15.02.2002

Der neue beste Feind

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Der neue beste Feind

DIE argentinische Mittelschicht rebelliert, in Bolivien gibt es gewalttätige Konflikte, die Menschenleben kosten, in Brasilien eskaliert der Kampf um Land und Boden, in Kolumbien werden Gewerkschafter ermordet, Chiapas wird vom mexikanischen Militär und paramilitärischen Gruppierungen unterdrückt, Venezuela von einem Generalstreik gegen die Landreform des Präsidenten Hugo Chávez lahm gelegt. Nach zwei Jahrzehnten einer ultraliberalen Politik ist Lateinamerika am Ende. Und die Bevölkerung hält nicht länger still. Doch zugleich können es sich die USA unter dem Vorwand „Kampf gegen den Terrorismus“ erlauben, auf die militärische Karte zu setzen, um die sozialen Protestbewegungen unter Kontrolle zu bekommen.

Von JANETTE HABEL *

„Die Schlüsselfrage für die Verteidigung des amerikanischen Kontinents lautet: Von welcher Art Bedrohung gehen wir aus? Früher hatten es die Vereinigten Staaten mit einer relativ klar definierten, auch für den Durchschnittsamerikaner plausiblen Bedrohung zu tun.1 Heutzutage ist diese Bedrohung ungleich komplexer und schwerer zu definieren.“ So äußerte sich Professor Lewis Arthur Tambs, Diplomat und Historiker an der staatlichen Universität von Arizona, vor dem 11. September. Der Verfasser eines Berichts über die Zukunft von Nord- und Südamerika resümierte in neun Punkten die großen Problemachsen, an denen sich die Sicherheit des Kontinents zu orientieren habe: „Verteidigung“, „Drogen“, „Demografie“, „Schulden“, „Entindustrialisierung“, „populistische Demokratie nach dem Kalten Krieg“, „Destabilisierung“, „Waldsterben“ und „Niedergang der USA“.2

Tambs nannte diese Punkte die „neun D“, da diese Begriffe (auf Englisch) alle mit D anfangen. Den Begriff „Terrorismus“ steckt er einfach in das Kapitel „Drogen“. Drogenterrorismus ist dabei definiert als „Bündnis zwischen terroristischen Organisationen, Drogenhändlern und organisiertem Verbrechen, eine tödliche Symbiose, die lebenswichtige Elemente der westlichen Zivilisation zerstört“. In dieser Aufzählung nimmt der Kampf gegen die Drogen einen zentralen Platz ein, wobei der Clinton-Administration vorgeworfen wird, dass sie ihr Versprechen, den Drogenhandel zu stoppen, nicht umgesetzt hat. Mit „populistischer Demokratie“ ist die venezolanische Regierung des Präsidenten Hugo Chávez gemeint; das Stichwort „Demografie“ bezieht sich auf Gefahren, die die Migrationsbewegungen für die USA mit sich bringen.

Zu verstehen ist die Neudefinition der Sicherheitslage anhand einer kunterbunten Aufzählung von Problemfeldern nur vor dem Hintergrund der Beendigung des Kalten Krieges. Nach dem Zusammenbruch der lateinamerikanischen Diktaturen in den Achtzigerjahren ging die Rückkehr zur Demokratie mit einer kurzfristigen Stabilität einher. Eine gewisse politische Öffnung und marktwirtschaftliche Reformen weckten viele Hoffnungen. Doch seit den Neunzigerjahren geht es mit der marktorientierten Demokratie bergab. Die soziale Krise hat sich verschärft.

Die Wirtschafts- und Finanzkrisen – 1995 in Mexiko, 1999 in Brasilien und Ecuador und neuerdings in Argentinien – hatten katastrophale Folgen. Die sozialen und politischen Verhältnisse führten zu immer heftigeren Protesten, zum Beispiel in Bolivien, in Ecuador und in Argentinien. Der Bürgerkrieg in Kolumbien schließlich droht die gesamte Region zu destabilisieren. Zugleich wächst in Washington die Irritation über die Regierung Chávez in Venezuela. Solche „Turbulenzen“ haben das alte Sicherheitsdenken neu belebt – obwohl von einer militärischen Bedrohung Lateinamerikas durch eine feindliche Macht spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges keine Rede mehr sein kann.

Die neuen Feinde sind demnach der internationale Terrorismus, der Drogenhandel, Migration und Umweltzerstörung. Sie alle werden als „transnationale, nichttraditionelle Bedrohungen“ definiert. Politische und wirtschaftliche Instabilität mussten schon immer als historische Rechtfertigung für Interventionen – nicht nur der USA – herhalten. Und diese Instabilität, so die US-amerikanischen Autoren Joseph Tulchin und Ralph Espach, „taucht nun erneut als potenzielle Gefahr für die Sicherheit der Region auf“.3

Eine Antwort auf diese „nichttraditionellen“ Bedrohungen wird für die Vereinigten Staaten umso dringlicher, als die Amerikanische Freihandelszone (FTAA) auf dem besten Weg ist, zur Realität zu werden. Zwischen der Bildung dieser Freihandelszone und der neuen „Sicherheitsarchitektur für den amerikanischen Kontinent“ besteht in der Tat ein enger Zusammenhang, wie das Center für Strategic and International Studies (CSIS) hervorhebt: „Die wirtschaftlichen Veränderungen sind schneller erfolgt als die sicherheitspolitischen, was zu einer wachsenden Gewaltbereitschaft von Menschen führt, die zu ihrem Überleben auf illegale Mittel angewiesen sind.“4 Angesichts dieser neuartigen Herausforderung, „der sich die geschwächten Staaten nicht allein stellen können“, sei es notwendig, eine einheitliche Verteidigungspolitik für die ganze Hemisphäre auszuarbeiten. In ihrem Rahmen müsse man die Ziele und institutionellen Anforderungen neu definieren, die zur Verstärkung des gesamtamerikanischen Sicherheitssystems erforderlich seien.

Die Zäsur vom 11. September wird die schon zu Zeiten des Kalten Krieges begonnene Reform der Institutionen weiter beschleunigen. Zehn Tage nach dem Einsturz der Twin Towers erklärte der argentinische Außenminister anlässlich einer außerordentlichen Tagung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), bei der es um mögliche Reaktionen auf die Anschläge ging: „Der Rio-Vertrag [der interamerikanische Beistandspakt] ist aktuell und vollständig in Kraft. Er bietet die Möglichkeit, Maßnahmen zu erörtern, und einen politischen Rahmen für eine allfällige militärische Reaktion.“

Die Aussage kommt ziemlich überraschend. Der 1947 unterzeichnete Rio-Vertrag bindet alle Staaten der Hemisphäre mit Ausnahme Kubas ein. Seit dem Falklandkrieg zwischen Großbritannien und Argentinien 1982 hat sich allerdings kein Land mehr auf diesen Vertrag berufen. 1982 hatte sich Washington geweigert, den Bündnisfall anzuerkennen. Die USA hatten vielmehr London unterstützt, was dem Wortlaut des Vertrags widersprach, dem zufolge ein Angriff auf einen Mitgliedsstaat als Angriff auf alle Mitgliedsstaaten anzusehen ist (eine Konstruktion, die dem in Artikel 5 des Nato-Vertrags formulierten Beistandsfall ähnelt).

Einige Tage vor den Anschlägen von New York und Washington hatte der mexikanische Präsident Vicente Fox den Rio-Vertrag als „eklatantes Beispiel für ein überholtes und unnützes Abkommen“ bezeichnet. Dennoch haben alle vom brasilianischen Präsidenten Cardoso zusammengerufenen nord- und südamerikanischen Außenminister den Hinweis auf den Vertrag einstimmig abgesegnet. Damit vertraten die Regierungen die Auffassung, dass die Attentate vom 11. September als Bedrohung für die „Familie des amerikanischen Doppelkontinents“ und die Sicherheit der Hemisphäre zu werten seien.

Keine Demokratie-Charta in Sicht

NOCH im Juni 2001 hatte sich die Generalversammlung der OAS nicht auf die Verabschiedung der interamerikanischen Demokratie-Charta einigen können, da einige Teilnehmer befürchteten, damit könnte das Recht eines Staates auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen legitimiert werden. Auf der außerordentlichen OAS-Tagung in Lima wurde die Charta dann im September 2001 ohne Debatte per Akklamation verabschiedet. Doch bei einigen Artikeln gibt es immer noch Vorbehalte. Mit der Intention, die „institutionelle Demokratie zu stärken und zu erhalten“ – insbesondere gegen jeden Versuch eines Staatsstreichs –, definiert die Charta auch die Modalitäten eines militärischen Eingreifens der OAS, jedoch auf so uneindeutige Weise, dass daraus unter bestimmten Bedingungen auch das Recht auf Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Mitgliedsstaates abgeleitet werden könnte.

Wenn die Regierung eines OAS-Mitgliedsstaates meint, ihre legitime Macht und die politisch-demokratische und institutionelle Entwicklung des Landes sei gefährdet, kann sie den Generalsekretär oder den Ständigen Rat der OAS um „Beistand zur Erhaltung der Demokratie ersuchen“. In diesem Fall kann der Ständige Rat „geeignete Maßnahmen zur Erhaltung oder Stärkung der institutionellen Demokratie ergreifen“. Sieht er diese „beeinträchtigt“, kann er „ihm geeignet erscheinende Beschlüsse fassen“ und „namentlich diplomatische Schritte“ veranlassen. Doch dieses „namentlich“ klingt sehr vage. Und wer definiert, was eine „Beeinträchtigung der verfassungsmäßigen Ordnung“ ist?

Roger Noriega, ständiger Vertreter der Vereinigten Staaten bei der OAS, hat festgestellt: „Die von der OAS verabschiedeten Resolutionen sind keine bloße Rhetorik. Sie legen den Handlungsrahmen und die politischen Optionen der OAS-Mitgliedsstaaten fest.“5 Wer aber entscheidet wirklich in einer Organisation, die gerade den Schulterschluss mit der amerikanischen Großmacht vollzogen hat?

Peter Romero, Beauftragter für lateinamerikanische Angelegenheiten im US-Außenministerium unter Clinton, hatte schon 2000 die Schaffung eines speziellen OAS-Krisenfonds angeregt. Der war als Instrument einer Art Präventivdiplomatie gedacht, das – etwa in Argentinien – verhindern könnte, dass ein sozialer Notstand in eine Staatskrise mündet. Nicht zum ersten Mal steht damit die Idee auf der Tagesordnung, mit Hilfe einer „Unterstützungsgruppe“ aus „befreundeten Ländern“ ein regionales Instrumentarium zur Krisenintervention zu schaffen. Bislang freilich sind alle derartigen Versuche gescheitert.

Das Inter-American Defense Board (IADB), quasi der militärische Arm der OAS, hat bedauernd festgestellt, das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für Aktionen eines multinationalen Truppenkontingents auf dem amerikanischen Kontinent bestärke die Mitgliedsstaaten der OAS in ihrer Zurückhaltung und verhindere, dass sie sich an solchen Missionen beteiligen.6 Projektiert ist deshalb ein multilaterales Instrument zum Kampf gegen den Terrorismus – und zwar mit Zustimmung Argentiniens (als eines Verbündeten der USA, ohne der Nato anzugehören), das sich vor seinem ökonomischen Zusammenbruch bereit erklärt hatte, an eventuellen Militäraktionen mitzuwirken.

Hauptziel Washingtons ist es, kollektive Verteidigungsstrukturen für multinationale Operationen im Rahmen einer Regionalstrategie zu schaffen. Die Folge ist, dass die Zahl der multilateralen Sicherheitsorganisationen ständig zunimmt. Inzwischen sind dem interamerikanischen Defense Board folgende Organe angegliedert: erstens das 1995 gegründete Committee on Hemispheric Security, zweitens die seit 1995 halbjährlich stattfindenden Konferenzen der Verteidigungsminister Nord- und Südamerikas, die (so der ehemalige US-Verteidigungsminister William Cohen) die Möglichkeit geben sollen, die „persönlichen Beziehungen zu festigen“ und sich auf Maßnahmen zur Krisenbewältigung zu einigen; drittens die regelmäßigen Treffen der Generalstabschefs der nationalen nord- und südamerikanischen Streitkräfte. Viertens hat die Generalversammlung der OAS erst 1999 das interamerikanische Komitee gegen Terrorismus (Cicte) geschaffen, das strukturelle Grundlagen zur Unterstützung aller OAS-Mitgliedsstaaten ausarbeiten soll.

Diese vielen Organisationen reichen allerdings nach Ansicht der US-amerikanischen Strategen nicht aus, die institutionelle Schwäche der OAS-Sicherheitspolitik auszugleichen, denn sie sind nicht verbindlich genug. Aus Furcht vor der Übermacht der USA sind „die Länder Lateinamerikas nicht bereit, im Interesse regionaler Vorteile ihre nationalen Prioritäten zu opfern“7 . Obwohl also grenzübergreifende Armeen und Militäroperationen sowie kollektive Sicherheitsinstrumente noch auf starke Widerstände stoßen, gewinnen sie langsam an Boden. US-Offiziere sind mit einigem Geschick dabei, die Unterstützung ihrer Kollegen zu gewinnen, zumal sie diesen die Möglichkeit eröffnet, ihre Truppen zu modernisieren und zu professionalisieren.

So ist etwa Brasilien im Juni 2000 dem „Protokoll 505“ beigetreten, um sich Waffen und andere Rüstungsgüter zu beschaffen. Als Gegenleistung können die USA nicht nur die brasilianischen Militärstützpunkte nutzen, sondern auch das Satellitenstartgelände Alcantara im Norden des Landes, das sie nun „rund um die Uhr kontrollieren. Kein Brasilianer ist befugt, dieses Gelände ohne Erlaubnis des Pentagons zu betreten.“8 Diese Übernahme von Alcantara provozierte freilich einen Skandal, da weder der Außenpolitische noch der Verteidigungsausschuss des brasilianischen Parlaments über das Abkommen informiert worden waren.

Nach derselben Logik ging der Verkauf von F-16-Kampfflugzeugen an Chile über die Bühne: Die Regierung von Ricardo Lagos beruhigte damit die für ihre Putschgelüste bekannte Armee, und auch die US-Rüstungsindustrie war zufrieden, deren Lobby bekanntlich großen Einfluss auf die Bush-Administration hat.

In diesem Kontext ist schließlich auch der Puebla-Panama-Plan zu erwähnen, der sich auf alle Länder Mittelamerikas und den Südosten Mexikos bezieht und die Neuordnung einer Region vorsieht, die dank ihrer geopolitischen Bedeutung und ihrer Erdölreserven allerlei Begehrlichkeiten weckt. Vor dem Hintergrund dieses Planes erklärt sich auch die Aufstellung von Antiterror-Spezialeinheiten in Mexiko, denn die Unruheprovinz Chiapas grenzt unmittelbar an das betreffende Gebiet. Und weil dem Finanzkapital ungehinderter Zugang zu den strategisch wichtigen Ressourcen dieser Region möglich sein soll, weigert sich die mexikanische Regierung, den Zapatisten irgendeine Form von Autonomie zuzugestehen. Die Südgrenze dieses Handelskorridors zwischen Mexiko und Guatemala soll militärisch gesichert werden, um die Migrationsbewegungen unter Kontrolle zu halten. Die Rüstungskäufe Mexikos sind um 300 Prozent gestiegen,9 während die Rüstungsausgaben aller lateinamerikanischen Länder – nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts – seit den Achtzigerjahren um 59 Prozent angewachsen sind. Die schon immer unpopulären multilateralen Manöver finden immer häufiger statt, wobei die Aktivitäten des Kommandos Süd der US-Armee (Southcom) – oft im Geheimen – die von regionalen Konferenzen beschlossene Politik beeinflussen.

Dieser Wille zur Multilateralität, der als Paradigmenwechsel der US-amerikanischen Doktrin ausgegeben wird, erfüllt einen doppelten Zweck. Zum einen geht es um Kostensenkung, wie ein Analytiker betont: „Es gilt, sparsam mit den Ressourcen des amerikanischen Verteidigungshaushalts umzugehen. Militärübungen mit 32 Ländern durchzuführen wäre zu teuer gewesen.“10 Zum andern geht es den USA darum, Risiken und Verluste zu verteilen, gleichzeitig aber die eigene Präsenz auszuweiten und die unilaterale Kontrolle über Entscheidungen zu behalten: „Washingtons Politik der Multilateralität läuft darauf hinaus, dass die Verbündeten einen Blankoscheck unterschreiben und den angerichteten Schaden begleichen sollen, während gleichzeitig eine Basis für militärische Interventionen geschaffen wird“, behauptet ein Brasilianer.

Die verschwommene Definition von Interventionsgründen ist ein weiterer Grund zur Beunruhigung – zumal die OAS demnächst eine interamerikanische Antiterrorkonvention erarbeiten will. Steven Monblatt, US-Diplomat und Vorsitzender des interamerikanischen Komitees gegen Terrorismus, sprach vor kurzem von zwei Arten Terrorismus auf dem Kontinent: vom „autochthonen Terrorismus, der für die Bestrebungen oder das politische Programm einer in einem einzigen Land verankerten Gruppe steht“, und von einem „internationalen Terrorismus mit weltweit vernetzten Zellen“. Auf den Einwand eines Journalisten, eine allgemein gültige Definition von Terrorismus sei doch sehr schwierig, wollte Monblatt keinen Unterschied zwischen nationalen und anderen terroristischen Gruppen gelten lassen. „Die Sache, die der Terrorismus verteidigt, interessiert uns nicht. Wir interessieren uns nur für die Taten, die er im Namen dieser Sache begeht“, präzisierte Monblatt. Aber wer bestimmt, was ein Terrorist ist? In Brasilien haben die Militärs die Bewegung der Landlosen immer wieder als terroristische Vereinigung bezeichnet. In Mexiko werden den Zapatisten ähnliche Vorwürfe gemacht.

Der National Intelligence Council, Planungsorgan der US-Geheimdienste, und das Zentrum für Militärforschung in Chile haben „eine neue Herausforderung für die innere Sicherheit“ ausgemacht: die Bedrohung durch die indigene Bevölkerung, von Mexiko bis Feuerland.11

Am 20. September 2001 beschäftigte sich das interamerikanische Defense Board mit einem Szenario, das davon ausgeht, die Ausweitung eines Konflikts könne „zu einem überregionalen Krieg mit ethnischen und religiösen Konnotationen führen“. „Ich habe Hugo Chávez und die kolumbianische Guerilla gewarnt“, kommentiert Darc Costa, Koordinator des Zentrums für strategische Studien an der brasilianischen Militärakademie.12

In der Praxis gehen die Dinge bereits zügig voran. Die politische Führung der USA laviert pragmatisch zwischen multilateraler Diplomatie und bilateralen Handelsabkommen, während sie sich gleichzeitig auf ihre lokalen Verbündeten stützt, um die praktische Arbeit voranzutreiben. Ende August 2001 erfuhren die Argentinier zu ihrer Verblüffung, dass auf ihrem Territorium gemeinsame Manöver von 1 300 Soldaten aus neun amerikanischen Ländern, darunter auch den USA, stattgefunden hatten.13

Dieses Manöver – das wichtigste der gesamten Region – lief unter dem Kennwort „Ejercicio Cabanas 2001“. Schauplatz war die Gegend von Salta, also das Epizentrum der Piquetero-Proteste, der von Arbeitslosen errichteten Straßensperren. Schirmherr und Finanzier der Manöver waren die USA, aber noch erstaunlicher war das Szenario: ein imaginärer ethnischer Konflikt zwischen der Unabhängigen Republik Sudistan und der Freien Föderation Sudistan, wobei zwischen den beiden Sudistans eine multinationale UNO-Truppe steht, gemeinsam befehligt von dem US-amerikanischen General Butler, Chef der Southcom-Spezialtruppen, und dem argentinischen General Olivera, Befehlshaber einer Brigade, deren Chef einst der spätere Diktator Videla war.

„Die Ausbildung von Einheiten derselben Sprache und unter derselben Doktrin“, so General Olivera, „könnte der Aufstellung von Einheiten für UNO-Missionen zugute kommen.“ Der argentinische Abgeordnete Torres Molina sah in dem Manöver dagegen faktisch „eine Generalprobe für die Beteiligung Argentiniens an einer multinationalen Eingreiftruppe in Kolumbien“. Und der argentinische Kongress, die einzige Instanz, die ausländischen Truppen das Betreten argentinischen Territoriums erlauben kann, war nicht einmal konsultiert worden.

Nach Ansicht des Friedensnobelpreisträgers Adolfo Pérez Esquivel, des Vorsitzenden des „Dienstes Frieden und Gerechtigkeit“, sind die USA auf eine „Remilitarisierung Lateinamerikas“ aus, da sie „im Hinblick auf dieAusweitung der Freihandelsabkommen eine Zunahme der sozialen Konflikte auf dem Kontinent erwarten“. Der Bericht des interamerikanischen Defense Board vom September 2001 meint dasselbe, wenn er „extreme Armut“, „die Zunahme indigener nationalistischer Bewegungen“ und „die steigende Erwerbslosigkeit“ als potenzielle Ursachen von Instabilität und Gewalt in der Region benennt. Auf der für 2004 in Mexiko geplanten Sonderkonferenz über die Sicherheit des Kontinents soll die Rolle des Defense Board ratifiziert werden. Das wäre dann die einzige gesamtamerikanische Militärorganisation, die „für den Einsatz multilateraler Streitkräfte verantwortlich“ sein und „die effektive Zusammenarbeit zwischen politischen und militärischen Instanzen garantieren“ soll. Man kann diese Entwicklung auch als „Rekolonialisierung“ sehen.

dt. Holger Fließbach

* Dozentin an der Universität Marne-la-Vallée und am Institut des hautes études d‘Amérique latine.

Fußnoten: 1 Gemeint ist der Kampf gegen die „kommunistische Unterwanderung“, der die Unterstützung von diktatorischen Regimes in Lateinamerika rechtfertigte. 2 In: James P. Lucier, „Santa Fe IV – Latinoamérica hoy“, US-Außenpolitischer Ausschuss des US-Senats, Washington 2000. 3 Joseph Tulchin und Ralph Espach, „A call for strategic thinking“, in: „Latin America in the New International System“, Boulder, Colorado, und London 2001. 4 Patrice M. Franko (Hg.), „Towards a New Security Architecture in the Americas. The Strategic Implications of the FTAA“, The CSIS Press, Bd. XXII Nr. 3, Washington 2000. 5 Roger Noriega, „The Western hemisphere alliance: the OAS and US interests“, Heritage Foundation Lecture, Washington, 20. November 2001. 6 Inter-American Defense Board, „Toward a New Hemispheric Security System“, Washington, 6. Sept. 2001. 7 Vgl. Franko, „Toward a New Security Architecture“, a. a. O.,(Anm. 5). 8 „Menaces américaines sur la base d’Alcantara au Brésil“, Espaces latinos, Nr. 188, Lyon, November 2001. 9 Chiapas al Día, Ciepac, Mexiko, 21. November 2001. 10 Franko, „Towards a New Security Architecture“, (s. Anm. 5). 11 Edouard Bailby, Espaces latinos, Nr. 187 (Oktober 2001). 12 Pagina 12.com.ar, 21. September 2001. 13 Mit Truppen beteiligt waren Brasilien, Chile, Peru, Ecuador, Paraguay, Uruguay, Bolivien, Argentinien und die USA; Kolumbien hatte Beobachter entsandt.

Le Monde diplomatique vom 15.02.2002, von JANETTE HABEL