Katastrophen und Kriege beschleunigen die Modernisierung
DER Ausbruch des Vulkans Nyiragongo im Osten der Demokratischen Republik Kongo am 17. Januar 2002 und die Zerstörung großer Teile der Stadt Goma haben ein Schlaglicht auf die schwierigen Lebensumstände im Afrika der Großen Seen geworfen, das in den letzten Jahren immer wieder von Kriegen und Krisen heimgesucht wurde. Daraus ergibt sich zugleich die Chance, mit internationaler Hilfe den Wiederaufbau einer verwüsteten Region in Gang zu bringen. Dabei sind die grundlegenden sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu berücksichtigen: wie etwa die Flucht in die Städte, die Aufweichung tribaler Loyalitäten und die Entwicklung grenzüberschreitender Handelsströme.
Von DOMINIC JOHNSON *
Selten waren Afrikas Helfer so spendabel. 29 Millionen Dollar innerhalb von zehn Tagen sagten öffentliche Geber aus aller Welt zu, nachdem die humanitäre Koordinationsstelle der UNO (OCHA) am 21. Januar einen Sofortappell für 15 Millionen Dollar zur Versorgung von 350.000 Opfern des Vulkanausbruchs in und um die kongolesische Stadt Goma veröffentlicht hatte. Die reichen Länder der Welt ließen endlich ihre finanziellen Möglichkeiten erkennen. Das hatten sie vorher, wenn es um humanitäre Hilfe für die Opfer des Krieges in der Demokratischen Republik Kongo ging, beharrlich verweigert. Für die direkt hilfsbedürftigen Menschen im Kongo – von der UN auf etwa 16 Millionen geschätzt – wurden 2001 laut OCHA nur Hilfszusagen im Gesamtwert von knapp 144 Millionen Dollar gegeben.
Die plötzliche Hilfsbereitschaft für Goma mag die Kongolesen wenig beeindrucken, die sich in den letzten Jahren mit der Teilnahmslosigkeit der Welt angesichts von 2,5 Millionen Todesopfern abfinden mussten, die der Kongokrieg seit 1998 direkt und indirekt gefordert haben soll.1 Doch eine Hilfsbereitschaft, die über die unmittelbaren Bedürfnisse hinausgeht, schafft die Möglichkeit, im Zuge des Wiederaufbaus einer zu 40 Prozent von Lavamassen zerstörten Stadt auch die Wiederherstellung einer vom Krieg viel stärker zerstörten Region in Angriff zu nehmen.
Goma ist mit 400 000 Einwohnern eine der wichtigsten Städte im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Es ist Regierungssitz der Rebellenbewegung RCD (Kongolesische Sammlung für Demokratie), die seit 1998 unter militärischer Anleitung Ruandas den Ostkongo regiert, aber auch Umschlagplatz für Handelsgüter in der gesamten Region. Aus Nachbarländern eingeführte Konsumgüter kommen über den Flughafen der Stadt in vom Krieg eingeschlossene ostkongolesische Regionen; im Gegenzug gelangen ostkongolesische Exportprodukte, allen voran das in der Kommunikationstechnologie stark nachgefragte Coltan (Columbit-Tantalit), über Goma auf den Weltmarkt.
Die Rolle als politisches und wirtschaftliches Zentrum der Region hat der Stadt in den letzten beiden Jahren einen bescheidenen Aufschwung beschert. Noch 1977 zählte Goma nur 66 000 Einwohner, vor fünf Jahren waren es 200 000 – seither hat sich die Bevölkerungszahl verdoppelt. Am Stadtrand haben Zuwanderer aus dem Umland ihre Hüttensiedlungen errichtet, im Zentrum regten sich wirtschaftliche Aktivitäten, die Villen am Kivusee wurden restauriert, das kongolesische Nachtleben zog sogar Touristen aus Ruanda an.
Eine rasche Urbanisierung und die Konzentration der politischen und wirtschaftlichen Aktivität auf wenige sichere urbane Zentren sind typisch für die Entwicklung, die das Afrika der Großen Seen in den letzten Jahren durchgemacht hat. Doch nirgends hat sie so krasse Formen angenommen wie in Goma. Die Kehrseite dieses Aufschwungs ist die Verwüstung des Hinterlands. Ganz Ostkongo ist seit Jahren Kriegsschauplatz. Die Folge sind eine verwüstete Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur und die Aufteilung in Einflussgebiete von Armeen und Milizen. Die Provinz Nordkivu, deren Hauptstadt Goma ist, hat den höchsten Anteil an Kriegsvertriebenen im ganzen Land.
Dabei war Nordkivu früher die Kornkammer des Kongo und zog zu belgischen Kolonialzeiten sogar weiße Siedler an, diePlantagen gründeten und den Virunga-Nationalpark anlegten. In Bukavu, der anderen großen ostkongolesischen Stadt am anderen Ende des Kivusees, bauten sie Fabriken und Villen. Nach der Unabhängigkeit des Kongo 1960 überließ Diktator Mobutu Sese Seko (1965–1997) im Rahmen seiner ab 1973 betriebenen Verstaatlichungspolitik weite Ländereien in der Region zairischen Großgrundbesitzern. Einige von ihnen gründeten nach Art mittelalterlicher Feudalherren eigene ethnische Milizen. In den 90er-Jahren kam es zwischen diesen Milizen dann zu bewaffneten Konflikten, die durch die Ankunft hunderttausender ruandischer Hutu-Flüchtlinge 1994 verschärft wurden und zur Zerstörung der ostkongolesischen Agrarwirtschaft führten.
Obwohl diese Konflikte tausende Tote kosteten und zehntausende von Flüchtlingen produzierten, wurden sie von der Weltöffentlichkeit weitgehend ignoriert. Sie endeten mit der nahezu vollständigen Vertreibung der zairischen Tutsi und der Viehzüchter aus Kivu nach Ruanda. Einige dieser Vertriebenen, vor allem aus der zairischen Banyamulenge-Minderheit, gründeten schließlich 1996 unter dem Schutz der ruandischen Armee eine Rebellenbewegung, die im Herbst 1996 den Osten des Landes und anschließend – unter Führung von Laurent-Désiré Kabila – das ganze damalige Zaire eroberte.
Die ländlichen Regionen der Kivuprovinzen dienen noch heute als Rückzugsgebiet für die in diesen Kriegen entstandenen Milizen, die von der Ausplünderung der Einheimischen leben. Die Verarmung der ausgeplünderten Bauern treibt immer mehr Menschen in die Arme von Warlords. Aus weiten Landstrichen ist inzwischen fast die gesamte Bevölkerung in die städtischen Zentren geflohen.
Zugleich wurden verlassene Felder zu Schürfgebieten, weil seit 2000 die im Osten des Kongo weit verbreiteten Coltanvorkommen ökonomisch interessant wurden. Wie in allen Bergbauregionen Afrikas hatte die plötzliche Aussicht auf den in der Erde verborgenen Reichtum fatale Folgen. Die Bauern gaben ihre Felder auf, denn bei einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von wenig mehr als 20 US-Cent am Tag war die Aussicht auf täglich mehrere Dollar, die man mit dem Weiterverkauf eines Erzes an Zwischenhändler verdienen kann, nur allzu verlockend.2
Von der Bauerngesellschaft ...
DER Coltanboom bedeutete in einem durch Krieg und fehlende staatliche Strukturen geprägten Umfeld, dass den Bauern der Kivuregion in den letzten drei Jahren nur begrenzte Überlebensperspektiven offen standen: die Arbeit in den Minen, der Anschluss an eine bewaffnete Bande oder Armee oder der Weg in die Stadt. Eine vierte Option lautete „Subsistenzwirtschaft“, die aber unter extrem unsicheren Bedingungen, ohne ein Minimum unterstützender Strukturen die mühsamste und gefährlichste Perspektive ist. Und die kommerzielle Landwirtschaft ist ohnehin größtenteils zusammengebrochen.
Der Kongokrieg hat damit in den am schlimmsten betroffenen Regionen des Landes so etwas wie eine Modernisierung im Zeitraffer erzwungen. Fast von heute auf morgen entstand so eine neue Gesellschaftsordnung, in der die Kriegsgewinnler das Sagen haben. In ostkongolesischen Städten wie Goma, Bukavu, Butembo oder Bunia tritt an die Stelle der zerstörten überkommenen Infrastruktur das moderne technische Arsenal von Mobilfunkgeräten, Generatoren, Geländewagen und Kleinflugzeugen – aber nur für eine kleine Elite, während die große Mehrheit der Bevölkerung in denselben Orten ohne funktionierende Strukturen auskommen muss.
Die Attribute des modernen globalisierten Lebens erlauben es der Herrscherelite, in Zeiten des Kriegs und der Unsicherheit Geschäfte und Politik zu betreiben, auch wenn feindliche Milizen das Straßenbild beherrschen und alle wichtigen Alltagsgüter, von Trinkwasser über Benzin bis hin zu Geldscheinen, mit dem Flugzeug herangeschafft werden müssen. Diese Herrscherelite ist zunehmend entterritorialisiert. Um Macht auszuüben, sind gute Geschäftsverbindungen in die Nachbarländer und Kontakte nach Washington, Brüssel, Paris und London wichtiger als die Entwicklung des eigenen Hoheitsgebiets.
Auch mitten im Elend lassen sich auf diese Weise private Reichtümer erwirtschaften. Die Gewinne werden zum kleineren Teil in schattigen, hinter hohen Mauern verborgenen Villen angelegt. Der weitaus größere Teil wird jedoch von den künftigen kongolesischen Millionären in die internationalen Finanzströme eingespeist. Und etliche Gelder fließen auch auf die andere Seite des vom Krieg geteilten Kongo, also in die Hauptstadt Kinshasa, wo Mitglieder der Regierung von Joseph Kabila (dem Sohn des ermordeten Laurent-Désiré Kabila) ganz beträchtlich vom Rohstoffschmuggel profitieren.
Wohin eine solche Entwicklung führen könnte, lässt sich in Bujumbura besichtigen, der Hauptstadt von Burundi, das bereits sehr viel länger in den Zyklus nicht enden wollender Kriege gebannt ist. Bujumbura liegt am Tanganjikasee inmitten hoher Berge, aus denen fast täglich der Donner von Gefechten zwischen der Armee und Hutu-Rebellen zu hören ist. Die Stadt macht den Eindruck eines schlafenden Riesen. Das Bild im pulsierenden Zentrum dominieren dagegen die Soldaten aus der Heimatregion des Präsidenten, die mit wachsamen Augen und blitzenden Waffen patrouillieren, und die Scharen von bettelnden, zerlumpten Straßenkindern. Auf den Hügeln am Rande des Zentrums ist eine pharaonische Bautätigkeit im Gange. Hier entsteht ein Straßenzug voll prächtiger Villen nach dem anderen. Weiter draußen lebt die Masse der Bevölkerung in elenden Slumvierteln.
In den ausgedehnten Industriezonen am Hafen Bujumburas sind die meisten Fabriken stillgelegt, und doch ist das Produktionspotenzial größer als in jeder anderen Stadt der Region. Die ökonomischen Aktivitäten in Bujumbura lassen sich nur schwer einschätzen – und noch schwerer kontrollieren, weil sie sich weitgehend illegal abspielen. Schmuggelhandel bestimmt die burundische Ökonomie seit 1996, als nach dem Putsch des jetzigen Militärherrschers Pierre Buyoya Wirtschaftssanktionen über das Land verhängt wurden. Seitdem ist eine schmale Elite, die sich aus Tutsi und Hutu zusammensetzt, mit dem Durchbrechen dieses Embargos unerhört reich geworden. Die große Mehrheit der Bevölkerung lebt dagegen in himmelschreiender Armut.
In neun Jahren Krieg, der bei einer Landesbevölkerung von sieben Millionen Menschen über 250.000 Tote gekostet hat, wurden Millionen Burunder entwurzelt. Jenseits der Hauptstadt leben fast alle Tutsi in von der Armee bewachten Lagern, weil sie sonst von Hutu-Rebellen getötet würden. Und zahlreiche Hutu sind entweder ins benachbarte Tansania gezogen, wo sie in Flüchtlingslagern leben, oder sie haben sich Rebellenbewegungen angeschlossen, oder sie wurden zeitweise von der burundischen Armee in Wehrdörfer gesteckt. Unter der einfachen Bevölkerung scheint die Koexistenz von Hutu und Tutsi unwiederbringlich zerstört. Aber das Handeln der Mächtigen wird von einer neuen Art einträglicher ökonomischer Aktivitäten bestimmt, die auf die Kooperation der eigenen Mitbürger nicht mehr angewiesen sind. Die endlosen Querelen über die Umsetzung des Friedensabkommens von Arusha aus dem Jahr 2000, das eine ausgewogene Machtverteilung zwischen Hutu und Tutsi zur Basis einer Befriedung macht, erscheinen vor diesem Hintergrund wie eine gelungene Operette, die zur Ablenkung des Auslands inszeniert wird.
Burundi ist das Land in der Region, das die längste Zeit ununterbrochen unter einem Krieg leidet. Und folglich ist es auf einem Weg, der wie eine fatale Sackgasse anmutet, auch bereits am weitesten fortgeschritten.3 Die internationale Gemeinschaft scheint diesen Weg jedoch gutzuheißen. Sie hat Burundi mit Hilfszusagen von mehreren hundert Millionen Dollar überschüttet – die an die Umsetzung des Friedensabkommens von Arusha gebunden sind. Der Erfolg dieses Abkommens setzt freilich voraus, dass die Geschäftemacher aller Parteien sich möglichst wenig in die Quere kommen und dass ihre Interessen unangetastet bleiben. In der Konsequenz belohnt die Auslandshilfe also die Früchte des Krieges.
Frieden und Stabilität auf der Basis eines Interessenausgleichs zwischen Kriegsgewinnlern zu schaffen ist im Afrika der Großen Seen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Allen Ländern der Region ist gemein, dass die Herrschenden ihre Macht irgendwann mit der Waffe in der Hand errungen oder sie mit der Waffe verteidigt haben. Als 1986 in Uganda die Guerillabewegung NRA (Nationale Widerstandsarmee) unter Yoweri Museveni die Macht ergriff, war dies die erste siegreiche Rebellion im postkolonialen Afrika. Aber es sollte nicht die letzte sein. 1994 folgte in Ruanda die RPF (Ruandische Patriotische Front) unter Paul Kagame, die ruandische Tutsi-Exilanten im Umfeld Musevenis in Uganda gegründet hatten.
In Burundi kam Pierre Buyoya 1996 per Militärputsch an die Macht. 1996/97 folgte im damaligen Zaire die AFDL (Allianz Demokratischer Kräfte zur Befreiung von Kongo/Exzaire) unter Laurent-Désiré Kabila, die im Windschatten eines von Ruanda und Uganda geführten Blitzkrieges das Zaire Mobutus eroberte und die Demokratische Republik Kongo ausrief. Als Kabila 1998 mit Ruanda und Uganda brach, riefen die beiden Nachbarstaaten die Rebellenbewegung RCD ins Leben, die aus einer Meuterei der örtlichen ruandatreuen kongolesischen Militärführung gegen Kabila im August 1998 hervorging und seither den Osten des Landes kontrolliert.
Am erfolgreichsten waren die Eliten, die nicht nur aus den Kriegen im eigenen Land Profit schlagen konnten – wie die in Burundi –, sondern auch aus Kriegen in Nachbarländern. Das gilt für Ruanda und Uganda, deren Regierungen vom Krieg im Kongo profitiert haben. Aus Berichten einer Untersuchungskommission des UN-Sicherheitsrats geht hervor, in welchem Ausmaß Ruanda und Uganda vom Weiterverkauf von natürlichen Ressourcen aus dem Osten des Kongo profitieren.4 Diese Erträge fließen sowohl in private Taschen wie in die offiziellen Staatshaushalte. Neueste Schätzungen beziffern die nicht deklarierten Gewinne Ruandas und Ugandas aus den Geschäften im Kongo – hauptsächlich durch den Reexport von Coltan, Holz, Gold und Diamanten – auf 203 Millionen Dollar im Jahr 1999 und 188,6 Millionen im Jahr 2000. Der Anteil Ruandas liegt dabei konstant bei etwas über 163 Millionen Dollar – eine Summe, die im Jahr 2000 7,1 Prozent des Bruttosozialprodukts entsprach und höher als die ausländische Entwicklungshilfe lag.5
Die Reichtümer des Ostkongo wurden schon immer über die Nachbarländer ausgeführt. Diese Geschäfte laufen also auch in Friedenszeiten. Deshalb ist es falsch, diese Summen als den gewaltsam angeeigneten Profit aus „illegaler Ausplünderung“ zu bezeichnen.
... zum städtischen Kapitalismus
AUCH bei einer geregelten friedlichen Wirtschaftsordnung würden diese Gelder keineswegs überwiegend im Kongo verbleiben; allenfalls könnten untergründige Geschäftsverbindungen transparenter werden. Dies wäre immerhin ein Fortschritt in Richtung auf eine demokratischere Wirtschaftsordnung in der Region. Dagegen würden Sanktionen gegen den Handel mit ostkongolesischen Rohstoffen, wie viele Gruppierungen sie derzeit fordern, nur das Gegenteil von Transparenz erzeugen. Das Beispiel Burundi zeigt, welche Fehlentwicklungen mehrjährige Sanktionen herbeiführen können.
Allerdings stellt sich heute die Frage, welche Rolle die Kriegsgewinnler im Afrika der Großen Seen unter Friedensbedingungen spielen werden. Zunächst ist davon auszugehen, dass sie politisch an der Macht bleiben. Was die Art der Machtausübung betrifft, so gibt es nach bisheriger Erfahrung einige allgemeine Tendenzen. Sicher ist: Demokratie steht nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste der Herrscher, sondern ist dem Oberziel der Herrschaftssicherung untergeordnet. Sie wird nur in dem Maße zugelassen, in dem sie den Machterhalt der Regierung nicht gefährdet. Exemplarisch ist in dieser Hinsicht Uganda, wo das daraus resultierende System am klarsten ausgeprägt ist.
Die ugandische Guerillabewegung NRA verwandelte sich nach der Machtergreifung 1986 in die NRM (Nationale Widerstandsbewegung), die sich als politischer Arm des gesamten ugandischen Volkes begreift und politische Freiheiten nur innerhalb ihrer eigenen Strukturen gestattet. Im so genannten Movement-System sind die Hierarchien der NRM identisch mit den politischen Strukturen des dezentral organisierten ugandischen Staates. Dies bedeutet, dass Kandidaten bei Wahlen streng genommen um einen Posten innerhalb der NRM konkurrieren. Doch innerhalb dieses Rahmens können sich Politiker weiter auf Parteiebene organisieren, so dass die vor 1986 bestehenden politischen Parteien Ugandas weiterexistieren. Sie treten aber nicht als Alternative zur NRM auf, sondern als Strömungen innerhalb der Bewegung, wenngleich sie sich als Oppositionelle begreifen und auch als solche wahrgenommen werden.
Die Schwächen dieses Systems wurden bei der Präsidentschaftswahl 2001 deutlich, als Amtsinhaber Museveni nicht verhindern konnte, dass sein ehemaliger Leibarzt Kiiza Besigye innerhalb der NRM als sein Hauptgegner antrat und alle NRM-Strukturen auch für sich nutzen konnte. Voraussichtlich wird nun vor den Wahlen 2006 der Schritt vom informellen Mehrparteiensystem innerhalb der NRM zu einem formellen Mehrparteiensystem erfolgen. Jüngste Aussagen von führenden NRM-Vertretern, die Bewegung werde dreißig oder gar sechzig Jahre an der Macht bleiben, stellen das jedoch in Frage.
Ein solches System wurde auch in Ruanda nach der Machtergreifung der RPF 1994 erwogen, letztlich aber zugunsten eines anderen Systems verworfen: Alle Parteien – außer denen, die wegen der Organisation des Genozids von 1994 verboten sind – sind in einer „Regierung der Nationalen Einheit“ unter RPF-Führung zusammengeschlossen. Derzeit wird eine neue Verfassung ausgearbeitet, auf deren Basis 2003 Wahlen stattfinden sollen. Allerdings ist von einer innenpolitischen Öffnung, wie sie dafür notwendig wäre, wenig zu spüren. Als Expräsident Pasteur Bizimungu im Sommer 2001 eine Partei gründen wollte, kam er unter Hausarrest, und immer wieder gehen Kritiker der Regierung von Präsident Paul Kagame ins Exil.
In Burundi ist die Politik heute gemäß den Bestimmungen des Friedensabkommens von Arusha organisiert, das im August 2000 zwischen allen politischen Parteien mit Ausnahme der bewaffneten Hutu-Rebellen geschlossen wurde. Es sieht ebenfalls eine Allparteienregierung vor. Diese amtiert seit dem 1. November 2001 und ist vorerst auf drei Jahre terminiert, aber es ist schwer zu sehen, wie bis November 2004 eine Alternative dazu gefunden werden könnte. Außerdem hat der Bürgerkrieg zwischen Armee und Hutu-Rebellen eher an Intensität gewonnen, und die neuen Institutionen haben noch keine Belastungsprobe hinter sich.
Die RCD in Ostkongo versteht sich noch als bewaffnete Bewegung, die keine Konkurrenz duldet. Als einer der mächtigsten Geschäftsmänner in Goma, Victor Ngezayo, im Sommer 2000 eine eigene Partei gründete, wurde ihm vom damaligen RCD-Sicherheitsminister Bizima Karaha beschieden, hier habe die RCD das Sagen: Wenn er eine eigene Bewegung wolle, solle er sich irgendwo ein eigenes Territorium erobern. Diese Aussage illustriert auf drastische Weise den Zustand der kongolesischen Politik, in der sich jeder Politiker dazu verleitet sieht, sich mit Waffengewalt ein eigenes Machtgebiet zu sichern. Noch ist nicht entschieden, in welcher Form sich die RCD in eine gesamtkongolesische Friedensordnung einfügen wird. Die Kriegsgewinnler des Kongo müssen erst noch zu einer adäquaten Form ihrer politischen Vertretung finden.
Alle geschilderten politischen Systeme ähneln sich nicht nur darin, dass ihr oberster Zweck der Machterhalt ist und nicht etwa die freie politische Willensbildung. Ihre Funktion besteht auch darin, die Interessen der Mitglieder einer städtischen und militärisch ausgerichteten Elite zu moderieren. Die Urbanisierung der Politik ist in dieser Region ein wichtiger gemeinsamer Zug aller Länder. Sie geht einher mit einer Urbanisierung der Ökonomie und der Gesellschaft insgesamt, die in den ländlich geprägten Gesellschaften dieser Region eine tief greifende Umwälzung darstellt.
Die Beispiele Burundi und Ostkongo haben bereits gezeigt, wie dieses System in Kriegssituationen funktioniert. Der Versuch, Konflikte durch die Schaffung kontrollierbarer, zumindest halburbaner Ordnungszentren einzudämmen, war auch in Uganda und Ruanda zu beobachten, wenn Rebellen aktiv waren. Sowohl im Norden Ugandas – beim Kampf gegen die aus dem Sudan unterstützte „Lord’s Resistance Army“ – wie auch im Nordwesten Ruandas – beim Kampf gegen die aus dem Kongo unterstützte „Armee zur Befreiung Ruandas“, eine Nachfolgeorganisation der Völkermordmilizen – wurde die lokale Bevölkerung von den Behörden zeitweise in Wehrdörfer gezwungen, womit sich die dezentrale ländliche Siedlungsstruktur auflöste. Entlang der Hauptstraße im Nordwesten Ruandas erstrecken sich heute noch kilometerweit Siedlungen, die halb Flüchtlingslager, halb Dörfer sind: ungeplante Reihen baufälliger Hütten mit nur wenigen sozialen Einrichtungen, in denen seit den Zeiten der großen Hutu-Rebellenangriffe von 1997/98 die versprengte Bevölkerung der Hügellandschaft lebt.
Wenn auf Krieg der Frieden folgt, wird die Bevölkerung aber nicht in die Selbstständigkeit entlassen. Vielmehr werden bei der staatlichen Reorganisation der Lebensverhältnisse lediglich militärstrategische Kriterien durch sozioökonomische Erwägungen abgelöst. Ruanda ist in dieser Hinsicht am weitesten vorangeschritten. Hier wird eine bewusste Politik der „Verdorfung“ betrieben. So genannte imidugudu, auf dem Reißbrett entworfene Dörfer, sollen nach den Vorstellungen der Regierung allmählich die traditionellen versprengten Einzelhöfe ablösen. Grund dafür ist die immense Bevölkerungsdichte Ruandas – mit über 300 Menschen pro Quadratkilometer die höchste Afrikas. Knapp 8 Millionen Menschen drängen sich in Ruanda auf einer Fläche, so groß wie Belgien, wobei große Teile des Landes aus unbewohnbaren Gebirgs- und Sumpfregionen bestehen oder als Naturreservate nicht besiedelt werden dürfen. Bis 2020 rechnet die Regierung mit eine Verdoppelung der Einwohnerzahl auf 16 Millionen. Dann reicht das bebaubare Land endgültig nicht mehr für alle Menschen. Schon jetzt weichen viele Bauern auf Steilhänge aus und roden die letzten Baumbestände. Das fördert die Erosion, die landwirtschaftlich nutzbare Fläche schrumpft. Nach amtlichen Angaben verliert Ruanda jedes Jahr die Kapazität zur Ernährung von 40 000 Menschen, während die Bevölkerung jährlich um 200 000 Menschen wächst.
Ruandas Landwirtschaftsministerium arbeitet derzeit an einer „neuen Agrarpolitik“, die für eine landwirtschaftliche Einheit eine Mindestgröße von einem Hektar vorsieht – die Durchschnittsgröße liegt heute bei 0,6 Hektar. Dies soll der ruandischen Landwirtschaft das ökonomische Überleben sichern und sie in die Lage versetzen, kommerzielle Überschüsse zu produzieren. Zugleich aber würde dies auch die Entwurzelung von Millionen Bauern bedeuten. Zum Teil sollen diese Menschen in den neuen Dörfern unterkommen, die es heute schon gibt. Ihre schlecht gebauten Häuser erinnern aus der Luft an aufgereihte Streichholzschachteln, die Dörfer selbst an die trostlosesten Townships in Südafrika.6 Wer die Wahl hat, wird nicht in diese Dörfer ziehen, sondern in die Städte, die entsprechend wachsen werden.
Welchen Weg auch immer die Menschen wählen – die von Ruandas Regierung geplante friedliche Modernisierung im Schnelldurchgang läuft in dieselbe Richtung wie die kriegerische Modernisierung, die in Kongo und Burundi abläuft. Ruanda trägt damit auch den besonderen Erfahrungen des Völkermordes Rechnung. Für die von 1959 bis 1994 in Ruanda herrschenden Hutu-Regierungen bestand die Lösung des Problems der Bevölkerungsdichte darin, möglichst wenig Tutsi im Land zu haben. Deshalb wurden viele von ihnen zuerst vertrieben und 1994, als die Rückkehr der Tutsi-Exilanten bevorstand, ausgerottet. Staatlich organisierte Milizen töteten damals in drei Monaten rund 800 000 Menschen, nahezu ausschließlich Tutsi – fast die gesamte in Ruanda ansässige Tutsi-Bevölkerung.7 Die Tutsi, die heute in Ruanda leben und die herrschende RPF dominieren, sind fast alle Nachkommen von Exilanten, die sich jahrzehntelang in Uganda, Burundi oder Zaire aufgehalten haben. Im Zeitraum 1994–1996 waren außerdem nahezu 2 Millionen Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda, darunter viele Täter des Völkermords, nach Zaire, Burundi und Tansania verschlagen worden. Sie sind seitdem fast alle zurückgekehrt.
Die RPF-Regierung unternimmt als erste ruandische Regierung den Versuch, alle Ruander im Lande selbst anzusiedeln und neu zu organisieren, und zwar jenseits der traditionellen Lebensweisen, aus denen der Antagonismus zwischen Hutu und Tutsi erwachsen war.8 Mit seiner Politik setzt Ruanda in die Praxis um, was Ugandas Präsident Yoweri Museveni bisher nur theoretisch ausgeführt hat, als er den bisher einzigen Versuch unternahm, die Umwälzungen im Afrika der Großen Seen ideologisch fassbar zu machen: das Ende der Bauerngesellschaft mit ihren tribalen Loyalitäten und das Aufkommen einer Klassengesellschaft. Museveni zufolge kann erst nach Abschluss dieses Transformationsprozesses, wenn es einen funktionierenden afrikanischen Kapitalismus mit afrikanischen Kapitalisten gibt, eine Demokratie mit Mehrparteiensystem entstehen, in dem Parteien unterschiedliche soziale Interessen und nicht einfach rivalisierende Ethnien oder Regionen repräsentieren.9
Damit wird deutlich, dass der Transformationsprozess im Afrika der Großen Seen erst an seinem Anfang steht. Die vertrauten Lebensverhältnisse der meisten Menschen sind bereits zerschlagen, aber noch ist nicht überall eine tragfähige neue Ordnung entstanden. Ebenso wenig ist geklärt, welche Kräfte diese Neuordnung vornehmen sollen. In Burundi und Ostkongo lief die kriegsbedingte Modernisierung vor allem über die Neuordnung des Handels. Hier wird die Politik durch eine Kaste von Profiteuren bestimmt – aber womöglich nur für die Dauer der kriegsbedingten Ausnahmesituation. In Ruanda und Uganda haben sich die Sieger der Kriege an der Macht gehalten und ihre Modernisierungsbemühungen vorangetrieben. Sie konzentrieren sich auf die Neuordnung der Produktionsverhältnisse, vorrangig im ländlichen Raum.
In diesem Prozess müssten mit der Zeit neue politische Kräfte entstehen; Gruppen, die sich bisher nicht artikulieren konnten, weil die politischen Eliten Ugandas und Ruandas, die als Krieger an die Macht kamen, ihre Macht in Ausnutzung der kongolesischen Krise künstlich vergrößert haben. Das wiederum löst allerdings in diesen Ländern innenpolitische Spannungen aus, die sich verstärken und die Region erneut destabilisieren könnten.
Der Übergang vom Krieg zum Frieden in der gesamten Region der Großen Seen müsste zunächst dazu führen, dass auch in den Kriegsgebieten Kongos und Burundis produktive Kapazitäten neu aufgebaut werden. Die Zusagen für den Wiederaufbau von Goma könnten dies nunmehr möglich machen. Denn Goma kann als funktionierende Stadt nicht wieder aufleben, wenn nicht zugleich das ländliche Umland aufblüht, wenn Bauern nicht wieder ihre Felder bestellen und ihre Produkte auf den Markt tragen können, um Einkommen zu erwirtschaften und die durch den Vulkanausbruch unterbrochenen Wirtschaftskreisläufe neu in Gang zu setzen. Viele Bürger Gomas haben zum Erstaunen der internationalen Helfer eine spontane Bereitschaft zur Selbsthilfe an den Tag gelegt. Entsprechend von außen unterstützt, könnte dieser Eifer die Region rascher wieder aufblühen lassen, als man es angesichts der Lavamassen in Gomas Straßen für möglich halten würde.
* Redakteur in der Auslandsredaktion der tageszeitung.