Zehn Tage, die das Land erschütterten
Von DIANA QUATTROCCHI-WOISSON *
ES waren gewiss nicht „zehn Tage, die die Welt erschütterten“, aber für die argentinische Gesellschaft waren es zehn Tage eines so dramatischen Gesellschaftsbebens, dass künftig nichts mehr so sein wird, wie es war. Man wusste schon vorher, dass die Demokratie die tief greifenden ökonomischen Probleme Lateinamerikas nicht zu lösen vermocht hatte. Aber man wusste noch nicht, dass die argentinische Demokratie, kaum 18 Jahre alt, als Antwort auf den Zusammenbruch eines vom IWF abgesegneten Wirtschaftssystems innerhalb von zehn Tagen zwei Regierungen stürzen konnte. In der argentinischen Geschichte des 20. Jahrhunderts war das ein Novum. Es gab keinen Staatsstreich des Militärs, sondern einen Putsch der Zivilisten. Zum ersten Mal wurde die Lücke, die sich bei den ausnahmslos unpopulär gewordenen Politikern des bürgerlich-radikalen wie des peronistischen Lagers auftat, nicht durch einen Retter des Vaterlands in Uniform ausgefüllt.
Der Ablauf der Ereignisse ist hinreichend bekannt. Angesichts der Ladenplünderungen vom 19. Dezember 2001 in mehreren Städten des Landes hatte Expräsident Fernando de la Rúa die ausgehungerten Leute als „Feinde der Republik“ gebrandmarkt und den Ausnahmezustand verhängt. Die allgemeine Empörung, die er durch seine Rede auslöste, führte zu einer denkbar friedfertigen, originellen und demokratischen Revolte. Unter ohrenbetäubendem Kochtopfgetrommel – dem cacerolazo – zogen im ganzen Land tausende Argentinier durch die Straßen und forderten den Rücktritt der Regierung, die zwei Jahre zuvor mit 48 Prozent der Stimmen die Wahlen gewonnen hatte.1
In manchen verharmlosenden Kommentaren wurde behauptet, es handele sich um einen spontanen Protest der Mittelklasse gegen die verordnete Beschränkung der Barbeträge, die man von den Bankkonten abheben durfte. Tatsächlich war es eher ein Bündnis zwischen den ärmsten und am stärksten marginalisierten Teilen der Bevölkerung und einer städtischen Mittelschicht, die sich selbst auf dem Weg der Verarmung befindet. Was haben die Menschen an dem Tag mit Begeisterung gesungen? Die Nationalhymne und ein beißendes Spottlied auf den von der Obrigkeit verordneten Ausnahmezustand. In Windeseile reichte Wirtschaftsminister Domingo Cavallo seinen Rücktritt ein – derselbe Mann, der schon den Militärs, den Peronisten und den Radikalen gedient hatte und der Chefideologe des verabreichten „Wundermittels“ war: eines beispielhaften Neoliberalismus, der das ganze System der staatlichen Regulierung, das ganze Netz der sozialen Absicherung ausgehebelt und zerschlagen hat.
Gestärkt durch Cavallos Demission, forderte das Volk am 20. Dezember auch den Rücktritt von de la Rúa. Dieser autistische Präsident hatte nichts verstanden von der Hoffnung auf Veränderung, der er seinen Wahlsieg von 1999 verdankte. Und ebenso wenig hatte er die Botschaft der Stimmzettel bei den Parlamentswahlen vom 14. Oktober 2001 vernommen – eine Sturmflut von Enthaltungen und ungültigen Stimmen (in manchen Provinzen 40 Prozent), die man als „Stimmen des Zorns“ beschrieben hat. Um die fröhliche Stimmung auf den Straßen war es bald geschehen, die Repression wurde zusehends brutaler, die berittene Polizei ging mit Gewalt gegen die Menge vor und griff die „Mütter der Plaza de Mayo“ ebenso an wie die bekanntesten Aktivisten der Menschenrechtsorganisationen. Die vorläufige Bilanz lautete: über 30 Tote und tausende von Verhafteten in den Gefängnissen. Brennende Autos und eingeschlagene Schaufenster ließen das Schlimmste befürchten. Man kann von Glück sagen, dass der Rücktritt de la Rúas noch rechtzeitig kam, um die Lage zu entspannen.
Jedes große historische Ereignis muss konspirative oder pessimistische Hypothesen provozieren. Es hat lange gedauert, bis die Protagonisten der historischen Geburt des Peronismus am 17. Oktober 1945 in der argentinischen Geschichtsschreibung anders charakterisiert wurden als „eine Horde armseliger Hungerleider, die von der Polizei und den Bürokraten manipuliert worden sind“. Auch nach den jüngsten Ereignissen haben sich schon einige Stimmen zu Wort gemeldet, die behaupten, der Aufruhr sei das Werk eines von Peronisten oder nostalgischen Militärs manipulierten Haufens. Nach einer etwas freundlicheren Version ist der ganze Protest nur die Verzweiflungstat einer orientierungslosen Menge, die keinerlei politische Idee verfolgt.
Die Leitartikler der Traditionszeitungen haben eher auf die Risiken der Entgleisung verwiesen, die jede Massenbewegung mit sich bringe, um mit erhobenem Zeigefinger zu warnen: In einer Demokratie seien es eben die Repräsentanten des Volkes, die – als gewählte Vertreter – regieren und über die Politik befinden.
War dies also eine aufrührerische oder antidemokratische Bewegung, die in zehn Tagen zwei Regierungen gestürzt hat? Im Gegenteil! Argentinien hat, erschüttert in den Fundamenten, im Mark seiner politischen Kultur, eine große demokratische Neuheit hervorgebracht und den historischen Kreislauf des 20. Jahrhunderts endgültig abgeschlossen. Im Angesicht der Katastrophe – des vollständigen Zusammenbruchs der sozialen Sicherheit, des wirtschaftlichen Bankrotts, der fast die Hälfte der Bevölkerung in Elend und Arbeitslosigkeit gestürzt hat, der unhaltbaren und unbezahlbaren Staatsverschuldung – haben sich die Argentinier weder einem Retter in Uniform noch einem Messias in Zivil ausgeliefert. Sie haben die autistische Regierung der Radikalen ebenso verstoßen wie die peronistische Spitzenriege, die sich als Ersatz anbot.
Am 23. Dezember vom Kongress berufen, waren Übergangspräsident Rodríguez Saá und sein Geschäftigkeit mimendes Schmierenkabinett so dreist, die korruptesten Figuren der Vergangenheit auf die öffentliche Bühne zurückzuholen. Eine Reihe spektakulärer Ankündigungen reichte nicht aus: Schuldenmoratorium, Einsparungen bei den Gehältern der Spitzenfunktionäre, öffentliche Entschuldigung bei den „Müttern der Plaza de Mayo“ für die Brutalität der Polizei, Vorschläge zur Schaffung von einer Million neuen Arbeitsplätzen, Auslieferung der argentinischen Militärs, die wegen Menschenrechtsverletzungen vor europäischen Gerichtshöfen angeklagt sind. Trotz alledem zog das Volk ein zweites Mal mit klappernden Kochtöpfen auf die Straße: nicht um die angekündigten Maßnahmen zu verhindern, sondern um die korrupten Politiker und Diebe von der Bühne zu vertreiben. Dabei hatte im Vorfeld eine pessimistische Einschätzung die Runde gemacht: „Wieder einmal“, so hieß es, „hat ein gerissener Peronist von der alten Garde und ein korrupter Demagoge obendrein eine demokratische Erhebung für seine Zwecke vereinnahmt.“
Diese zweite Etappe ist weniger bekannt und wurde von der internationalen Presse weniger genau beobachtet. Sie war vor allem nicht so spontan wie die erste. Für den 28. Dezember hatten verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen zu zwei großen Demonstrationen aufgerufen: zu einer Versammlung vor den Gerichten, um die Absetzung des Obersten Gerichtshofs zu fordern, und zu einer „Ökumenischen Feier der Unschuldigen Kinder“ auf der Plaza de Mayo in Buenos Aires.
Kochtopfkonzerte und Straßenblockaden
ES war dieses zweite Kochtopfkonzert, das Rodríguez Saá zum Rücktritt zwang. Die Liste derer, die den Aufruf zum zweiten cacerolazo unterzeichnet haben, ist beeindruckend. Sie reicht von namhaften Vereinen zur Verteidigung der Menschenrechte bis zu zahllosen Nichtregierungsorganisationen mit fantasievollen Namen wie „Weg der Sonne“, „Es leben die Kinder“, „Aufwachsen mit Liebe“, „Stiftung der offenen Tür“, „Stiftung der guten Wellen“, „Gleichheit der Rechte“, „Stiftung Che Pibe“ usw. Für die Analyse der zehntägigen Volkserhebung sind zudem die piqueteros wichtig, die Arbeitslosen also, die mit ihren tausenden von Straßenblockaden schon seit Monaten auf ihre Probleme aufmerksam machen wollten. Mit ins Bild gehört auch das öffentliche Auftreten zahlreicher Vereine, die schon lange im Bereich der Nächstenhilfe und sozialen Wiedereingliederung tätig sind, oder das Referendum der „Nationalen Front gegen die Armut“ (Frenapo), das Mitte Dezember 2001 mit fast 3 Millionen abgegebenen Stimmen großen Zuspruch fand.2
Die jetzige Regierung des Peronisten Eduardo Duhalde ist das Ergebnis eines Abkommens zwischen den beiden traditionellen Parteien – den Radikalen und den Peronisten – mit Unterstützung der katholischen Kirche. Institutionell verlief die Sache wie gehabt: Das Parlament nahm die Rücktrittserklärungen an und wählte einen Übergangspräsidenten. Duhalde fand bei seiner Wahl eine breite Basis. Er war der einzige Politiker der Vergangenheit, der für die Rolle des Feuerwehrmanns in Frage kam. Doch obwohl er mit großer Mehrheit ins Präsidentenamt gehoben wurde, bleibt in beiden Kammern ein Kern von etwa vierzig Abgeordneten, die sich seiner Kandidatur widersetzt haben und Neuwahlen befürworten.
Die Peso-Dollar-Parität hat nicht überlebt, die Abwertung hat am Ende doch stattgefunden.3 Und Schritt für Schritt werden die Maßnahmen eines nationalen „Rettungsplans“ in die Wege geleitet. Es ist müßig, über die künftige Politik der neuen Regierung oder die Erfolgsaussichten ihres Wirtschaftsprogramms zu spekulieren. Es gab schlicht keine Alternative. Die politische Klasse hat diesen Anlauf zu ihrer letzten Chance erklärt. Die Bevölkerung hat es zur Kenntnis genommen, die Kochtöpfe aus der Hand gelegt – die sie aber wohlweislich griffbereit hält – und beschlossen, sich um ihre dringendsten Probleme selbst zu kümmern. Die Akteure dieser zehn Tage sind sich ihrer Stärke bewusst geworden und wollen sich außerhalb der alten Parteien organisieren. Sie wollen bei den wichtigen ökonomischen und politischen Entscheidungen ihr Gewicht in die Waagschale werfen (im Augenblick tun sie dies über eine Art Vetorecht auf der Straße). Die zweite große Neuheit: Sie haben angefangen zu sprechen, Versammlungen auf der Straße oder im Viertel abzuhalten, wo kühne und neuartige Ideen zur Sprache kommen.
In Argentinien hat es im 20. Jahrhundert dreizehn Präsidentschaftswahlen gegeben, die erste 1916, die letzte 1999. Sechsmal haben die Kandidaten der Radikalen Partei gesiegt, sechsmal die der peronistischen Partei (Juan Domingo Perón selbst wurde dreimal gewählt). Doch bei den jüngsten Ereignissen stimmte die Menge wiederholt Sprechchöre an: „Weder Radikale noch Peronisten!“
Es braucht sicher seine Zeit, bis sich eine neue politische Kraft organisieren kann. Und während einer Übergangsphase werden Altes und Neues noch nebeneinanderher laufen, wie auch schon in anderen, vergleichbaren historischen Situationen. Doch allem Pessimismus zum Trotz, den die unübersehbaren Spuren der Vergangenheit bei den Intellektuellen und Kopfarbeitern Argentiniens hervorrufen, wächst eine neue, in der Demokratie geborene Generation heran. Wenn am Ende nicht der soziale Zerfall dominiert, dann hat Argentinien die Chance, eine neue Verbindung zwischen dem Sozialen und dem Politischen zustande zu bringen.
dt. Grete Osterwald
* Historikerin und Forscherin am CNRS, Paris; Leiterin des Observatoire de l’Argentine Contemporaine (Paris).