15.02.2002

Der Terrorist von nebenan

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Der Terrorist von nebenan

Die EU vereint sich ohne Harmonisierung. Der europäische Haft- und Auslieferungsbefehl ermöglicht es, Gesuchte auch dann zu verhaften, wenn das jeweilige Delikt im ausliefernden Land nicht strafbar ist. Die EU-Partner müssen ihre Strafgesetze also nicht vereinheitlichen. Und unter „Terrorismus“ darf jeder verstehen, was er will.

Von JEAN-CLAUDE PAYE *

IM Vertrag von Amsterdam, der im Juni 1997 unterzeichnet wurde, ist als neues Ziel der EU unter anderem die Schaffung eines „Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ festgeschrieben. Um dieses Ziel zu erreichen, sind zwei Lösungen denkbar: Man kann entweder schrittweise die Gesetzgebung der Mitgliedsstaaten harmonisieren oder aber wechselseitig die gerichtlichen Entscheidungen anerkennen. Auf dem EU-Sondergipfel im Oktober 1999 in Tampere entschied man sich für die zweite Lösung als „Eckpfeiler der justiziellen Kooperation auf zivil- und strafrechtlicher Ebene“.

Während eine Harmonisierung der nationalen Gesetzgebung die Vorrangstellung des Rechts in den zwischenstaatlichen Beziehungen stärkt, unterstreicht die gegenseitige Anerkennung von Gerichtsurteilen, dass man den Verfahrensregeln den Vorrang gegenüber der inhaltlichen Rechtsprechung gibt. Statt die Vereinheitlichung der Strafgesetzbücher anzustreben, ermöglicht die zweite Option die Schaffung eines juridischen Raumes, der die Disparitäten zwischen den einzelnen Strafrechtssystemen bestehen lässt. Zudem beinhalten die Beschlüsse, die von den fünfzehn Mitgliedern am 11. September 2001 angenommen wurden, eine Ausweitung der strafrechtlichen Souveränität der Länder auf die gesamte Union, wobei die unterschiedlichen politischen und juristischen Kontrollen bezüglich der Legalität ihrer Handlungen aufgehoben werden.

Die Schaffung eines europäischen Haft- und Auslieferungsbefehls durch den Rat der Justiz- und Innenminister vom 6. Dezember 2001 fügt sich in das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. Der am 1. Januar 2004 in Kraft tretende Haftbefehl betrifft nicht nur bereits Verurteilte, sondern auch polizeilich gesuchte Personen. Die Justizbehörde jedes Landes wird automatisch unter Anwendung von Mindestkontrollen den Auslieferungsantrag eines anderen Mitgliedsstaats anerkennen und ihm entsprechen. Der Haftbefehl gilt für Gesetzesverletzungen, die in dem Land, das den Antrag gestellt hat, eine Strafe von mindestens drei Jahren nach sich ziehen. Auf der nicht vollständigen Liste der 32 Straftaten stehen unter anderem: Terrorismus, Internetkriminalität, Betrug, Geldwäsche, Korruption, Menschenhandel, Anstiftung zum Mord, Rassismus usw.

Der europäische Haftbefehl soll das herkömmliche Auslieferungsverfahren ersetzen, das die Erfüllung des Grundsatzes der beiderseitigen Strafbarkeit (Prinzip der Identnorm) voraussetzt. Bisher durfte die Auslieferung nur erfolgen, wenn der Tatbestand sowohl im Forderland als auch in dem Land, in dem der Verdächtige festgehalten wird, eine strafbare Handlung darstellt. Der europäische Haftbefehl geht von diesem Grundsatz ab: Entsprechend dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung genügt es, wenn das fragliche Verhalten im Forderland einen Straftatbestand darstellt. Die Brüsseler Kommission formulierte dies folgendermaßen: Es spielt „keine Rolle, ob die dem Haftbefehl zugrunde liegende strafbare Handlung im Vollstreckungsstaat keinen Straftatbestand darstellt oder ob unterschiedliche Tatbestandsmerkmale vorliegen. Jeder Mitgliedsstaat erkennt mit diesem Grundsatz nicht nur das Strafrecht der anderen Mitgliedsstaaten uneingeschränkt an, sondern willigt auch ein, sie bei der Durchsetzung dieses Strafrechts zu unterstützen.“1

Der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit wurde bereits für bestimmte Vergehen aufgehoben. Der Gesetzestext des EG-Ministerrats vom 27. September 19962 sieht vor, dass die Auslieferung einer Person in bestimmten Fällen auch dann nicht verweigert werden kann, wenn der Tatbestand im Forderland keine Gesetzesübertretung darstellt. Dies gilt z. B. für den Fall, dass der Forderstaat die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung oder einer vermeintlichen „Konspiration“ beantragt – und dass diese Rechtsverletzung in den Bereich der Bekämpfung von Terrorismus, Drogenhandel oder anderen Formen des organisierten Verbrechens fällt. Dieser nur von einigen Mitgliedern ratifizierte Gesetzestext ermöglichte den Fortbestand geeigneter Kontrollmechanismen für die Auslieferungsverfahren. Nach dieser Regelung obliegt die Entscheidung für oder gegen eine Auslieferung den jeweiligen politischen Autoritäten. Der europäische Haftbefehl schließt nunmehr diese Prärogative ebenso aus wie die verwaltungsgerichtlichen Überprüfungen.

Im herkömmlichen Auslieferungsverfahren bezieht sich die justizielle Kontrolle auf den Tatbestand sowie auf die Gesetzmäßigkeit des Antrags. Im Falle des Haftbefehls bezieht sie sich nur noch auf die formale Korrektheit des Dokuments. Die Initiative der Mitgliedsstaaten hatte genau diese beiden Ziele: den automatischen Vollzug der Auslieferung und die Aufgabe des Überprüfungsverfahrens. Zudem braucht der Forderstaat beim europäischen Haftbefehl – im Gegensatz zum Auslieferungsantrag, wo der Verdächtige nur aufgrund der angegebenen Delikte verfolgt werden kann – den seinem Auslieferungsbegehren zugrunde liegenden Straftatbestand nicht näher darzulegen.

Die Einführung des europäischen Haftbefehls beruht auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, also darauf, dass die Strafverfolgungssysteme der EU-Staaten die Demokratie und den Rechtsstaat respektieren. Entsprechend kann die Anwendung des neuen Procederes nur „im Falle einer schwer wiegenden und wiederholten Übertretung der fundamentalen Rechte durch die Mitgliedsstaaten“ ausgesetzt werden.3 Die zwingende Auslieferung beruht also nicht mehr auf den bestehenden Mechanismen zur Kontrolle staatlicher Machtausübung, sondern auf der Annahme, dass diese Machtausübung legal erfolgte.

Der am 6. Dezember 2001 vom Rat der Justiz- und Innenminister angenommene Rahmenbeschluss über den Terrorismus wirft ähnliche Probleme auf. Als terroristischer Akt werden hier Straftaten verstanden, „wenn sie von einer Einzelperson oder einer Vereinigung gegen ein oder mehrere Länder, deren Institutionen oder Bevölkerung mit dem Vorsatz begangen werden, sie einzuschüchtern und unberechtigt die öffentlichen Behörden oder eine internationale Organisation zu zwingen, eine Handlung auszuüben oder zu unterlassen“, oder schließlich in der Absicht, „die politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes bzw. dieser Länder ernsthaft zu schädigen oder zu zerstören“.4 Diese Vergehen können sein: „Handlungen, die einer staatlichen oder öffentlichen Einrichtung, einem Transportmittel, einer Infrastruktur, einem öffentlichen Ort oder einem Privatbesitz massiven Schaden zufügen, wobei es zur Gefährdung von Menschenleben oder zu einschneidenden ökonomischen Verlusten kommen kann.“

Eine so verschwommene Definition bietet einen breiten Interpretationsspielraum. Jede oppositionelle Handlung bewirkt die Einschüchterung eines kleineren oder größeren Teils der Bevölkerung und soll die politische Führung zu einem bestimmten Verhalten bewegen. Ausdrücke wie „ernsthaft“ oder „unberechtigt“ sind rein subjektiv. Und die Begriffe „schädigen“ und „zerstören“ (etwa von wirtschaftlichen oder politischen Strukturen eines Landes) gestatten einen Frontalangriff auf soziale Bewegungen. Auf diese Argumente stützte sich auch die britische Premierministerin Margaret Thatcher, als sie in den frühen Achtzigerjahren das Antiterrorismusgesetz beim Streik der Bergarbeiter anwenden wollte.

Handhabe gegen unbequeme Bürger

DER die Freiheitsrechte beschneidende Charakter des Textes ist derart offensichtlich, dass man sich im Anhang zu folgender Erläuterung gezwungen sah: Nichts an diesen Rahmenbedingungen „darf dahin gehend interpretiert werden, dass es die fundamentalen Rechte oder Freiheiten, wie das Streikrecht, die Versammlungsfreiheit, die Vereinsfreiheit oder die freie Meinungsäußerung, darunter auch das Recht, Gewerkschaften zu gründen oder sich zum Zwecke der Verteidigung der Interessen zusammenzuschließen, und das sich daraus ergebende Recht, zu demonstrieren, einzuschränken oder zu behindern beabsichtigt“.5 Dieser Anhang ist jedoch lediglich eine Empfehlung, die es jedem Mitgliedsstaat überlässt, seine eigene Strafrechtspolitik zu praktizieren.

Erklärtes Ziel dieses Rahmenbeschlusses ist es, die Strafgesetzgebung der Mitgliedsländer auf dem Gebiet der Terrorismusbekämpfung anzugleichen. Sechs Staaten verfügen bereits über eine einschlägige Gesetzgebung, wobei sich der europäische Text vor allem vom britischen Terrorism Act inspirieren ließ. In allen einschlägigen Gesetzestexten gilt die Destabilisierung der politischen oder ökonomischen Macht als spezifisches Element eines terroristischen Aktes. So definiert beispielsweise der Artikel 4201-1 des französischen Strafgesetzbuchs terroristische Akte als Handlungen, die „zum Ziel haben, die öffentliche Ordnung durch Einschüchterung oder Terror schwerwiegend zu beeinträchtigen“. Das spanische Recht hebt auf das Ziel ab, das Verfassungssystem zu unterminieren und der öffentlichen Ordnung schweren Schaden zuzufügen. Der italienische Kodex spricht von einem Umsturz des demokratischen Systems. Und das portugiesische Strafgesetzbuch bezieht sich auf die Untergrabung oder Störung der nationalen Einrichtungen.

Die übrigen Mitgliedsstaaten verfügen über keine spezifischen Terrorismusvorschriften. Sie verfolgen diese Delikte nach bereits bestehenden Straftatbeständen wie z. B. dem Begriff der kriminellen Vereinigung, der es dank einer umfangreichen Rechtsprechung ermöglicht, nicht nur die Beteiligung an terroristischen Handlungen, sondern die bloße Zugehörigkeit zu solchen Organisationen zu bestrafen. Wenn das gesetzliche Arsenal dieser Länder zur Verfolgung solcher Delikte ausreicht, besteht Anlass zu der Annahme, dass die Schaffung spezifischer Straftatbestände Praktiken und Regeln rechtfertigen sollen, die von den traditionnellen Strafverfahren abweichen. Es handelt sich hierbei um spezifische Ermittlungstechniken wie Abhören, Beschattung, das Abfangen von Briefen oder die Installierung von Black Boxes, die das Lesen und Aufzeichnen aller elektronischen Nachrichten ohne richterliche Weisung ermöglichen.

All diese Maßnahmen können „präaktiv“ angewandt werden, d. h. ohne dass ein krimineller Tatbestand vorliegt. Ebenso rechtfertigt die Terrorismusbekämpfung Sondermaßnahmen wie präventive Verhaftung oder administrativ angeordnete Haft. So kann z. B in Spanien eine aufgrund des Antiterrorismusgesetzes verfolgte Person sich nicht ihren eigenen Anwalt aussuchen.6 Der europäische Haft- und Auslieferungsbefehl strebt demnach nicht die Vereinheitlichung der Strafgesetzgebung und Strafverfahren an, sondern ermöglicht im Gegenteil das Weiterbestehen tief gehender Diskrepanzen zwischen den Mitgliedsstaaten. Die wahre Bedeutung der Verabschiedung von speziellen Terrorismusvorschriften liegt in der Einführung strafverfahrensrechtlicher Regelungen, die von der gemeinsamen Rechtsordnung abweichen. Das Gleiche gilt für die von der Europäischen Union angenommene Terrorismusdefinition. Dabei geht es weniger um eine Harmonisierung der nationalen Gesetzgebungen als darum, die Anwendung außerordentlicher, aber von Land zu Land unterschiedlicher Maßnahmen zu rechtfertigen.

dt. Andrea Marenzeller

* Soziologe, lebt in Brüssel.

Fußnoten: 1 Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl, Artikel 27 – Liste der Ausnahmen. http://europa.eu.int/eur-lex/de/com/dat/2001/de_501PC0522.html 2 Amtsblatt, Journal officiel der Europäischen Gemeinschaft Nr. C 313, 32/10/1996. 3 Vorschlag der Kommission 561 PC0522.htm., S. 24. 4 Europarat, 1485/01 Droipen 103 Cats 49, S. 8. 5 Europarat, a. a. O., S. 4 6 Siehe Jan Fermon, „Les droits démocratiques: dommages collatéraux de la guerre contre le terrorisme“, Le Journal des Procès, Nr. 422, Brüssel 2001.

Le Monde diplomatique vom 15.02.2002, von JEAN-CLAUDE PAYE