkehr der Vergangenheit“ – also mit Diktatur und wirtschaftlichem Zusammenbruch – drohte, während sie weiter Punkt für Punkt genau das neoliberale Modell umsetzte, für das die Generäle damals die Weichen gestellt hatten.
Es wird häufig vergessen, dass unter diesem nicht legitimierten Regime – das mehr als 30 000 Menschenleben auf dem Gewissen hat – die Auslandsverschuldung von 8 Milliarden auf 43 Milliarden Dollar angestiegen ist, womit das Land in eine teuflische Spirale geriet. Damals boten der „schmutzige Krieg“ (gegen die Gegner der Diktatur) und die Doktrin der nationalen Sicherheit das geeignete Umfeld für die Vorbereitung des späteren Strukturanpassungsprogramms. Staatschef General Videla, Wirtschaftsminister Martínez de Hoz, ein hoher Beamter des Internationalen Währungsfonds im Dienste des Regimes namens Dante Simone sowie der Präsident der Zentralbank, Domingo Cavallo, zählten damals zu den Hauptakteuren.1
Um die Hyperinflation zu bekämpfen, wandte sich die Regierung des Peronisten Menem im Jahre 1991 an besagten Domingo Cavallo. Mit dem Segen der internationalen Finanzlobby, der Verfechter einer „wirtschaftlichen Revolution“, deren Reformen zu den radikalsten des Subkontinents zählten, setzte Cavallo die Anweisungen der Washingtoner Experten rigoros um: Abbau des öffentlichen Sektors durch Freisetzung von hunderttausenden Beamten, umfassende Privatisierungen, Liberalisierung der Wirtschaft und des Außenhandels, Anhebung der Zinssätze. Cavallo war auch der Erfinder des Konvertibilitätssystems, also der festgeschriebenen Parität von Dollar und Peso, die sich als Hemmschuh für die Exporte herausstellte.
Argentinien erlebt nun das vierte Jahr der Rezession, tausende Unternehmen sind in Konkurs gegangen, und die anderen, die sich noch über Wasser halten können, sind in technologischer Hinsicht hoffnungslos in Rückstand geraten.
Als Fernando de la Rúa am 24. Oktober 1999 zum Präsidenten einer Mitte-links-Regierung gewählt wurde, war die Demokratie nur noch eine elegante Fassade für das Musterland des Neoliberalismus, das von einem unvorstellbar korrupten Verwaltungsapparat regiert wird.2 Am 20. März 2001 wurde Cavallo als Architekt des „Wunders“ der Neunzigerjahre von de la Rúa erneut ins Amt des Finanzministers berufen und vom Parlament mit Sondervollmachten ausgestattet. Drei Monate später ließ er das „Gesetz über ein Nulldefizit“ verabschieden, das den radikalen Abbau der Staatsschulden garantieren sollte. Damit wurden unter anderem die Beamtengehälter und bestimmte Altersrenten im Juli um 13 Prozent gekürzt. Der Haushaltsentwurf für das Jahr 2002 sieht eine Verringerung der Staatsausgaben um 18,6 Prozent – das sind 9,2 Milliarden Dollar – gegenüber dem Jahr 2001 vor.
Aber die Argentinier scheinen nach dieser Kampfansage wieder ihren Selbsterhaltungstrieb entdeckt zu haben. Ihre Massenproteste erzwangen zunächst den Rücktritt des verhassten Finanzministers und anschließend der gesamten Regierung. Schließlich musste auch Präsident de la Rúa am 20. Dezember 2001 seinen Hut nehmen.
Der Aufstand begann, als tausende verzweifelte Erwerbslose – die zum größten Teil schon seit Jahren ohne Beschäftigung und ohne jede ökonomische und soziale Absicherung dastehen –, Supermärkte und Geschäfte plünderten, um sich mit den nötigsten Lebensmitteln einzudecken. Nachdem der Präsident in einer ziemlich absurden Rede beteuert hatte, die Protestkundgebungen seien von den „Feinden der Republik“ angezettelt worden, veranstaltete der verarmte Mittelstand in allen Stadtvierteln und überall im Land seine so genannten cacerolazos, lautstarke „Kochtopfdemonstrationen“3 . Danach strömten sie spontan, wie schon die ersten Demonstranten, auf die Straßen und versammelten sich auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires und vor den Regierungsgebäuden in den einzelnen Provinzen.
Der bemerkenswerte Unterschied zu früheren Protesten besteht darin, dass die Argentinier nicht nur das Wirtschaftsmodell, sondern die gesamte politische und gewerkschaftliche Führung ablehnen – mit sehr wenigen Ausnahmen, wie etwa die Central de los Trabajadores Argentinos (CTA). Während sie früher den Streikaufrufen folgten und in geordneten Reihen unter den Bannern ihrer Gewerkschaften und politischen Organisationen demonstrierten, gingen sie diesmal ganz spontan als einfache Bürger auf die Straße. Bei den Kundgebungen fehlten außer der Nationalflagge alle anderen Fahnen, und zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert sogar die großen peronistischen Trommeln. Die wenigen Politiker, die sich der Menge anschließen wollten, wurden ausgebuht. Schließlich schafften es hunderte von Demonstranten, in das Gebäude des Kongresses einzdringen und das Mobiliar anzuzünden.
Indem die soziale Rebellion auch dem am 19. Dezember verhängten Ausnahmezustand trotzte, verwandelte sich die Wirtschaftskrise auch in eine politische Krise, die leicht zu einer institutionellen Krise führen kann. Argentinien steht am Ende einer Epoche – in einer historischen Situation, die freilich keinerlei Zukunftsperspektive bietet. Die Gesellschaft will die umfassende Korruption des öffentlichen Lebens ganz offensichtlich nicht mehr hinnehmen.4 Sie hat eine Führungsschicht satt, die seit einem Vierteljahrhundert im Luxus lebt, weil sie die Pfründen, die ihr von den Großbanken, den multinationalen Konzernen und den globalisierten Machtzentren gewährt werden, unter sich aufteilen kann. Und dieses Land gilt als Musterschüler des Internationalen Währungsfonds: 90 Prozent seiner Banken und 40 Prozent der Industrie sind in den Händen ausländischer Unternehmen. Die Folgen sind katastrophal.
Seit Beginn der Siebzigerjahre sind die Auslandsschulden von 7,6 auf 132 Milliarden US-Dollar angestiegen (nach manchen Schätzungen haben sie sogar schon 155 Milliarden US-Dollar erreicht), ganz zu schweigen von den 40 Milliarden US-Dollar, die bei Privatisierungen an den Staat geflossen und einfach versickert sind. Die Arbeitslosigkeit ist währenddessen von 3 Prozent auf 20 Prozent gestiegen, die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, wuchs von 200 000 auf 5 Millionen, die der unterhalb der Armutsgrenze Lebenden von 1 Million auf 14 Millionen, und die Analphabetenquote stieg von 2 auf 12 Prozent, der funktionale Analphabetismus von 5 auf 32 Prozent.
Die Vermögen führender Politiker, Gewerkschaftler und Großunternehmer, die in diesem Zeitraum ins Ausland verschoben wurden, werden auf 120 Milliarden US-Dollar geschätzt. Argentinien als Musterschüler des Neoliberalismus stellt demnach ein umfassendes Schulbeispiel dar – im Hinblick auf die verheerenden sozialen Auswirkungen wie im Hinblick auf die unterschlagenen Vermögenswerte.
Der von Cavallo am 1. Dezember 2001 beschlossene Hold-up brachte das Fass zum Überlaufen. Noch vor Jahresende 2001 sollte Argentinien 750 Millionen und bis Jahresende 2002 über 2 Milliarden US-Dollar an Auslandsschulden zurückzahlen. In diesem Sinne verhängte die Regierung „zur Verhinderung der Kapitalflucht“ eine Kapitalverkehrskontrolle: Die argentinischen Bürger sollten pro Woche maximal 250 US-Dollar von ihren Privatkonten abheben dürfen. Diese Maßnahme wurde natürlich erst beschlossen, nachdem die großen nationalen und internationalen Spekulanten 15 Milliarden US-Dollar außer Landes geschafft hatten.5
Mit anderen Worten: Als letzte Stütze des Systems sollen die kleinen und mittleren Anleger herhalten, die heimischen Unternehmen, die hinfort nicht mehr frei über ihre Guthaben verfügen dürften und jeden Tag mehr vor einer Abwertung zittern müssten, die die Ersparnisse eines ganzen Lebens in Spielgeld verwandeln würde. Die Banken nutzen die verzweifelte Lage der Bürger aus, indem sie bei Zahlungen mit Kreditkarten Kommissionen von 40 Prozent für Peso- und 29 Prozent für Dollarbeträge fordern und diese Sätze auch noch zu erhöhen gedenken.6 Mit solchen Maßnahmen werden nach den Millionen bereits verarmter Bürger noch weitere Millionen mittelständischer Existenzen in den Ruin getrieben.
Die tragische Bilanz des Volksaufstands: 31 Tote, die Opfer der polizeilichen Repression wurden, tausende geplünderte Geschäfte, einige verwüstete Viertel in den großen Städten – und eine führungslose Republik.7 Nach vier Tagen hektischer Beratungen ernannte die Bande politischer Wegelagerer, die sich (von wenigen Ausnahmen abgesehen) als Abgeordnete wie als Senatoren im Kongress breit machen, den Gouverneur der Provinz San Luis, Adolfo Rodríguez Saá, zum Interimspräsidenten, der bis zu den für den 3. März geplanten Neuwahlen im Amt bleiben sollte.8 Doch auch das Schicksal von Saá war schon nach wenigen Tagen besiegelt. Zum Jahresende wurde er, nach weiteren Demonstrationen in den Städten, von seiner eigenen peronistischen Partei fallen gelassen. Sein Nachfolger, der Peronist Eduardo Duhalde, musste als Erstes die Dollarparität aufgeben und setzte den Dollarkurs für den Außenhandel und Kapitaltransaktionen auf 1,40 Peso fest. Zudem will er sich in den nächsten drei Monaten um neue Kreditlinien beim IWF bemühen.
Wird die neue politische Führung, zumindest in der ersten Zeit, politische Spaltungen, persönliche Ambitionen und Interessenkonflikte vermeiden und damit ein Minimum an politischer Reputation gewinnen? Es wird keine leichte Aufgabe: Die Wirtschaft ist ruiniert, und die Gesellschaft hat durch ihre Revolte ihre dringenden Forderungen angemeldet.
Nachdem die politische Führung die Krise des ultraliberalen Modells jahrelang geleugnet hatte, muss sie nun unter schwierigsten Bedingungen dessen Scheitern bewältigen: Die Devisenreserven, aus denen Cavallo die Außenschulden bedient hatte, sind praktisch aufgezehrt.9
Die Abwertung des Peso spiegelt eine traurige Wirklichkeit wider. Adolfo Rodríguez Saá hatte noch ein ganzes Paket von Sozialmaßnahmen verkündet, die Aussetzung der Schuldendienstzahlungen bekräftigt und die Einführung einer neuen Währung, des Argentino, angekündigt. Damit hatte er gegen die Abwertung des Peso optiert, um die mit hohen Dollarbeträgen verschuldeten Bürger und heimischen Unternehmen nicht noch stärker in Bedrängnis zu bringen. Aber die Parität war in Wirklichkeit eine Luftnummer: Die Banken verkauften schon längst keine Dollar mehr, und auf der Straße musste man für einen Dollar zwei Peso hinlegen.
Die politische Krise hat die Gefahr sichtbar gemacht, dass es zu anarchischen Verhältnissen kommen könnte. Um das Schlimmste zu verhindern, muss die neue Führung wählen: Vertritt sie multinationale Interessen, wie sie es bisher stets getan hat, muss sie sich auf einen neuen Volksaufstand gefasst machen. Manche Beobachter verweisen beunruhigt auf die Ähnlichkeit der Lage mit der großen Depression der Dreißigerjahre und deren Folgen für die Weimarer Republik.
Dieser Vergleich mag weit hergeholt erscheinen. Doch angesichts der jüngeren Geschichte Argentiniens scheint er gar nicht so übertrieben zu sein: Die Niederlage im Falklandkrieg, die Jahre der Enttäuschung, die schwindende Glaubwürdigkeit der Volksvertreter, der Vertrauensverlust der Institutionen, das Fehlen jeglicher Zukunftsperspektiven, die weltweite Krise: all das hat mit der Zeit zu einem Machtvakuum geführt, das sich mit einem autoritären Regime auffüllen könnte. Dann wäre erneut die Stunde der politischen Abenteurer gekommen.
dt. Andrea Marenzeller
* Chefredakteur von „Le Monde diplomatique“, Edition Cono Sur, Buenos Aires.