Von Gott und den Peronisten verlassen
SEIT Beginn der Militärdiktatur 1976 hat Argentinien ein Vierteljahrhundert lang seine Staatsverschuldung vorangetrieben. In dieser ganzen Zeit sind die Einnahmen vorzugsweise in privilegierte Wirtschaftszweige geflossen, der Staat hat mehr und mehr abgedankt, die Industrieproduktion schrumpfte – bis im Dezember des letzten Jahres die Bevölkerung auf die Barrikaden ging. Die beiden verfeindeten großen Traditionsparteien Argentiniens – die Peronisten und die rechtsbürgerliche Radikale Partei – einigten sich in Windeseile auf einen Konsenskandidaten, und am 1. Januar wurde der Peronist Eduardo Duhalde zum neuen Staatspräsidenten gekürt. Doch die Bürgerproteste zeigen, dass gerade auch die beiden großen Parteien an Vertrauen eingebüßt haben. Die politische Klasse mit ihrer Arroganz und ihrer Vetternwirtschaft hat den Bogen überspannt.
Von PIERRE KALFON *
Lange Zeit kamen sich die Argentinier – vor allem die in Buenos Aires – wie die Bewohner einer „Insel“ vor: Durch einen wirtschaftlichen und kulturellen Ozean von der gesamten amerikanischen Welt getrennt, sahen sie sich eher als verpflanzte Europäer denn als Lateinamerikaner wie ihre Nachbarn ringsum. Gott war Argentinier und der Reichtum des Landes war unerschöpflich. Überzeugt von ihrem Überfluss und ignorant gegenüber den alten kreolischen Wurzeln der Nation, haben sie jede Gemeinsamkeit mit der Mestizenbevölkerung des Kontinents barsch von sich gewiesen und überheblich erklärt: „Wir sind das einzige weiße Land südlich von Kanada …“
Heute, nach den schon historischen Tagen vom Dezember vorigen Jahres, sind diese schönen Überzeugungen dahin. Wenn man davon ausgeht, dass es die Menschen sind, die das Wirtschaftsleben gestalten, muss man, um die gegenwärtige Krise zu begreifen, zunächst die Argentinier selbst besser verstehen. Wer sind sie? Woher kommen sie? Wie konnten sie in einen solchen Zustand von Verzweiflung, Wut und Depression geraten, dass sie vor den Banken mit gesenkten Köpfen in brütender Sonne Schlange stehen oder in ihrer Not die Supermärkte plündern?
Argentinien galt seit je als Durchgangsstation. Die Konquistadoren waren nur in der Absicht gekommen, sich mit Gold einzudecken und wieder abzufahren. Um keinen Preis der Welt wären sie vom Pferd gestiegen, um sich zur Landarbeit herabzulassen und den Boden zu bestellen, so fruchtbar er auch sein mochte. Die Gauchos, die wilden freien Reiter der argentinischen Folklore, haben diese Mentalität geerbt. Zur Zeit der Kolonisation waren sie nur arme, aber stolze Mestizen. Später, als sich die Rinderherden mehrten und sogar die Bettler auf Pferderücken saßen, boten die Gauchos ihre Dienste gelegentlich den reichen Viehzüchtern an, denen die großen estancias gehörten. Doch kaum hatte ein Goucho ein bisschen Mate und Tabak in der Tasche, ritt er querfeldein wieder davon, in der Gewissheit, in dieser „Hörnerwüste“, der gottgesegneten Prärie, mühelos überleben zu können.
Im 19. Jahrhundert eroberte die Armee des jungen Staates die ganze pampa húmeda – den besten, feuchten Teil der Pampa –, indem sie mit Säbeln und Remingtongewehren erbarmungslos die dort heimischen Indianer dezimierten. Unmittelbar nach dem Ende dieses Western im Jahr 1879 öffnete sich Argentinien für eine „Einwanderungswelle“, die alles mitriss, alles umwälzte und das Land in die moderne Zeit mitnahm.
Es kann nicht genug betont werden, dass Argentinien von Einwanderern geprägt, verwandelt und von Grund auf neu gestaltet wurde. Nationale Größen wie Domingo Faustino Sarmiento oder Juan Bautista Alberdi hatten von angelsächsischen Zuwanderern geträumt. Doch von den Schiffen stiegen arme Bauern aus Süditalien, dem spanischen Galicien, dem Südwesten Frankreichs, russische, polnische Juden, Syrolibanesen und Kroaten.
Im Jahr 1850 zählte die Bevölkerung des Landes keine 800.000 Seelen. 1914 hatte sie sich verzehnfacht – auf 8 Millionen. Jeder Dritte war ein Fremder, in Buenos Aires sogar jeder Zweite. Aber die rasche Integration, die sich unter solchen Umständen hätte vollziehen können, fand nicht statt. „Kleine“ Grundstücke zu erwerben war unmöglich. Alle guten Böden waren bereits der Agraroligarchie der Großgrundbesitzer, den estancieros, in die Hände gefallen. Um sich zu bereichern, musste man schon vorher reich sein.
Latifundienwirtschaft und Landflucht
IN dem Boden, der den Menschen nicht gehört, können sie keine Wurzeln schlagen. Die Latifundienwirtschaft hat die Einwanderer auf die Städte zurückgeworfen, auf den Handel, den öffentlichen Dienst, die freien oder kleingewerblichen Berufe. Dort gingen sie letztlich im städtischen Proletariat auf – oder aber in einem vielgestaltigen urbanen Mittelstand, der sich der Radikalen Partei in die Arme warf. Bei den denkwürdigen, weil ersten freien und geheimen Wahlen von 1916 brachte die neue Mittelschicht einen der Ihren an die Macht: Hipólito Yrigoyen, radikaler Archetypus des aus der Ferne angelandeten Argentiniers.
Ein goldenes Zeitalter beginnt. Buenos Aires, bisher nur ein „großes Dorf“, wird zu einer modernen Hauptstadt europäischen Stils. Von ihrem Hafen, der das Nervenzentrum bildet, führen die großen Eisenbahnstrecken in die reichsten ländlichen Gebiete, um Fleisch, Getreide, Wolle und Leder nach Europa zu exportieren, das sich nur mühsam von einem verzehrenden Weltkrieg erholt. Ausländisches Kapital strömt ins Land. Banken und Aktiengesellschaften schießen aus dem Boden. Jeder „macht Geschäfte“, und bald liegt Argentinien mit seinen Wachstumsindikatoren und seiner Alphabetisierungsrate weit vor dem Rest des Kontinents.
Als die Krise von 1929 dem Konsum und den Krediten ein Ende setzt, können sich die Radikalen nicht mehr behaupten. 1930 kehrt mit einem Militärputsch das alte konservative Argentinien der großen estancieros zurück. Eine „schändliche Dekade“ lang bleiben die nationalistischen Generäle an der Macht. Hatte Gott Argentinien vergessen? Noch nicht. Der Zweite Weltkrieg kommt gerade rechtzeitig, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Und 1943 hält ein obskurer germanophiler Oberst, der gerade eine Lehrzeit im Italien Mussolinis und im franquistischen Spanien absolviert hat, seinen Einzug in die Politik: Juan Domingo Perón. Und er verfällt auf den genialen Schachzug, das staatliche „Sekretariat für Arbeit“ in eine schlagkräftige Waffe zur Umwälzung der argentinischen Gesellschaft zu verwandeln.
Auf dem Land werden proletarisierte Gauchos zu elenden peones herabgewürdigt. In den Städten dominiert ein Mittelstand von Bürokraten und kleinen Angestellten. An den Rändern von Buenos Aires sammeln sich, notdürftig untergebracht und schlecht bezahlt, die Arbeitskräfte einer Leichtindustrie, die im Sinne der „Importsubstitution“ den durch den Weltkrieg unterbrochenen Güterimport ersetzt. Für diese neuen Arbeiterschichten interessieren sich weder die bürgerlichen Radikalen noch die in einer „europäischen“ Ideologie verhafteten Linksparteien. Einige spektakuläre Maßnahmen – Lohnerhöhungen, geregelter Arbeitstag, Tarifverträge und eine Legalisierung der bislang kaum geduldeten Gewerkschaften – verschaffen Perón auf Anhieb eine so beunruhigende Popularität, dass die Generäle an der Macht ihn „entlassen“.
Und jetzt geschieht etwas, was Buenos Aires noch nie erlebt hat. Von überall her, aus den Elendsquartieren der Vororte, strömt der berüchtigte „Pöbel“ herbei, zieht die Hemden aus, denn es ist ein heißer Tag, und bemächtigt sich der Stadt, bis seine Forderung erfüllt ist: die Rückkehr des „tapferen Generals“, der so viel für die kleinen Leute getan hat. Schließlich hat er ihnen nicht nur einen besseren Lebensstandard verschafft, sondern auch etwas gegeben, was sie nie vergessen und an die folgenden Generationen weitergeben werden: das große Gefühl einer neuen Würde. Es ist der unglaubliche 17. Oktober 1945, der Tag der descamisados – der „Hemdlosen“. Das Gründungsdatum des „Peronismus“, der größten Massenbewegung der argentinischen Geschichte, die seither eine wesentliche Rolle im politischen und sozialen Leben des Landes spielt. Perón wurde 1946 mit allen Ehren zum Präsidenten gewählt und 1951 nach einer Ad-hoc-Verfassungsänderung wiedergewählt.
Anfangs erlaubte der unerhörte Wohlstand Argentiniens, das dem Europa der Nachkriegszeit als Lieferant von Nahrungsmitteln und Textilien die Preise seiner Exportgüter diktierte, dem Präsidenten-General eine Politik der massiven Verstaatlichung und einen Populismus sui generis. Doch dessen wichtigste Züge waren dennoch dem klassischen Faschismus entlehnt: die charismatische Bindung an den líder, die „Vergewaltigung der Massen“ durch eine allgegenwärtige Propaganda, die korporatistischen Organisationen, um den Gewerkschaftsapparat kontrollieren zu können und zugleich den Schulterschluss mit den Arbeitgebern zu ermöglichen. „Es heißt immer, ich sei ein Feind des Kapitals […], aber Sie werden sehen, meine Herren, dass es für die Geschäftsleute keinen besseren Interessenvertreter gibt als mich“, hatte Perón ihnen schon 1944 verheißen und hinzugefügt: „Die Arbeiter brauchen eine Führung des Herzens, damit sie besser arbeiten. […] Wer Arbeiter unter seinem Kommando hat, muss sie auf diesem Wege erreichen, um sie zu beherrschen.“1
Die zehn Jahre peronistischer Herrschaft standen ganz im Zeichen dieses vollendeten Zynismus, gepaart mit einer rührseligen Demagogie und absoluter Skrupellosigkeit, was die ethischen Kategorien der Granden des Regimes und ihrer Clans betraf. Vetternwirtschaft und Unterschlagung waren nicht mehr das Privileg der „Spitze der Pyramide“, sondern beherrschten nun das gesamte politische Leben. Und sie prägen den Charakter und das Verhalten der argentinischen Gesellschaft bis zum heutigen Tage.
Während sich Europa nach und nach vom Krieg erholte und seine Importe reduzierte, steuerte die peronistische Freigebigkeit das Land langsam, aber sicher in Richtung Krise. 1955 verbündete sich die konservative Bourgeoisie mit der aristokratischen Marine und zwang Perón, in Schimpf und Schande das Land zu verlassen. Doch der Peronismus überlebte in den Herzen der kleinen Leute und bei einem Teil der Mittelschicht. Die wollten alle Zumutungen des Peronismus möglichst schnell vergessen, um nur die glitzernden Dinge des Wohlfahrtsstaates in der Erinnerung zu behalten, von denen ja eine fortschrittliche Gesetzgebung noch immer zeugte.
Seit dieser Zeit lässt sich das politische Leben Argentiniens nur noch als postperonistisch definieren. Nachdem der alte líder aus dem Exil hatte zurückkehren dürfen, wurde er 1973 noch einmal mit 62 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Er schaffte es, indem er sich als Fürsprecher aller seiner Anhänger ausgab, auf der Linken wie auf der Rechten. Im Ernstfall entschied er sich natürlich für die Rechten – die Arbeitgeber, den Gewerkschaftsapparat der CGT und die Armee –, während er mit den montoneros brach, der linksperonistischen Jugend, die von einer „sozialistischen Heimat“ träumte. Kurz nach Peróns Tod übernahm die Armee erneut das Kommando, um den „inneren Feind“ ein für alle Mal auszumerzen. Die sieben grauenhaften, die sieben „bleiernen Jahre“, dauerten von 1976 bis 1983. Die Junta ließ über dreißigtausend Menschen verschwinden; Intellektuelle und Freiberufler strömten zu tausenden ins Exil.
Als die Militärs, diskreditiert durch das jämmerliche Scheitern ihres unsäglichen Falklandkriegs (1982) gegen die Engländer, wieder einer Zivilregierung weichen mussten, war das Argentinien, in dem der Radikale Raúl Alfonsin an die Regierung kam, nicht mehr dasselbe. Von der Repression traumatisiert, bekommt das Land bereits die ersten Auswirkungen des ökonomischen und finanzpolitischen Liberalismus zu spüren. Die Mittelschicht schrumpft, erlebt die Anfänge einer wirklichen Armut, und die soziale Kluft ist tiefer geworden: 6,5 Prozent der Reichsten verfügen über ein tägliches Einkommen von 95,60 Dollar; das ist mehr als das Dreißigfache der 3,20 Dollar, die den 14,6 Prozent der Ärmsten zur Verfügung stehen.2 Unter der Diktatur hatten die Argentinier ihren Finanzminister „Hood Robin“ getauft, weil er im Gegensatz zu Robin Hood „die Armen beraubte, um die Taschen der Reichen zu füllen“.
Die Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1983 hat an der Herrschaft des Kapitals über die Arbeit nichts geändert. Finanzspekulationen bringen nun einmal mehr als die industrielle Produktion und die Erträge aus Ackerbau und Viehzucht, zumal wenn die Gewinne ins Ausland wandern. Der peronistische Präsident Carlos Menem kann mit Hilfe der Dollarbindung des Pesos zwar eine dreistellige Inflationsrate abwenden, aber er legt damit eine Zeitbombe. Die überteuerten, vom Protektionismus der USA und Europas behinderten Exporte stagnieren, während zugleich die Importe steigen.
Binnen kürzester Zeit hat Menem alles privatisiert, was Perón verstaatlicht hatte, nicht ohne – so behauptet man in Buenos Aires – einen Teil des 40-Milliarden-Dollar-Erlöses in die eigene Tasche abzuzweigen. Er verdoppelt die Auslandsverschuldung, behauptet den erfolgreichen Sprung Argentiniens in die „erste Welt“, lässt das Land in künstlichem Überfluss leben und benimmt sich selbst wie ein Mafiaboss. Es ist nicht lange her, dass sein ehemaliger Vizepräsident Eduardo Duhalde erklärte: „Wir sind eine Scheißführungsschicht, und ich gehöre dazu.“3 Kaum hat der Kongress ihn an die Spitze des Staates befördert, hat Duhalde auch schon einen Schuldigen gefunden: den Liberalismus der Menem-Ära, der das heutige Argentinien in ein „fremdbestimmtes“ Land verwandelt habe. Armes Argentinien – so fern von Gott und dem Internationalen Währungsfonds so nahe!
Allzu leicht vergisst man, dass die argentinische Gesellschaft im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts tief greifende Veränderungen erfahren hat. Eine massive Marginalisierung hat nicht nur die unteren Bevölkerungsschichten erfasst, sondern auch den berühmten Mittelstand, auf den das Land so stolz war. Die erste Generation der Kinder dieser „Neuarmen“ ist herangewachsen, ohne von dem einst erfolgreichen Bildungssystem zu profitieren, das zunehmend in Verfall geraten ist. Und zudem haben die Opfer der Diktatur – die Toten, die Verschwundenen und all jene, die ins Exil geflohen sind – eine „Generationslücke“ hinterlassen, die schwer zu füllen ist.
Jenseits der Wirtschafts- und Finanzkrise erlebt Argentinien offenbar eine erneute Krise der Werte, die dieses Mal zwar weniger sichtbar, aber doch höchst real ist. Diese ethische Krise hat in Argentinien eine lange Geschichte und wurde durch die peronistische Demagogie noch zusätzlich verschärft. Wie steht es um den Wert der Arbeit, wenn es als naiv gilt, seinen Lebensunterhalt mit redlicher Arbeit zu bestreiten, wenn die Gesellschaft in der Überzeugung lebt, seit je liege der Reichtum des Landes sozusagen vor der Tür und müsse nur eingesackt werden? Wie steht es um die ethisch-moralischen Werte eines Systems, in dem es gang und gäbe ist, das Gesetz mit allen Tricks zu umgehen und nötigenfalls Beziehungen spielen zu lassen? Wo bleibt der Bürgersinn, wenn sich alle weigern, ihre Steuern zu bezahlen und ihre Gewinne im Land zu investieren, und sie lieber in ein Steuerparadies bringen? Und was ist aus den Werten im streng semantischen Sinn geworden? Zu den übelsten Taten der peronistischen „Gerechtigkeitspartei“ gehört es, die ureigenen Schlüsselbegriffe der sozialistischen Ideologie so verdreht und in den Schmutz gezogen zu haben, dass es heute nötig ist, die Bedeutung der Wörter immer wieder neu zu definieren. So dass heute – in einer Zeit, in der die Korruption und die Ungerechtigkeiten ständig zunehmen – der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ bei jeder Erwähnung genauer erläutert werden muss.
Müssen wir deshalb das Vertrauen in Argentinien aufgeben? Sicher nicht. Obwohl es an unmittelbaren Perspektiven fehlt, hat das Land noch eine Überfülle von Talenten. Und die Krise scheint sogar die kulturelle Kreativität und politische Energie einer Zivilgesellschaft zu stimulieren, in der heute die politischen Führer von morgen schlummern. Um Argentinien aus dem Sumpf zu ziehen, in dem es versunken ist, hat ein peronistischer Abgeordneter ein einfaches Wundermittel vorgeschlagen: „Zwei Jahre ohne Korruption, und Argentinien wäre wieder reich.“ Und Gott womöglich wieder Argentinier.
dt. Grete Osterwald
* Journalist und Schriftsteller; Autor von „Che, Ernesto Guevara. Une légende du siècle“, Paris (Seuil) 1997.