Internationaler Druck
ALS größter Produzent von Kernbrennstoff erzeugen die Vereinigten Staaten 90 Prozent der atomaren Abfälle der Welt. Bereits seit einigen Jahren prüfen sie die Möglichkeit, ein einziges zentrales Endlager für sämtliche weltweit anfallenden Abfälle einzurichten, weshalb sie die russischen Atomprojekte mit großem Interesse beobachten. So erfüllen einige Punkte eines neuen Moskauer Gesetzestextes zugleich die Voraussetzungen für einen Export von Brennstoffabfall aus Taiwan in das Atommülllager von Krasnojarsk in Sibirien (die Reaktoren stammen aus den USA, die auch den Brennstoff liefern). Die Verfasser einer Expertise, die im Auftrag des US-Energieministeriums vom Lawrence Livermore National Laboratory erarbeitet wurde, wissen um die Notwendigkeit einer Novellierung der bestehenden russischen Gesetze und vermerken lapidar, dass „mit den betreffenden Vertretern bereits Gespräche geführt wurden“1 .
Sofort nach der Zustimmung durch die Staatsduma am 6. Juni 2001 erklärte das US-Außenministerium die Bereitschaft der USA, mit Russland Verhandlungen aufzunehmen, unterstrich jedoch zugleich, man lehne die Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente ab, da hierbei atomwaffenfähiges Plutonium entsteht. Auch verlangten die Vereinigten Staaten gewisse Garantien, was die Sicherheitsvorkehrungen beim Transport sowie die Verwendung der aus diesem Nukleargeschäft erzielten Gewinne anbelangt. Schließlich forderten sie, Russland müsse seine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie mit so genannten Schurkenstaaten, wie zum Beispiel dem Iran, aussetzen.
Für den Plan eines globalen Endlagers in Russland setzt sich auch der Non-Proliferation Trust (NPT) ein. Gegründet wurde diese Organisation von US-Spezialisten zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen sowie von „amerikanischen und deutschen Industriegruppen, NGOs und einigen früheren amerikanischen Regierungsmitgliedern“2 . Ein vom NPT vorgelegter Plan sieht den Import von 10 000 Tonnen radioaktiven Mülls nach Russland vor. Im Gegenzug würden Gelder für die russische Atomindustrie, zur Dekontamination verseuchter Gebiete und zur Sicherung von Strahlenabfall bewilligt. Das Ganze fiele unter die Kontrolle des Trusts, der garantieren müsste, dass keine Brennelemente wiederaufbereitet werden, kein waffenfähiges Material weiterverbreitet wird und die Gelder nicht zweckentfremdet werden.
Ein russisch-amerikanisches Umsetzungsabkommen zu diesen Verträgen trat am 1. September 2000 in Kraft. Es sieht die Verarbeitung von Plutonium zur Herstellung von Brennelementen aus Mischoxid (MOX) vor, einem Gemisch von Plutonium- und Uranoxid, das in einigen europäischen Kernkraftwerken als Brennstoff verwendet wird. Russland sollte zu diesem Zweck die Hanauer Siemens-Anlage übernehmen, die nie eine Betriebsgenehmigung erhalten hat.3
Doch das Projekt stockt; es fehlt an Kapital. Auch sind jüngst aufgetretene internationale Divergenzen im Spiel, und der Präsidentschaftswechsel in den USA trug zur Verzögerung bei.4 Die MOX-Produktion erbringt mehr Plutonium, als sie verarbeitet. Dennoch hofft Russland, „den geschlossenen Atomkreislauf weiterzuentwickeln“5 .
Neben den Vereinigten Staaten befürwortet auch die Europäische Union den Ausbau der russischen Atomindustrie. Außerdem erwägt die Kommission, Russland für die Entwicklung von MOX-Reaktoren ebenso Hilfen zu gewähren wie für die geplante Laufzeitverlängerung von AKWs der ersten Generation, die bereits dreißig bis vierzig Jahre am Netz sind.6
Unterdessen wächst im Westen der Widerstand gegen die Kernenergie. Italien hat seinen letzten Atommeiler bereits 1988 stillgelegt, Schweden, Deutschland, die Niederlande, Litauen und Großbritannien haben den Atomausstieg beschlossen. Exportiert werden sollen also wohl eher die Überbleibsel einer niedergehenden Industriebranche. Dafür bieten sich offenbar Weltgegenden an, in denen man die Dinge großzügig sieht: wo sich niemand um die Meinung und Gesundheit der Bevölkerung kümmert und der nukleare Müll wie durch Zauberhand verschwindet.
NATHALIE MELIS