15.02.2002

Der Luftverkehr braucht Bodenhaftung

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Der Luftverkehr braucht Bodenhaftung

AUCH nach dem 11. September verursacht das hohe Verkehrsaufkommen in der Flugindustrie umweltbelastende Emissionen. Die ökonomische Stabilität der Luftfahrt beruht hauptsächlich auf besonderen steuerlichen Privilegien. Diese Bevorzugung gegenüber anderen Transportmitteln hat dazu geführt, dass der Flugverkehr sich zu einem weltweit steuerlich entlasteten Wirtschaftssektor entwickelt hat, was eine globale gegenüber einer regionalen Ökonomie begünstigt. Zwar diskutiert man die Möglichkeit einer besseren Auslastung auf innereuropäischen Flügen sowie die teilweise Verlagerung des Personenverkehrs auf die Schiene. Doch ökologische Schutzmaßnahmen müssen sich in jedem Fall eindeutig wirtschaftlichen Richtlinien unterordnen.

Von PHILIPPE BOVET *

Vor dem 11. September 2001 befanden sich ständig 250 000 Menschen im Luftraum über der Erde. Tag für Tag bestiegen weltweit 4 Millionen Reisende ein Flugzeug, um sich von A nach B zu bewegen.1 Vor allem in Asien, Nordamerika und Europa hat der Flugverkehr in den letzten Jahren stark zugenommen. So lag beispielsweise das jährliche Wachstum der Branche in Frankreich seit 1975 durchschnittlich bei 6 Prozent.2 Auf dem Pariser Flughafen Roissy-Charles de Gaulle, der zu den rentabelsten Europas gehört, stieg das Verkehrsaufkommen bis zum ersten Halbjahr 2001 um jährlich 10 Prozent.3

Die ökonomische Stabilität der französischen Luftfahrt beruht auf einer Reihe von steuerlichen Privilegien. Diese hängen eng mit der internationalen Dimension des Flugverkehrs zusammen. Kerosin zum Beispiel unterliegt nicht der Mineralölsteuer. Und die 5,5-prozentige Mehrwertsteuer auf Flugtickets wird nur bei in Frankreich gebuchten Inlandsflügen fällig. Fluggesellschaften, die mindestens 80 Prozent ihrer Verbindungen mit den französischen Überseegebieten oder dem Ausland abwickeln, müssen für Kauf, Unterhalt, Reinigung und Überwachung ihrer Maschinen merkwürdigerweise keine Mehrwertsteuer entrichten.

Artikel 262-II-4 der französischen Abgabenordnung (Code général des impôts) befreit sämtliche Vorleistungen des Flugverkehrs – vom Flugzeugbau bis zu den Bordverpflegungsdiensten – von der Mehrwertsteuer, und Artikel 1518 A reduziert die Bemessungsgrundlage der Grundsteuer bei Flughäfen generell um 30 Prozent. „Aéroports de Paris“ (ADP)4 spart dadurch jährlich fast 10 Millionen Euro. Weitere derartige Vergünstigungen – die nie transparent, dabei aber rechtlich stets einwandfrei sind – ließen sich nicht nur in Frankreich unschwer finden.5 Ein letztes Beispiel sei noch genannt: Ein Abkommen zwischen Frankreich und den USA aus dem Jahr 1994 bestimmt, dass die französische Basis des auf Schnellzustellung spezialisierten Luftfrachtunternehmens „Federal Express“ auf dem Flughafen Charles de Gaulle gänzlich von der Gewerbesteuer befreit ist.

Für den deutschen Bundestagsabgeordneten und Träger des Alternativen Nobelpreises 2000, Hermann Scheer, ist der Flugverkehr inzwischen zu einer „globalen steuerfreien Zone“ geworden: Die Befreiung von der Treibstoffsteuer privilegiere „umweltschädigende Transporte vor umweltschonenden und globale Wirtschaftskreisläufe vor regionalen und die Konzerne der Industrieländer vor mittelständischen Betrieben“.6 Im Rahmen der Weltklimaverhandlungen werden die Flugzeugemissionen überhaupt nicht veranschlagt. Der französische Umweltberater François Ploye meint: „Wenn wir die realen Kosten für die Luftfracht bezahlen müssten, würden wir schnell merken, dass es unvernünftig ist, bestimmte Früchte aus fernen Ländern zu importieren, nur weil sie angeblich billiger sind. Wir würden auch nicht mehr so gern in Thailand Urlaub machen, bloß weil dort die Lebenshaltungskosten so niedrig sind.“

Das Flugzeug verbraucht von allen Fortbewegungsmitteln den meisten Treibstoff. Wer von Paris nach Marseille und zurück fliegt, bläst 150 Kilo Treibhausgase in die Luft; mit dem Zug wären es 3 Kilo. Der Gipfel ist allerdings die Energieverschwendung der Concorde, die trotz der Katastrophe vom 25. Juli 2000 aus Prestigegründen wieder fliegen darf. Während eine Boeing 747-400 in der Stunde 12 788 Liter Kerosin verbraucht und dabei zwischen 390 und 569 Personen transportiert, verpulvert die Concorde stündlich 25 629 Liter für nur 100 Passagiere.7

Im Pariser Arbeitervorort Gonesse klirren seit dem 7. November 2001 wieder die Fensterscheiben, wenn die Concorde am Vormittag zu ihrem Transatlantikflug abhebt. Jean-Pierre Blazy, Bürgermeister und Abgeordneter von Gonesse, Präsident des „Nationalen Rats für Lärmemissionen“ und Vorsitzender der Vereinigung „Stadt und Flughafen“, meint dazu: „Unter dem Gesichtspunkt nachhaltiger Entwicklung ist dieses Flugzeug ein Irrsinn. Ich bin dagegen, dass es wieder in Betrieb genommen wird – und habe keinerlei Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen.“

Luft oder Schiene

BIS Ende Oktober letzten Jahres hatte Boeing den Entwurf für ein Flugzeug mit etwa 225 Sitzplätzen auf dem Reißbrett: den „Sonic Cruiser“. Es sollte etwas langsamer sein als die Concorde, hätte Transatlantikflüge um eine Stunde verkürzt, dafür aber 35 Prozent mehr Treibstoff verbraucht als herkömmliche Flugzeuge. In einem offenen Brief an den Vizepräsidenten von Boeing äußerte EU-Umweltkommissarin Margot Wallström heftige Kritik: „Ist denn eine einstündige Verkürzung von Transatlantikflügen eine deutliche Steigerung der CO2-Emissionen wert, die für die Klimaveränderung mitverantwortlich sind? Ihre Branche sollte lieber Triebwerke entwickeln, die alternative, nichtfossile Brennstoffe verwenden. Die technologische Entwicklung sollte allmählich aufhören, sich immer nur von dem Motto „Höher, schneller, weiter“ leiten zu lassen.“8 Das Sonic-Cruiser-Projekt liegt derzeit auf Eis.

Die Entwicklung von weniger umweltbelastenden und leiseren Triebwerken hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht, doch diese wurden durch die Steigerung des Verkehrsaufkommens weitgehend wieder zunichte gemacht. Viele Flughäfen planen einen Ausbau, um das steigende Verkehrsaufkommen bewältigen zu können, wobei jedes Mal die Anwohner protestieren – nicht gegen den Flughafen an sich, sondern gegen die Gigantomanie der Planer.

Der in den 70er-Jahren entstandene euroregionale Flughafen „Lyon Saint-Éxupéry“ (ehemals Satolas) zählt jährlich nur 6 Millionen Passagiere. Dennoch drängt die Industrie- und Handelskammer Lyon auf einen Ausbau der Infrastruktur, mit vier statt der gegenwärtig zwei Landebahnen. „Man ködert die gewählten Volksvertreter mit wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven, die es so nicht gibt“, empört sich die Vorsitzende der „Vereinigung gegen den Ausbau und die Belästigung durch den Flughafen Satolas“. „Die angebliche Schaffung von Arbeitsplätzen ist in Wirklichkeit nur eine Verlagerung. Die Unternehmen lassen sich hier hauptsächlich nieder, weil die Gewerbesteuer unter 10 Prozent liegt, während sie anderswo 17 Prozent beträgt.“

Der 800 Millionen Franc teure TGV-Bahnhof Lyon-Satolas, der dem nahe gelegenen Flughafen mehr Passagiere zuführen sollte, wurde in den Berichten des französischen Rechnungshofs wiederholt aufs Korn genommen, denn hier steigen weniger als 600 Reisende um. Der einzige Transatlantikflug von Lyon nach New York wurde nach nur 17 Monaten wegen mangelnder Nachfrage wieder eingestellt (die Werbung für den von Delta Airlines besorgten Linienflug wurde vollständig von der Industrie- und Handelskammer Lyon finanziert). Angesichts dieses schwachen Passagieraufkommens scheint ein Ausbau des Flughafens nicht gerechtfertigt. Und doch haben die 230 000 Einwohner der 22 Anrainerkommunen den Eindruck, dass sie gegenüber der mächtigen Industrie- und Handelskammer kaum zählen. Ein Mitglied der Bürgerinitiative meint: „Wir haben das Vertrauen in die Verwaltung verloren. Dort sitzen Leute, die nur an ihre Karriere denken und schöne Pläne schmieden, statt in Abstimmung mit allen Beteiligten einen vernünftigen Entwicklungsplan zu erstellen.“

Den Anwohnern des Flughafens Straßburg gelang es 1996 immerhin, den Express-Service DHL, der seinen Frachtdienst für Europa über den elsässischen Flughafen abwickeln wollte, zum Rückzug zu zwingen. Einer der zentralen Streitpunkte war damals die Nachtflugerlaubnis. Der Vermerk „von 23.30 bis 6 Uhr geschlossen“ macht sich auf der Visitenkarte eines Flughafens nicht sehr gut. Und doch hält sich der Pariser Flughafen Orly an die nächtliche Ruhepause, während Roissy-Charles de Gaulle sie ablehnt, obwohl in den Nachtstunden gerade einmal 150 Flugbewegungen stattfinden, im wesentlichen für den innereuropäischen Frachtverkehr. Der Vorsitzende der Vereinigung gegen Luftlärm (Advocnar), Claude Carpentier, unterstreicht: „Es ist absurd, die Gesundheit und die Ruhe von 1 bis 1,5 Millionen Anwohnern zu opfern, damit Salat und Käse aus Holland ein oder zwei Stunden früher auf den Markt kommen.“9

Das wachsende Verkehrsaufkommen der letzten Jahre resultierte vor allem aus der Öffnung des Luftverkehrs für den Wettbewerb, die in Frankreich in zwei Schüben (1993 und 1997) erfolgte. Einem in den USA entwickelten Organisationsschema folgend, machte die Gesellschaft Air France den Flughafen Roissy-Charles de Gaulle zu ihrem „Hub“ (Drehkreuz) und lenkt nun alle Inlandsflüge sternförmig über Paris. Die Drehscheibe Roissy bietet stündlich oder halbstündlich Anschlussflüge nach Bordeaux, Marseille, Nizza und Toulouse. Ab Orly hat die Gesellschaft wochentags 23 Hin- und Rückflüge zwischen Paris und Marseille im Angebot, ab Roissy noch einmal 7. Durch diese bewusst herbeigeführte Überlastung des Luftraums kann sich Air France auf den französischen Flughäfen zahlreiche Zeitnischen sichern und diese gegebenenfalls anderen Gesellschaften zum Kauf oder Tausch anbieten.

Im Fall Paris entsteht durch die Vervielfachung der Städteverbindungen der Eindruck, über kurz oder lang werde ein dritter Flughafen gebraucht. Immer wieder ist von einer Verdoppelung des Luftverkehrs bis 2020 die Rede, und die zwischen den Anwohnern von Orly und Roissy und dem französischen Verkehrsministerium ausgehandelten Obergrenzen – jährlich 250 000 Flüge für Orly und 55 Millionen Passagiere für Roissy – dürften bald erreicht sein. Technisch könnten die beiden Flughäfen zwar noch mehr verkraften, allerdings nur zu Lasten der Anwohner. In Spitzenzeiten landet oder startet in Roissy alle 35 Sekunden ein Flugzeug. Eine vollständige oder teilweise Verlagerung des Pariser Luftverkehrs in die Provinz würde die Belästigung der Bevölkerung nicht abschaffen, sondern nur verschieben.

Möglichkeiten für eine Entlastung des Luftraums gäbe es durchaus. Der Generalsekretär der CGT-Gewerkschaft für Zivilluftfahrt, Jean-Paul Armangau, erklärt: „Es gibt ungenutzte Kapazitätsreserven. Wir könnten einfach mehr Passagiere mit weniger Flugzeugen transportieren.“ Die Zahl der Passagiere je Flug ab Roissy liegt bei durchschnittlich 102, ab Orly bei 106, ab London-Heathrow hingegen bei 140.

Anhand des Zahlenmaterials der Generaldirektion für Zivilluftfahrt konnte François Cosserat, Vizepräsident der französischen Umweltschutzbewegung „Mouvement national de lutte pour l’environnement“ (MNLE), die schwache Auslastung der innereuropäischen Flüge ab Paris aufzeigen. Danach saßen im ersten Halbjahr 2001 in den Maschinen nach Deutschland durchschnittlich nur 58, in denen nach Großbritannien 70 Passagiere. Höher lag die Auslastung bei den langen Distanzen: in die Vereinigten Staaten 202 Passagiere, nach Südafrika 281, nach Argentinien 196. „58 Passagiere pro Flug nach Deutschland, das ist einfach Verschwendung“, meint Cossarat. „Vor allem bei innereuropäischen Flügen müssten die Fluggesellschaften zusammenarbeiten, um die Maschinen besser auszulasten.“

Des Weiteren böte sich eine teilweise Verlagerung des Personenverkehrs auf die Schiene an. Die niederländische Regierung und die Flughafenleitung von Amsterdam-Shiphol haben beschlossen, dem wachsenden Passagieraufkommen eine Obergrenze zu setzen, so dass bis 2015 jährlich höchstens 40 Millionen Fluggäste erreicht werden. Pro Jahr sollen 5 Millionen Passagiere auf das europäische TGV- bzw. ICE-Netz umgelenkt werden.10 So unentbehrlich das Flugzeug für transatlantische oder interkontinentale Verbindungen bleibt, so leicht ließe es sich im Kurzstreckenbereich bis 1 000 Kilometer – in dem sich die meisten von europäischen Flughäfen ausgehenden Flugbewegungen abspielen – durch Hochgeschwindingkeitszüge ersetzen.

Seit November 1994 ist das Zentrum von Paris nur noch drei TGV-Stunden von der Londoner City entfernt. Wochentags gibt es zwischen beiden Städten 26 Zugverbindungen, und dennoch bietet Air France täglich 24 Flüge in die britische Hauptstadt an, dazu kommen 17 von British Airways und 7 von British Midlands.

Unter ökologischen Gesichtspunkten ist diese Konkurrenz zwischen Luft und Schiene eine reine Absurdität. Nach Berechnungen von Cosserat gehen zwei von drei Flügen ab Paris nach europäischen Städten, die nicht mehr als vier TGV- oder ICE-Stunden entfernt liegen. Berücksichtigt man dazu noch die Anfahrtszeit zum Flughafen und die einstündige Eincheckprozedur, so bringt ein Flug wesentlich mehr Unannehmlichkeiten mit sich als die Zugreise. Eine Verbesserung der Umsteigemodalitäten vom Flugzeug auf die Bahn könnte das Passagieraufkommen in Roissy um jährlich 10 Millionen Fluggäste verringern.11 Es scheint an der Zeit, dass der Luftverkehr wieder etwas mehr Bodenhaftung gewinnt.

dt. Bodo Schulze

* Journalist

Fußnoten: 1 The Economist, 7. Juli 2001. 2 „Activités aéroportuaires, aménagement du territoire et développement durable“, Bericht der Anhörung vom 7. Februar 2001, Assemblée nationale, S. 15. 3 Le Monde, 7. Juni 2001. 4 „Aéroports de Paris“ ist eine finanziell unabhängige öffentlich-rechtliche Einrichtung, die die Pariser Flughäfen Roissy, Orly und Bourget verwaltet und dem Finanz- und Transportministerium untersteht. 5 Für den Schienenverkehr gibt es bei der Grundsteuer keinerlei Vergünstigungen, und für die Inlandstickets der französischen Eisenbahn SNCF gilt ein Mehrwertsteuersatz von 5,5 Prozent. 6 Hermann Scheer, „Solare Weltwirtschaft: Strategie für die ökologische Moderne“, München (Kunstmann) 2000, S. 302 und S. 304. 7 Die Woche, 17. August 2001. 8 Pressedienst von Margot Wallström. 9 Siehe die Zeitschrift 60 Millions de consommateurs, Paris, Juli/August 2001. 10 Rapport d’information sur la politique aéroportuaire, Assemblée nationale, 2. Juni 1999, S. 46. 11 „Activités aéroportuaires …“, vgl. Anm. 2, S. 149.

Le Monde diplomatique vom 15.02.2002, von PHILIPPE BOVET