15.02.2002

Argentiniens fatale Fixierung auf den Dollar

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Argentiniens fatale Fixierung auf den Dollar

DIE Peso-Dollar-Parität ist wieder aufgehoben, der argentinische Präsident Eduardo Duhalde spricht gebetsmühlenartig von einem neuen Wirtschaftsmodell, von mehr sozialer Gerechtigkeit und dem Ende der neoliberalen Ära in Argentinien. Der IWF hat seine Verantwortung für die Wirtschaftskrise Argentiniens eingestanden – um gleich darauf Duhalde an seine Pflicht zu erinnern: Es gebe keinen Ausweg aus der Krise, der nicht schmerzen würde. Doch diese Schmerzen hat in Lateinamerika noch immer die breite Bevölkerung zu spüren bekommen, während die privaten ausländischen Gläubiger auf ihre Kosten kommen und auch der IWF seine Bilanz immer wieder ausgleichen kann.

Von MICHEL HUSSON *

Die gegenwärtige Krise in Argentinien hat ihren Ausgangspunkt in der Peso-Dollar-Parität. Die 1991 eingeführte Maßnahme wurde inzwischen wieder rückgängig gemacht – ein vorhersehbarer Schritt, der allerdings nicht die einzige Folge einer verfehlten Wirtschaftspolitik blieb. Die monetären Spannungen offenbaren nur die außen- und binnenwirtschaftlichen Widersprüchlichkeiten des neoliberalen Modells, wobei sich Erstere im Problem der Integration in den Weltmarkt, Letztere im Problem der Verteilung des erzeugten Reichtums äußern. Um diese Widersprüche darzulegen, müssen wir zum Ende der Achtzigerjahre zurückgehen, als die drei großen lateinamerikanischen Länder Brasilien, Mexiko und Argentinien in der Geldpolitik eine entscheidende Wende vollzogen. Infolge der mexikanischen Krise von 1982, in deren Verlauf Finanzminister Jesus Silva den Zinsendienst vorübergehend einstellte und ein Schuldenmoratorium androhte, um den IWF, die Weltbank und Washington zu neuen Finanzhilfen zu bewegen, empfahlen sämtliche Strukturanpassungsprogramme eine Abwertung der Landeswährung. Ihre Logik war auf das Ziel ausgerichtet, Devisen für die Rückzahlung der Auslandsschulden zu beschaffen. Also musste man den Staatshaushalt sanieren, um die „konkurrierende“ innere Verschuldung (der Zentralregierung) einzudämmen und damit der Auslandsschuld die gebührende Priorität zu sichern. Die Binnennachfrage musste also gedrosselt, die Ausfuhr gefördert werden.

Der damit einsetzende Abwertungswettlauf führte in der Tat zu einer Zunahme der Exporte, ließ fast gleichzeitig aber auch die Inflation ansteigen. Zwar senkt eine Abwertung die relativen Ausfuhrpreise, doch im gleichem Maße verteuert sie die Einfuhren, was zum allgemeinen Anstieg des Preisniveaus sämtlicher Güter und Dienstleistungen beiträgt. Hinzu kommt ein weiterer Mechanismus, der kein rein ökonomischer ist: In der Regel geben die Importeure die hohen Preise, die auf die abgewertete Binnenwährung zurückgehen, überhöht an die Kunden weiter und erweitern damit ihre Gewinnspanne auf eine Weise, die man nur als spekulativ bezeichnen kann.

Die Inflation führte auch zu einer schlagartigen Erhöhung des Zinsniveaus. Damit wurde die Bedienung der Staatsschulden erheblich verteuert, was wiederum das Budgetdefizit erhöhte, obwohl der Staatshaushalt – ohne Schuldendienst – häufig ausgeglichen war. Also musste der Staat weitere Kredite aufnehmen, um die inflationär steigenden Zinsen zu bezahlen, was wiederum Ressourcen verschlang, die für die Rückzahlung der Auslandsschulden fehlten.

Der hier skizzierte Kreislauf geriet schnell außer Kontrolle: Die Inflation zehrte die Geldwertsubstanz auf, was wiederum die teuflische Spirale weiter antrieb. Das Ergebnis war in den meisten Ländern eine Hyperinflation, die in Argentinien 1989 auf aberwitzige 4 900 Prozent anstieg und die Gesellschaft an den Rand des Ruins brachte. Ende Mai 1989 wurde die zweitgrößte Stadt Argentiniens, Rosario, von Aufständen und Plünderungen erschüttert, bei deren Niederschlagung es 14 Tote gab. Einen Ausweg aus dem Desaster schien damals die Anbindung der Landeswährung an den Dollar zu bieten. Mexiko vollzog die Wende bereits im Dezember 1987, Brasilien zog 1994 mit dem Real-Plan nach, und in Argentinien wurde die Peso-Dollar-Parität 1991 eingeführt, als Staatspräsident Carlos Menem und Finanzminister Domingo Cavallo das „Konvertibilitätsgesetz“ durchboxten.

Die Erinnerung an die Jahre der „rotierenden Geldpresse“ wurde für die Peronisten zum Kernelement ihrer Propaganda. Obwohl Carlos Menem in den letzten Jahren seiner Amtszeit mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert war,1 hat ihn die argentinische Öffentlichkeit als den Präsidenten im Gedächtnis behalten, der dem Albtraum der Hyperinflation ein Ende bereitete. So erklärt sich auch, dass die Mitte-links-Koalition, die 1999 an die Regierung kam, die Dollaranbindung nicht in Frage stellte und sogar Domingo Cavallo in die Regierung berief.

Eine starke Währung hat nicht nur den Vorteil, den Teufelskreis von Inflation und Abwertung zu durchbrechen, sie reduziert auch den Nominalwert der inneren Staatsschulden und die reale Last der Auslandsverschuldung. Allerdings funktioniert das neoliberale Modell nur unter der Bedingung, dass das chronische Leistungsbilanzdefizit, das infolge der harten Währung eher noch zunimmt, durch einen ständigen Zustrom von Auslandskapital ausgeglichen wird. Der feste Wechselkurs ist so gesehen auch eine bindende Zusage an diese ausländischen Kapitalgeber – eine Art Versicherung gegen die plötzliche Entwertung ihrer Investitionen.

Diesen unbestreitbaren Vorteilen der Wechselkursparität stehen allerdings neue Nachteile gegenüber. Vor allem sinkt die Wettbewerbsfähigkeit der Waren des Hartwährungsland. Im Fall Argentinien machte sich dieser Zusammenhang besonders drastisch bemerkbar. Zwischen 1997 und 2001 stand der Peso-Dollar-Wechselkurs unverändert bei eins zu eins, und die Preise blieben stabil. Der brasilianische Real verlor im selben Zeitraum 60 Prozent seines Dollarwerts, während das inländische Preisniveau um 25 Prozent anstieg. In Dollar gerechnet, hat sich das argentinische Preisniveau damit gegenüber dem brasilianischen verdoppelt. Dieser Verlust an Wettbewerbsfähigkeit spiegelt sich in der Handelsbilanz wider. Die blieb gegenüber den USA aufgrund der Dollarbindung unverändert, aber gegenüber den anderen lateinamerikanischen Ländern – vor allem den Mercosur-Staaten2 und inbesondere Brasilien – sowie gegenüber Europa ist eine deutliche Verschlechterung zu verzeichnen. Im Jahr 2000 machten die argentinischen Ausfuhren gerade einmal 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.

Angesichts des wachsenden Handelsbilanzdefizits kamen bei den Investoren Zweifel auf, ob Buenos Aires auch künftig in der Lage sein werde, die Dollarparität aufrechtzuerhalten und seinen Auslandsverpflichtungen nachzukommen. Während der Krisenmonate ließ sich der Vertrauensverlust Tag für Tag am Barometer der Rating-Agenturen ablesen. Um diese Entwicklung zu stoppen und das Vertrauen der Kapitalmärkte wiederherzustellen, musste man spektakuläre Zinserhöhungen vornehmen. Nur sie boten die Garantie, dass der Wechselkurs nicht plötzlich freigegeben werden musste, und nur sie konnten die unmittelbar drohende Zahlungsunfähigkeit abwenden.3

Die Zinserhöhungen brachten die öffentlichen Finanzen noch mehr aus dem Gleichgewicht. Zwischen 1996 und 2000 verdoppelten sich die staatlichen Zinszahlungen von 4,6 Milliarden auf 9,65 Milliarden Dollar. Die Hilfskredite des IWF, darunter das Ende 2000 ausgehandelte „Rettungspaket“ über 39,7 Milliarden Dollar, wurden von diesem Mahlstrom verschlungen.

Die geschilderten Mechanismen wirken umso unerbittlicher, als nach dem System des Currency Board jeder umlaufende Peso durch einen Dollar Devisenreserven gedeckt sein muss und die Devisenreserven mit dem Stand der Zahlungsbilanz schwanken. So schnappt die Falle der neoliberalen Orthodoxie zu und lässt keinen anderen Ausweg als die Politik des corralito, der Begrenzung von Barabhebungen. Kurzum: Der Peso ist hart, aber es gibt keine Pesos mehr.

Die aussichtslose Suche nach dem optimalen Wechselkurs bestätigt erneut die Unstimmigkeit der Postulate, auf denen die liberale Globalisierung beruht. Der Theorie zufolge sollte sich ein Land wie Argentinien den Regeln des Weltmarkts aussetzen können, und umgekehrt soll die Öffnung für den Wettbewerb als Anreiz dienen, die Produktivität der Landeswirtschaft so weit zu steigern, dass sie sich auf dem Weltmarkt behaupten kann. Dabei rechnet man mit lediglich zeitweiligen Defiziten, die aber durch den Zufluss von Auslandskapital ausgeglichen werden. In der Praxis der real existierenden Globalisierung erweist sich dieses Modell als höchst instabil, da der Wechselkurs widersprüchlichen Anforderungen genügen muss. Auf der einen Seite soll er durch wettbewerbsfähige Preise Käufer anziehen, auf der anderen Seite durch solide Gewinnmargen um Investoren werben. Das erste Ziel ist durch eine eher unterbewertete, das zweite durch eine überbewertete Währung zu erreichen. Da die Grundannahme der neoliberalen Theorie also falsch ist, sehen sich die meisten Länder des Südens genötigt, zwischen den beiden Optionen krisenhaft hin und her zu schwanken.

Die Dollarbindung des Peso war nur um den Preis eines horrenden sozialen Rückschritts möglich. Zwischen 1991 und 1998 verzeichnete Argentinien eine durchschnittliche Wachstumsrate von 5 Prozent (3,4 Prozent in Lateinamerika insgesamt), die Pro-Kopf-Produktivität wuchs um 30 Prozent, aber der Durchschnittslohn ging um 3 Prozent zurück. Hier wird die Logik des neoliberalen Modells überdeutlich: Es begünstigt die zunehmend ungleiche Verteilung des Produktivitätszuwachses. Die Arbeitslosenquote stieg trotz des relativ hohen Wachstums von 7 Prozent im Jahr 1992 auf heute über 17 Prozent, von der Zunahme der Unterbeschäftigung ganz zu schweigen.4 Nutznießer des Modells ist die sehr schmale Oberschicht. Überdies wird durch die sozial inakzeptable Reichtumsverteilung langfristig das Wirtschaftswachstum untergraben. Ein undynamischer Binnenmarkt bietet am Ende keine Investitionsanreize mehr und führt dazu, dass die Eliten sich als Rentiers auf ihren Dividenden- und Zinseinkommen ausruhen. Mitten in der Krise zeigte das Börsenbarometer in Buenos Aires auf Hausse, weil leicht wiederverkäufliche Dollartitel gekauft wurden. Die Kapitalflucht belief sich nach Schätzungen auf insgesamt 120 Milliarden Dollar (ungefähr genauso viel wie die Staatsschuld), wobei 24 Milliarden allein zwischen März und Dezember 2001 abflossen.

Im Staatshaushalt trafen die Widersprüche zwischen außenwirtschaftlich-monetären und binnenwirtschaftlich-sozialen Anforderungen aufeinander, insofern die ultraliberale Wirtschaftspolitik die Einkommen der Besitzenden zunehmend von der Steuerpflicht befreite. Der Leiter der Fiskalabteilung beim IWF, Vito Tanzi, erklärte gegenüber der Tageszeitung Clarin (11. August 1997): „Das aktuelle Steuersystem hat es vielen Leuten ermöglicht, sich zu bereichern, weil sie keine Steuern zahlten, vor allem denjenigen, die hohe Einkommen aus Kapitalgewinnen, Zinsen und Dividenden hatten.“ Das Ausmaß der Krise erklärt sich auch aus diesem Verhalten der Elite: Steuerbefreiung, Kapitalflucht und natürlich Korruption.

Aus der geschilderten Verkettung von außen- und binnenwirtschaftlichen Widersprüchen ergibt sich eine Vielfalt unterschiedlicher Interessenlagen. Die Beschäftigten, Kleinsparer und Rentner, Banken und Auslandsgläubiger, die binnen- und die weltmarktorientierten argentinischen Kapitalisten, die spanischen und die französischen Multis und ihre Regierungen, der IWF und andere multilaterale Organisation, das US-Finanzministerium – all diese „Akteure“ sind auf die eine oder andere Weise von der Geldpolitik betroffen.

Die wirtschaftspolitischen Differenzen zwischen Argentinien und Brasilien stellen den „Gemeinsamen Markt des Südens“ (Mercosur) auf ein harte Probe. Argentinien beschloss protektionistische Maßnahmen, um sich gegen den Zustrom von brasilianischen Waren zu schützen, und die Intensivierung des Handels innerhalb des Mercosur ist seitdem praktisch nicht mehr vorangekommen. Brasilien geriet zunehmend in die Isolation: Das Land zeigt Vorbehalte gegenüber der für 2005 vorgesehenen „Gesamtamerikanischen Freihandelszone“ (FTAA) und steht der fortschreitenden Dollarisierung des lateinamerikanischen Wirtschaftsraums ziemlich distanziert gegenüber.

Zwei Dinge gilt es auseinander zu halten: Dollarisierung und Wirtschaftsintegration. Die Vereinigten Staaten befürworten die Dollarisierung nicht um jeden Preis. Sie würden den Dollar gern als Bezugswährung sehen, wollen ihrer Zentralbank jedoch unter keinen Umständen die Funktion eines lender of last ressort aufbürden. Der Meltzer-Bericht über die IWF-Reform5 lässt die Frage „feste oder flottierende Wechselkurse“ offen. Argentinien könnte die Krise nutzen, um dem Mercosur neues Leben einzuhauchen und die gemeinsame Geldpolitik auf eine vernünftige Grundlage zu stellen. Dies würde voraussetzen, gemeinsam mit Brasilien einer dollarisierten FTAA eine Absage zu erteilen. In jedem Fall steht zu erwarten, dass die Dollarisierung durch das argentinische Beispiel einiges an Attraktivität verlieren wird. Einstweilen herrscht de facto ein Schuldenmoratorium. Das ließe Zeit, um herauszufinden, wer die Last der Abwertung tragen soll: die „kleinen Leute“ oder die „oberen Zehntausend“. Präsident Eduardo Duhalde steht von zwei Seiten unter Druck. An seiner Zwangslage, eingeklemmt zwischen den Wünschen der argentinischen Bevölkerung und denen des IWF und der EU-Kommission6 , zeigt sich die ganze Widersprüchlichkeit eines labilen Entwicklungsmodells.

dt. Bodo Schulze

* Wirtschaftswissenschaftler, Paris.

Fußnoten: 1 Am 21. Januar 2002 sperrte die Schweizer Justiz zwei Konten des Expräsidenten mit rund 10 Millionen Dollar. Anfang Dezember vorigen Jahres wurde Menem nach 167 Tagen Haft wieder auf freien Fuß gesetzt. Ihm wurde vorgeworfen, zwischen 1991 und 1995 illegal Waffen an Kroatien und Ecuador vermittelt zu haben. 2 Der „Gemeinsame Markt des Südens“ (Mercosur) umfasst Argentinien, Brasilien, Uruguay, Paraguay. Mit Chile und Bolivien bestehen Assoziationsabkommen. 3 Bei der Umschuldungsaktion vom Juni 2001 wurden beispielsweise bis 2005 fällige Schuldtitel über 29,5 Milliarden Dollar in Papiere mit bis zu 30-jähriger Laufzeit umgewandelt. Als „Gegenleistung“ wurden höhere Zinssätze vereinbart – durchschnittlich 15 Prozent. 4 UN-Wirtschaftsorganisation für Lateinamerika (CEPAL), Estudio económico de América Latina y el Caribe 2000–2001, http://www.eclac.cl/estadisticas. 5 http://www.house.gov/jec/imf/meltzer.pdf. 6 Die EU-Kommission hat den Duhalde-Plan kritisiert, angeblich wegen „mangelnder Glaubwürdigkeit“, in Wirklichkeit wegen fehlender Garantien für spanische und französische Vermögen (El País, 16. 1. 2002).

Le Monde diplomatique vom 15.02.2002, von MICHEL HUSSON