Radioaktive Dollars für den wilden Osten
AM 11. Juli 2001 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin drei Gesetzesänderungen, die eine Genehmigung für die Einfuhr atomarer Abfälle beinhalten. Zuvor hatte das russische Unterhaus im Hauruckverfahren den umstrittenen Gesetzentwurf zum Import strahlender Abfälle verabschiedet. Eine Rücknahmeverpflichtung ist darin nicht vorgesehen. Doch wie Umfragen zeigen, lehnt die Bevölkerung diese Importe mit überwältigender Mehrheit ab. Denn die Menschen wissen sehr wohl, wie bedenklich der Zustand der russischen Atomanlagen ist – und wollen nicht recht glauben, dass der Geldsegen, der angeblich bevorsteht, den Menschen im Land zugute kommen könnte.
Von unserer Sonderkorrespondentin NATHALIE MELIS *
„Wir nehmen zwanzigtausend Tonnen ausländische Nuklearabfälle und bekommen dafür zwanzig Milliarden Dollar“ – so lautete die Rechnung des russischen Atomenergieministers Jewgeni Adamow, der im Frühjahr 2001 seinen Posten einbüßte. Kurz vor seiner Demissionierung hatte er noch die Aufhebung des Artikels 50 des russischen Umweltschutzgesetzes durchsetzen können, der den Atommüllimport zum Zwecke der Zwischen- und Endlagerung generell verbot. Seitdem können Länder ihren strahlenden Müll nach Russland expedieren, zum Beispiel Japan, Südkorea, Taiwan und auch einige osteuropäische Staaten. Die Schweiz dagegen scheint sich an die schon 1998 mit Russland unterzeichnete unverbindliche Absichtserklärung halten zu wollen. Auch der deutsche Umweltminister Jürgen Trittin erklärte im Juli 2001, die Bundesrepublik wolle das unverantwortliche Spiel mit der Gesundheit und der Sicherheit der russischen Bürger1 nicht länger unterstützen.
Begonnen hatte der neuerliche Vorstoß2 am 18. Juli 2000, als das Ministerium für Atomenergie (kurz: Minatom) in der Duma drei Novellierungsentwürfe einbrachte. Diese sollten die „Einfuhr von verstrahlten Brennstoffprodukten aus Atomreaktoren ausländischer Staaten und von radioaktiven Brennstäben zum Zwecke der Zwischen- und Endlagerung und zur Wiederaufbereitung“ ermöglichen. Einer der Gesetzentwürfe sieht die Schaffung eines Sonderfonds zur Säuberung der Landstriche vor, die in den vergangenen fünfzig Jahren durch Atomversuche radioaktiv verseucht wurden (siehe Kasten). Dabei versucht das Minatom die Öffentlichkeit mit der Aussicht auf harte Devisen zu ködern: 3,5 Milliarden Dollar sollen in den Staatshaushalt fließen, 7 Milliarden in die Dekontamination und weitere 9 Milliarden in die Entwicklung der Atomindustrie, laut Adamow „der Stolz des Landes“ – und zugleich Unterpfand für Russlands finanzielle Unabhängigkeit.
Wie eine Umfrage des Romir-Instituts im Dezember 2000 ergab, waren 94 Prozent der Russen gegen eine Aufhebung des Importverbots. Dennoch stimmten im selben Monat in erster Lesung 318 Duma-Abgeordnete für den Gesetzentwurf (bei 38 Gegenstimmen);3 am 18. April 2001 wurde dies in zweiter Lesung bestätigt. Erst bei der abschließenden Lesung am 6. Juni schrumpfte die Zahl der Befürworter merklich: 243 Abgeordnete votierten dafür, 125 dagegen.
Daraufhin wanderte das Gesetz in den Föderationsrat (die Vertretung der Regionen). Inzwischen hatten jedoch Gouverneure und Regionalparlamente, die bei der Ausübung ihres politischen Geschäfts um mehr Bürgernähe bemüht sind, ihren Widerstand angekündigt. Der um seine Karriere besorgte Präsident des Föderationsrates, Jegor Strojew, verschob die Abstimmung daraufhin so lange, dass die dem Oberhaus durch die Verfassung gesetzte Frist überschritten wurde. Damit erparten sich die Gouverneure eine offene Konfrontation.
Blieb noch Präsident Putin, der sich bis dahin nicht öffentlich festgelegt hatte. Ehe er die Vorlagen am 11. Juli 2001 unterzeichnete, traf er sich mit einer handverlesenen Gruppe „von Repräsentanten der Gesellschaft“. Im Fernsehen wurden unterdessen immer wieder die segensreichen Wirkungen der Kernenergie gepriesen. Und Putin berief eine Kommission ein, die jedem einzelnen Importgeschäft zustimmen muss. Den Vorsitz erhielt ein offener Befürworter des Projekts, der Physiknobelpreisträger Schores Alferow. Wenn alles gut läuft, verlautete aus dem Ministerium, könne es in drei Jahren losgehen.
Die Kernkraftgegner reagierten prompt, denn der Kreml hatte offenbar schon im Vorfeld versucht, alle Spielverderber des strahlenden Geschäfts matt zu setzen: Im Juni 2000 waren das Staatliche Komitee für Umweltschutz sowie der Föderale Dienst für Forstwirtschaft, einzige Überbleibsel des ehemaligen Ministeriums für den Schutz der natürlichen Ressourcen, per Präsidialerlass dem Ministerium für natürliche Ressourcen angeschlossen worden. Und bereits am 20. Februar 2000 hatte es zeitgleich in mehreren Städten Hausdurchsuchungen bei Umweltorganisationen gegeben. Bei Seljony Mir (Grüne Welt) in St. Petersburg beschlagnahmten die Ermittler Unterlagen über die Atomindustrie. Einen Monat später stürmte die Polizei die Büros von Greenpeace Moskau mit dem Befehl, die Räume wegen angeblichen Steuerbetrugs zu versiegeln – in den Justizbehörden gibt es darüber freilich keinen Vorgang.
Auch der Föderale Sicherheitsdienst FSB, Nachfolger des KGB, setzt Atomkraftgegner unter Druck. Im Dezember 1999 lud er Alissa Nikulina vor. Sie koordiniert die Antiatomaktivitäten des Sozial-Ökologischen Bundes (SOES) und von Ecodefense. Es hieß, man ermittle gegen sie im Zusammenhang mit einer Untersuchung terroristischer Umtriebe. Wladimir Sliwjak, der zusammen mit Nikulina den Vorsitz der Bewegung führt, hatte bereits drei Monate zuvor ein ähnliches Verhör erlebt, nachdem man ihn gewaltsam in ein Auto gezerrt hatte. Der Militärjournalist Grigori Pasko war in einem ersten Prozess 1999 unter dem Vorwurf der Spionage und des Hochverrats4 verurteilt und anschließend amnestiert worden. In einem zweiten Verfahren wurde er Ende Dezember 2001 erneut zu vierjähriger schwerer Lagerhaft verurteilt. Igor Sutjagin schließlich, Experte für nukleare Abrüstung, sitzt seit vier Jahren unter dem Verdacht des „Hochverrats“ im Gefängnis.
Seit Juni 2000 herrscht zwischen Kreml und Umweltschützern ein offener „Informationskrieg“. „Es wird keine Säuberung der verstrahlten Gebiete geben, keine Wiederaufbereitung und keine Verbesserung der finanziellen Situation für die Bevölkerung“, sagen die Umweltaktivisten. „Wenn, wie der Minister behauptet, die verseuchten Gebiete tatsächlich eines der brennendsten ökologischen Probleme des Landes sind, brauchten wir 200 Milliarden Dollar zur Behebung der Schäden“, erklärt Alexej Jablokow, ehemaliger Umweltberater von Präsident Boris Jelzin und jetziger Koordinator der SOES-Aktivitäten.
Die Unglücksanlage Majak
DIE Umweltschützer weisen auch darauf hin, dass es zurzeit nur eine einzige Wiederaufbereitungsanlage gibt: Majak im Ural. Dabei handelt es sich um eine bei Tscheljabinsk gelegenene und ziemlich heruntergekommene Atomfabrik. Hier hatte am 29. September 1957 das Kühlsystem einer unterirdischen Zisterne versagt, woraufhin eine Explosion den zwei Meter dicken Betonmantel zerschlug und eine radioaktive Wolke ein Gebiet von 23 000 Quadratkilometern verseuchte. Unter den Folgen leidet die Bevölkerung bis heute. Eine Wiederaufbereitungsanlage gibt es in Majak seit 23 Jahren.
200 Tonnen Abfälle können dort jährlich aufgearbeitet werden, inzwischen lagern hier bereits 14 000 Tonnen. Und zwar unsachgemäß, ja sogar „ohne Genehmigung, einfach im Erdboden“, betont Alissa Nikulina. Es müssten also neue Lagerplätze erschlossen werden. Dort aber, prophezeit die Wochenzeitung Nowaja Gaseta, werde man „die Abfälle dann ‚vergessen‘ und keiner wird sie je zurücknehmen wollen“.5 Umweltschützer haben immer wieder bezweifelt, dass sich die Wiederaufbereitungspläne umsetzen lassen, wie der ehemalige Atomminister Adamow mit großem Enthusiasmus behauptet: Für ihn sind abgebrannte Brennelemente kein Abfall, sondern wiederverwendbarer und verkaufbarer Rohstoff.6
Transparenz ist wahrlich nicht das Markenzeichen dieses Ministeriums. Nachdem Adamow wegen des Verdachts der Veruntreuung abtreten musste, steht dem Minatom nun Alexander Rumjanzew vor, auch er ein großer Fan der Atommüllimporte. Zuvor hatte er das Kurtschatow-Institut geleitet, ein Kernforschungszentrum, das Anfang April 2001 in die Schlagzeilen geriet, weil dort – mitten in der russischen Hauptstadt – 2 000 Tonnen radioaktive Abfälle lagern. Überdies hält das Minatom wenig Distanz zur mächtigen Finanzgruppe MDM und zur Alfa-Gruppe, die seit Putins Amtsantritt deutlich im Aufwind ist. Entsprechend wird gemutmaßt, das Ministerium werde einen Großteil der Mittel für die Wiederaufbereitung in dunklen Kanälen verschwinden lassen und den Rest in die Errichtung von rund dreißig neuen AKWs stecken, darunter auch des ersten schwimmenden Atomkraftwerks der Welt.
Ein Teil des Geldes könnte dazu dienen, die Entwicklung einer neuen Generation nuklearer Munition voranzutreiben. „In zehn Jahren“, schreibt die Zeitung Moskowskije Nowosti, „wird bei der nächsten Antiterroroperation eine neuartige kleine Bombe explodieren. Sie löscht auf einen Schlag alle Terroristen aus, mitsamt ihren Ziegen und Kühen, ihrem Gemüse und Hausrat.“7
Bestätigt wird diese Möglichkeit durch die letzte Fassung der russischen Militärdoktrin, die Putin am 10. Januar 2000 bestätigt hat. Sie erlaubt den Einsatz von Nuklearwaffen, „falls alle anderen Mittel und Wege zur Lösung einer Krisensituation erschöpft sind oder sich als wirkungslos erwiesen haben“.
Im Atomministerium, glaubt Wladimir Sliwjak, weiß man sehr wohl, dass die Atommüllimporte in der Praxis weder kontrollier- noch durchführbar sind: „Die aktuellen Probleme halten das Minatom schon genug in Atem. Doch vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise haben letztlich die Lobbyisten gesiegt, die die russischen Kernreaktoren retten wollen. Zudem stehen hinter Minatom große Banken mit ihren handfesten Interessen. Die Abfälle werden also schlicht und einfach verbuddelt, während das Geld in die Rettung der russischen Atomindustrie fließen wird – und in die Taschen von Bankern und Ministerialbeamten.“
Am 23. Januar 2001 veröffentlichte Ecodefense einen alarmierenden Bericht über die Gefahren von Atomtransporten: Die Gesetzgebung entspricht nicht den internationalen Standards; Russland benutzt veraltete Containertypen; regionale und föderale Gesetze sind mangelhaft; bei der Vergabe von Transportlizenzen werden die Richtlinien unterlaufen; das eingesetzte Personal ist weder kompetent genug noch ausreichend gegen mögliche Gefahren geschützt; 40 Prozent der Güterzüge haben technische Mängel … und so fort.
Diese Ergebnisse spiegeln den Zustand der russischen Atomindustrie. Zwar besitzt das Land ein durchaus beeindruckendes wissenschaftliches Potenzial, doch das Umfeld der Kernindustrie ist seit über zehn Jahren von Korruption, Verantwortungslosigkeit und chronischer Unterfinanzierung geprägt. Nach Einschätzung des US-Außenministeriums befinden sich die sieben gefährlichsten Atomkraftwerke der Welt allesamt auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion.8
Im Juni 2000 beantragten russische Umweltaktivisten eine Volksabstimmung über die Frage der Atommüllimporte und die Wiedereinsetzung funtionierender staatlicher Umweltschutzeinrichtungen und begannen damit, die von der Verfassung verlangten 2 Millionen Unterschriften zu sammeln. Vier Monate später konnten sie der Zentralen Wahlkommission 2,5 Millionen Unterschriften vorlegen. Im November 2000 erklärte diese Kommission 800 000 der eingereichten Unterschriften mit lächerlichen Begründungen für ungültig. Dagegen legten die Umweltaktivisten beim Verfassungsgericht Widerspruch ein, der im März 2001 abgewiesen wurde.
Einen wichtigen Sieg konnten sie immerhin im Sommer 2000 während ihres „Aktionscamps“ in unmittelbarer Nähe der Wiederaufbereitungsanlage Majak bei Tscheljabinsk im Ural erringen. Rund sechzig Vertreter verschiedener Umweltverbände aus zehn russischen Städten und aus dem Ausland hatten ihre Zelte in einem der Gebiete aufgeschlagen, die am meisten verseucht, jedoch von staatlicher Seite nicht als kontaminiert eingestuft worden sind. Mit dieser Aktion wollten der Sozial-Ökologische Bund, Ecodefense sowie zwei lokale Initiativen auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung aufmerksam machen. Ihr Protest galt zugleich der Einfuhr und Lagerung von radioaktivem Müll in Majak und dem Bau eines neuen AKWs im südlichen Ural.
Während Wissenschaftler der westsibirischen Universität Nowosibirsk die radioaktive Belastung maßen, demonstrierten die Kernkraftgegner in der Stadt. Am 3. August 2000 blockierten etwa dreißig von ihnen den Eingang zum Sitz des Gouverneurs. Der gab am 8. August bekannt, dass er die Lagerung von ausländischen Nuklearabfällen in Majak ebenso wie die Importpläne generell ablehne, solange der Haushalt der Zentralregierung für 2001 keinen Sozialplan für die Bevölkerung der Region vorsehe.
Das positive Votum der Duma-Abgeordneten im Dezember 2000 gab den Protesten noch einmal Auftrieb. Am 15. Januar 2001 liefen in einem Dutzend russischer Städte gleichzeitig Aktionen ab. In Tomsk wurden „radioaktive Dollars“ verteilt und die Bevölkerung informiert, wie sie Druck auf die Politik ausüben kann. In Irkutsk sammelten Aktivisten Unterschriften, die der Regionalduma übergeben werden sollten. In Saratow trat das „Ökologische Theater“ auf.
In Nischni Nowgorod starteten die Aktivisten des Ökozentrums Dront eine Postkartenaktion. Tausende der verteilten Postkarten wurden in den darauf folgenden Monaten an Duma-Abgeordnete nach Moskau geschickt. Und wenige Tage nach der Demonstration erklärte der Gouverneur – dem immerhin Wahlen ins Haus standen – sein Nein zu den Abfallimporten. Zwar beteiligt sich die Bevölkerung aus Angst vor der Polizei und aus Skepsis gegenüber ihren eigenen Einflussmöglichkeiten kaum an den Demonstrationen, doch ihre Ablehnung kommt in Umfragen, Fernsehsendungen oder auch Briefen deutlich zum Ausdruck. Das erklärt, warum im März 2001 immerhin knapp ein Drittel der regionalen Parlamente gegen den Gesetzentwurf stimmte.
Parallel zu diesen Aktionen machten die großen Umweltorganisationen auf internationaler Ebene mobil. Sie weiteten den „Informationskrieg“ bis nach Taiwan und Japan aus, wo die Medien die Atommülllieferungen nach Russland als legal darstellten. Der SOES organisierte überdies eine Fax-Aktion: Umweltinitiativen aus Kasachstan, wo das Parlament gerade über die Legalisierung der Einfuhr von Atommüll beriet, aus Griechenland, Großbritannien und Kirgisistan überschwemmten die russischen Abgeordneten mit Protestschreiben.
Im russischen Unterhaus selbst versuchen Abgeordnete der liberalen Partei Jabloko und der Union Rechter Kräfte (SPS), durch Änderungsanträge zumindest den Geltungsbereich des Gesetzes einzuschränken. Ein Antrag sah vor, jeder Einfuhrvertrag müsse von der Duma gebilligt werden, ein anderer forderte die Rücknahme des wiederaufbereiteten Materials durch das Ursprungsland. Keiner der Anträge wurde angenommen.
Auf Initiative von SOES, Ecodefense und Jabloko demonstrierten am 15. Februar 2001 erneut 200 Menschen vor der Duma. Aman Tulejew, der populäre Gouverneur der westsibirischen Region Kemerowo, sprach sich gegen den Entwurf aus. Anfang März erhielt Präsident Wladimir Putin ein von 600 Bürgerorganisationen aus ganz Russland unterzeichnetes Schreiben. Und am 22. März setzte auch Greenpeace ein Signal: Während zwei junge Frauen in weißen Tuniken die Wachen am Eingang zum Parlamentsgebäude ablenkten, erklommen zwei ihrer Mitstreiter die Mauer und brachten vor den Fenstern des Gebäudes ein riesiges Transparent an. Am 18. April 2001 ketteten sich Mitglieder von Chraniteli Radugi9 an den Toren zur Duma an. Im Mai schließlich, vor der dritten Lesung der Gesetzesnovelle, rissen die Proteste nicht mehr ab. Höhepunkt aller Aktivitäten waren zweifellos die 200 000 in der Region Irkutsk gesammelten Unterschriften, aber auch die starke Mobilisierung der Einwohner von Nowosibirsk, dessen Flusshafen dem Minatom prinzipiell den Transit der Nuklearabfälle zugesagt hat. Noch im Juni formulierten neun Mitglieder der Akademie der Wissenschaften in einem offenen Brief an den Präsidenten ihre Bedenken.
Wie lautet die Antwort des Ministers für Atomenergie? In einer Fernsehsendung Ende März 2001 sagte er einem engagierten Umweltschützer ins Gesicht: „Die Menschen sterben ja gar nicht an den Folgen radioaktiver Belastungen. Eher kann es vorkommen, dass sie sich aufgrund ihres Geredes den Strick um den Hals legen. Die medizinischen Tatsachen belegen: Unter denen, die an den Folgen von Tschernobyl zu Tode gekommen sind, ist die Selbstmordrate hoch.“ Und auf dem ersten Russischen Ökologiekongress, vom Kreml zur Abwehr des Referendums initiiert, bekamen die Journalisten zu hören: „Die ahnungslose Menge hat bei dieser Sache nichts mitzureden.“
Ungeachtet aller Proteste traf im vergangenen Oktober ein Zug mit 41 Tonnen radioaktiver Abfälle aus Bulgarien zur späteren Wiederaufbereitung ein. Sie wurden jedoch zunächst ins Atommülllager Krasnojarsk gebracht. Abgesehen davon, dass die gesetzliche Vorschrift missachtet wurde, die über jeden solchen Vertrag ein Gutachten verlangt,10 ging auch diese Lieferung nicht ohne Skandal vonstatten. Die von den bulgarischen Kraftwerksbetreibern genannte zwischengeschaltete Firma, die den Zahlungsverkehr abwickeln sollte, existiert seit März 2001 nicht mehr, stand aber noch als Geldgeber im Vertrag. Nun unterhält aber dieses Offshoreunternehmen namens Energy Invest and Trade Corporation engste Verbindungen mit der berühmt-berüchtigten Alfa-Gruppe, deren Bank im vergangenen Jahr die Betreuung der Minatom-Konten übertragen bekam – und folglich auch mit dem Vertrag mit Bulgarien betraut ist.
Nur wenige Stunden vor der Durchfahrt des Atommülltransports sprangen auf der vorgesehenen Strecke 15 Waggons eines anderen Güterzugs aus den Geleisen, die auf einer Länge von 350 Metern beschädigt wurden. Wladimir Sliwjak hat ausgerechnet, dass „670 solcher Züge das Leben tausender von Anwohnern längs der Transsibirischen Eisenbahn bedrohen, wenn die 20 000 Tonnen Müll tatsächlich nach Sibirien verbracht werden sollten“. In drei Regionen laufen Vorbereitungen zu Volksbegehren über diese Frage. Wird den russischen Bürgern dann erneut das Recht abgesprochen, ihre eigene Meinung zu einer derart wichtigen Entscheidung in die Waagschale zu werfen? Für Alissa Nikulina geht es hier nicht nur um die konkrete Sache, sondern auch und vor allem um den Geist der Demokratie.
In der Frage der Importe macht sich die russische Bevölkerung nichts vor. Eine Romir-Umfrage vom Juni 2001 ergab, dass ein Drittel der Moskauer glaubt, hinter der Duma-Entscheidung stünden ohnehin die Interessen der ausländischen Atommüllbesitzer. 19,6 Prozent vermuten dahinter die Interessen des russischen Ministeriums für Atomenergie, 17,8 Prozent die der russischen Regierung. Nur 4 Prozent sind der Meinung, das Gesetz sei im Interesse der gesamten russischen Bevölkerung.
dt. Passet/Petschner
* Journalistin in Brüssel.