Zweifelhafte Innovationen
AUF Tagungen, Seminaren und bei Galadiners überhäuft „Big Pharma“ die versammelten Ärzte gern mit Vorträgen über die Meriten ihrer Produktentwicklungen. Unabhängige Informationen dringen kaum je aus den Forschungslabors an die Öffentlichkeit. Die meisten klinischen Tests werden ohnehin nicht von unabhängigen Forschern durchgeführt, sondern von vertragsgebundenen Forschungseinrichtungen, die ihre Ergebnisse nur mit Einverständnis ihrer Auftraggeber veröffentlichen dürfen. Weil das so ist, kündigten die Chefredakteure von 13 weltweit führenden medizinischen Fachzeitschriften in einem gemeinsamen Editorial an, sie wollten ihre Publikationskritierien verschärfen.1
Sosehr die öffentliche Diskussion sowie das Verhältnis Arzt/Patient auf „Innovationen“ fokussiert sein mögen, so undeutlich bleibt doch oft die therapeutische Wirkung neu entwickelter Präparate. In einer Studie über die im Jahr 2000 neu zugelassenen Arzneimittel und Behandlungsmethoden kommt die Internationale Gesellschaft der Arzneimittelzeitschriften (ISDB) zu dem Schluss, dass „nur ein geringer Prozentsatz […] für den Patienten nennenswerte Vorteile gegenüber herkömmlichen Optionen bringt“. Die übrigen „Innovationen“ beziehen sich allesamt auf die Entdeckung gleichwertiger Stoffe, auf die Verbesserung der Produktionsmethoden und ähnliche Dinge. Zwar will die ISDB den Nutzen solcher Arbeiten nicht in Abrede stellen, bedauert aber, dass sie instrumentalisiert werden, um „den Unterschied zwischen echten therapeutischen Fortschritten und bloßer Innovation zu verwischen“.2 Vor allem die mit Regulierungsaufgaben betrauten Arzneimittelbehörden, die keine eigenen Untersuchungen durchführen können, werden für ihre Laisser-faire-Haltung kritisiert.
Anlässlich der Einführung des Euro starteten die Pharmaunternehmen eine neuerliche Offensive gegen die in Europa geltenden Preisbindungen bei Arzneimitteln. Von „Marktpreisen“ kann in der EU aufgrund der einzelstaatlichen Vereinbarungen mit der Pharmaindustrie keine Rede sein. Die Preise für ein und dasselbe Arzneimittel können von Land zu Land um bis zu 500 Prozent variieren. Grund für die Preisdifferenzen sind die unterschiedlichen Regulierungsmechanismen: In Ländern mit geregelten Preisen liegt das Preisniveau unter dem europäischen Durchschnitt, in Ländern mit Wettbewerbspreisen darüber.
Allerdings haben sich die Preise innerhalb der Union in den letzten Jahren aufeinander zubewegt, wobei die Hersteller natürlich das obere Ende der Preisskala anstrebten. Sie machen geltend, dass der US-Anteil am Weltmarkt zwischen 1990 und 2001 von 31 Prozent auf 43 Prozent gestiegen sei, während man für Europa einen Rückgang von 32 Prozent auf nur noch 22 Prozent verzeichne. Dass diese Entwicklung auf den explosionsartigen Anstieg der Preise und Absatzmengen in den USA und nicht auf absolut sinkende Arzneimittelausgaben in Europa zurückzuführen ist, wird dabei geflissentlich verschwiegen.
Neuerdings droht die Industrie, die europäischen Länder von innovativen Produkten auszuschließen, wenn sie sich weiterhin gegen eine Erhöhung der Gewinnspannen sträuben. Im Juni vorigen Jahres blies Pfizer-Chef Hank McKinnel zum Angriff: „Wir werden unsere Neuheiten immer später auf den französischen Markt bringen, und wenn die Regierung weiterhin Druck auf die Preise ausübt, drehen wir den Hahn eben zu.“3 Stephen Pollard, Journalist und Mitglied des in Brüssel ansässigen Think Tank „Centre for the New Europe“ (Motto: „Marktlösungen für politische Probleme“), spinnt den Gedanken weiter: „Wenn die Pharmaunternehmen die EU nicht mehr ‚gastfreundlich‘ – will sagen: gewinnträchtig – finden, wird nichts sie zwingen, zu bleiben oder – was noch wichtiger ist – den europäischen Patienten ihre neuesten Behandlungsmethoden anzubieten.“ Wie Pollard versichert, existiert das Szenario bereits, habe doch AstraZeneca-Chef Tom McKillop kürzlich erklärt: „Alle großen Pharmaunternehmen tragen sich mit dem Gedanken, künftig keine neuen Produkte mehr [auf dem europäischen Markt] einzuführen.“4
Wie sieht die „Marktlösung“ aus? Pollard setzt auf die Patienten: Sie „werden sich nicht mit dem Status als Patienten zweiter Klasse abfinden. Sobald sie merken, wozu sie genötigt werden – und was man ihnen vorenthält –, werden sie auf Veränderungen drängen, um Zugang zu neuen Arzneimitteln zu erhalten.“ Abzuwarten bleibt, ob sich die Krankenversicherungsträger für die Demontage des Gesundheitssystems einspannen lassen oder ob sie sich aus dem Klammergriff der Industrie befreien können, um ihrer Funktion gerecht zu werden, die Entwicklungslabors und die zuständigen Behörden im Interesse der Kranken auf Kurs zu halten.
PHILIPPE RIVIÈRE