Warum Japan es nicht allein schafft
Von CHALMERS JOHNSON *
ANFANG dieses Jahres stellte ein Vertreter der politischen Elite Japans, der frühere Finanzminister Makoto Utsumi, in einer Rede in Washington fest: „Die einschlägige Politik der USA mag vernünftig, abgewogen und letztlich im japanischen Interesse sein, doch unter den Japanern herrscht eine so enorme Frustration angesichts der endlosen amerikanischen Forderungen, dass die vorgeschlagene politische Strategie auf emotionaler Ebene Widerstände auslöst. Vielleicht sind sich die Amerikaner dessen gar nicht bewusst, aber sie zerstören die Identität der japanischen Menschen, und diese werden es letzten Endes nicht hinnehmen.“
Utsumi benannte damit ungewöhnlich offen einen der wichtigsten unausgesprochenen Aspekte der japanischen Krise: den tief greifenden Einfluss der USA auf die Gestaltung einer Gesellschaft, die sich unfähig gezeigt hat, sowohl ihre nationalen Ziele zu definieren als auch eine ihrer ökonomischen Macht entsprechende politische Rolle zu finden. Nun lassen sich zwar weder die herrschende Korruption noch die Vergeudung enormer Ressourcen in nutzlosen Prestigeprojekten noch die horrende Inkompetenz der politischen Eliten (insbesondere der Regierungspartei LDP) direkt auf die Abhängigkeit Japans vom Ausland zurückführen, doch es ist unbestreitbar, dass dieses System weitgehend von den Vereinigten Staaten geformt wurde. Dass Japan auf eine politische Strategie festgelegt wurde, die ganz offensichtlich nicht seinen Interessen dient, resultiert zum einen aus 60 Jahren amerikanischer Militärpräsenz, zum anderen daraus, dass sich Tokio seit der obsessiv antikommunistischen Außenpolitik von John Foster Dulles, die den Feindstaat Japan zum Verbündeten machte, im Großen und Ganzen die Interessen der USA zu eigen gemacht hat. Das gilt vor allem hinsichtlich der Konfrontation mit der Sowjetunion und China.
Das Unbehagen am amerikanischen Modell gibt dem neuen japanischen Nationalismus Nahrung: Aus einer Strömung innerhalb dieses Nationalismus speist sich neuerdings die Popularität des Gouverneurs von Tokio, Shintaro Ishiharas, der sich in der Vergangenheit als Koautor des Buches „Das Japan, das nicht nein sagen kann“ einen Namen gemacht hat. In jüngster Zeit tritt er immer wieder mit theatralischer Geste der Behauptung entgegen, Japan habe während des Zweiten Weltkriegs in Asien zahlreiche Kriegsverbrechen begangen. Auch Japans derzeitiger Ministerpräsident Koizumi flirtete mit dieser Strömung, als er sich weigerte, etwas gegen die Schulbücher zu unternehmen, die von Japanern begangene Kriegsgräueltaten in Korea und China beschönigen.
Das heutige Japan ist der militärischen und ökonomischen Hegemonie der USA unterworfen, womit die Skala der japanischen Optionen erheblich eingegrenzt ist – und damit auch die Fähigkeit Tokios, bestimmte Entwicklungen in Asien zu berücksichtigen und für sich zu nutzen. Das gilt etwa hinsichtlich der wachsenden Bereitschaft Chinas zu friedlichem Handel und der Friedensinitiativen auf der koreanischen Halbinsel, die von den Koreanern selbst ausgehen. Dieser Dauerzustand hat in Japan eine Regierungselite von katastrophaler Inkompetenz hervorgebracht: ein Phänomen, das unter den fortgeschrittenen demokratischen Industrieländern einmalig ist. Raymond Aron bezeichnete einmal die Marionetten der Sowjetunion in den osteuropäischen Staaten als „schändliches Mittelmaß“, und dieses Wort trifft auf die meisten japanischen Ministerpräsidenten nach 1945 ebenfalls zu.
Als sich Ende der 1940er-Jahre der Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg abzeichnete, revidierten die USA ihren Vorsatz, das besetzte Japan zu demokratisieren, zugunsten einer Politik, die das Land zum wichtigsten US-Satelliten in Ostasien machte. In vielfacher Hinsicht erinnerte diese neue Strategie an die der Sowjetunion, sich in Osteuropa ihre Satellitenstaaten aufzubauen und zu konsolidieren.
Militärbasen gegen Handel
ALLERDINGS sah die Wirtschaftspolitik der USA gegenüber Japan und anderen ostasiatischen Satelliten (wie Südkorea) deutlich anders aus. Washington offierierte diesen abhängigen Staaten ein informelles Quidproquo. Für die Bereitschaft, die zeitlich unbegrenzte Stationierung von US-Truppen und Waffensystemen zu tolerieren, boten die USA diesen Ländern einen bevorzugten Zugang zum US-Markt und die Duldung eines protektionistischen und merkantilistischen Wirtschaftssystems. Solche Vorteile gewährte Washington im Kalten Krieg weder den europäischen Verbündeten noch seinen lateinamerikanischen Nachbarn.
Diese Konzessionsbereitschaft im Ökonomischen beruhte auf zwei zentralen Glaubenssätzen: dass erstens die verarmten und noch unter den Kriegsfolgen leidenden Volkswirtschaften Ostasiens niemals erfolgreich mit den USA konkurrieren würden; und dass zweitens das wirtschaftliche Wachstum entscheidend dazu beitragen werde, diesen Völkern alle sozialistischen, kommunistischen, neutralistischen und sonstigen antiamerikanischen Neigungen auszutreiben.
Das Resultat dieser Politik zeigte sich in den 1970er-Jahren und bescherte der US-Wirtschaft in den 1980er-Jahren akute Probleme: gewaltige industrielle Überkapazitäten in Japan und die rasche Aushöhlung der US-amerikanischen Fertigwarenindustrie. Im Jahr 2000 erreichte das Handelsbilanzdefizit der USA eine neue Rekordhöhe; allein im Handel mit Japan belief es sich auf 81 Milliarden Dollar.1
1985 hatte sich Japan zur weltweit größten Gläubigernation, die USA hingegen hatten sich zur weltweit größten Schuldnernation entwickelt. Damit war die Ausgangshypothese, auf der die US-amerikanische Wirtschaftspolitik gegenüber Japan basierte, auf den Kopf gestellt. Dennoch blieben beide Länder bei ihrem alten Deal „Militärbasen gegen Handel“. In der Folge verstärkte sich ihre gegenseitige Abhängigkeit. Nach dem Börsenkrach von 1987 an der Wall Street kauften die Japaner US-Aktien in gewaltigen Mengen und trugen damit entscheidend dazu bei, eine noch größere Panik abzuwenden. Dieser Export der japanischen Handelsüberschüsse in die USA ersetzte zudem die fehlenden inneramerikanischen Ersparnisse. Damit konnte sich die US-Wirtschaft riesige externe Defizite erlauben, ohne dafür bezahlen zu müssen und ihren florierenden Finanzmarkt zu gefährden.
Japan hält den Schlüssel zur Gesundheit der amerikanischen Finanzsysteme in der Hand: Sollten seine riesigen Bestände an US-Staatspapieren jemals auch nur teilweise heimgeholt werden, wären die USA gezwungen, ihre Defizite aus eigenen Reserven zu finanzieren. Dies würde unvermeidlich zu einer katastrophalen Deflation führen.
In den 1980er-Jahren hätte man die japanische Wirtschaft auf ein Modell umstellen müssen, das erstens statt auf Exporte auf die Binnennachfrage setzt; zweitens hätte man diese Nachfrage mittels Reformen ankurbeln müssen; drittens hätte man mit den USA und den anderen Handelspartnern neue, für beide Seiten sinnvolle Handelsbeziehungen entwickeln müssen. Nur in den 1960er-Jahren hat der damalige Ministerpräsident Hayato Ikeda mit seinem „Plan zur Verdoppelung der Einkommen“ (shokutu baizo) und der in der Folge steigenden Binnennachfrage für ein rasches Wirtschaftswachstum gesorgt. Ähnlich große Möglichkeiten zur Expansion der Binnennachfrage hatte Japan in den späten 80er- wie auch während der 90er-Jahre. Damals gab es im Wohnungsbau und bei den Krankenhäusern, im Bereich Stadtplanung und im städtischen Nahverkehr noch einen großen Nachholbedarf (was bis heute gilt). Die Wirtschaftsbürokraten in Tokio schlugen jedoch einen anderen Weg ein.
Sie beschlossen, sich noch enger an den alten Verbündeten aus dem Kalten Krieg zu halten und die Vorteile des Einbahnstraßenhandels zu erhalten, indem sie noch größere und effizientere Produktionskapazitäten aufbauten. Zwischen 1986 und 1991 investierte Japan rund 3 600 Milliarden Dollar in Forschung und neue Technologien.2 Damit wollte man die Herstellungskosten um 40 bis 50 Prozent senken, doch das Resultat war letzten Endes nur der Aufbau riesiger Überkapazitäten, die in keinem Verhältnis zu den in- und ausländischen Konsumbedürfnissen standen. Vor allem führte diese Investitionsstrategie zu einer Bankenkrise (und zu ökonomischer Stagnation), die Japan bis heute nicht überwunden hat.
Wie gewohnt setzte die Regierung auf den mächtigen Exportsektor, um die aufgelaufenen Rechnungen zu bezahlen; zudem wollte sie die stärkeren Banken dazu bringen, die schwächeren zu stützen. Es wurde also versäumt, zur Liquidierung der nicht rückzahlbaren Schulden die riesigen Summen der inländischer Ersparnisse zu nutzen und den Finanzsektor zu konsolidieren. Das Problem durch „Wachstum“ aus der Welt zu schaffen war jedoch eine überaus unrealistische Strategie. Die Industrial Bank of Japan schätzt, dass für die Rückzahlung der Schulden aus den projektierten künftigen Umsätzen in der Immobilienbranche 84 Jahre zu veranschlagen sind, im Groß- und Kleinhandel 32 und in der Bauindustrie 19 Jahre.
Außerdem stürzte sich die Regierung zwischen 1998 und 2000 in zweifelhafte Großprojekte, die um die 1 400 Milliarden Dollar kosteten. 1991 lag die Verschuldung in Japan bei 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, heute sind es 151 Prozent.
Während des schwachen Wachstums der 1990er-Jahre wurden die USA nicht müde, den staatlichen Dirigismus in der japanischen Wirtschaft zu kritisieren, den sie für die Ursache des Übels hielten. Doch die Wirklichkeit beweist genau das Gegenteil. Das japanische System war in der Vergangenheit nicht über-, sondern vielmehr unterreguliert. Der Spielraum für die Formulierung und Durchsetzung einer vernünftigen Wirtschaftsstrategie ist durch die politische Option der Liberalisierung der Finanzmärkte begrenzt. Die Probleme begannen Ende der 80er-Jahre, als das Finanzministerium zu wenig Kontrolle über die Banken ausübte, die damals unverantwortlich hohe Kredite für spekulative Investitionen bewilligten.
Auch dass man in den folgenden zehn Jahren keine ernsthaften Reformen anpackte, lag nicht etwa an zu viel Intervention der staatlichen Bürokratie, sondern daran, dass es staatlicherseits keinen autonomen Spielraum mehr gab, um wirtschaftspolitische Strategien gegenüber etablierten Interessengruppen durchzusetzen. Joseph Stiglitz, der ehemalige Chefökonom der Weltbank, hat es so formuliert: „Der Sündenbock war die Überregulierung, aber der wahre Schuldige war die laxe politische Kontrolle.“3 Die Kritik zielte darauf ab, die Alternativen zum „amerikanischen Modell“ und insbesondere das Modell des ostasiatischen „kapitalistischen Entwicklungslandes“ zu diskreditieren – und damit ein solides ideologisches Fundament für die weitere Ausbreitung einer US-amerikanisch dominierten liberaldemokratischen Ordnung zu schaffen.4
Die US-Ideologien übersehen allerdings, dass kulturelle Grundlagen in vielen ostasiatischen Ländern dem Kapitalismus ein anderes Gesicht geben, wobei die Bedienung kurzfristiger Aktionärsinteressen nicht als einziger Zweck des wirtschaftlichen Handelns gilt. Sie neigen dazu, die Attraktivität des amerikanischen Modells überzubewerten, wie John Gray feststellt: „Die Vorstellung, die Vereinigten Staaten taugten als universales Modell, ist schon seit langem ein Merkmal der US-amerikanischen Kultur. Doch dieser Anspruch wird von keinem anderen Land akzeptiert. Denn der Erfolg der US-Ökonomie wird unter anderem bezahlt mit einem Grad gesellschaftlicher Spaltung – wie er sich in der Kriminalitätsrate und der Häftlingsquote, in rassischen und ethnischen Konflikten, am Zusammenbruch familiärer und gemeinschaftlicher Strukturen zeigt –, den keine europäische oder asiatische Kultur hinnehmen würde.“5
Japans aktuelles Problem ist nicht ökonomischer, sondern politischer Natur. Die Liberaldemokratische Partei (LDP), seit 1949 an der Macht, ist so korrupt wie unfähig und nur noch auf Selbsterhaltung bedacht. Die alte Rolle der LDP als antikommunistisches Bollwerk ist überholt. Aber die USA lieben diese LDP. Kürzlich wurde bekannt, dass Washington nicht nur große Summen an seine Gewährsleute der LPD gezahlt, sondern auch Politiker im oppositionellen Lager bestochen hat, um deren Parteien zu spalten und zu schwächen.
Im April 2001 schien endlich ein frischer Wind durch das Regierungslager zu wehen: Die Basis der LDP wählte statt der alten Garde den originellen und charismatischen Junichiro Koizumi. Er gilt zwar als Reformer, obwohl er einem der rücksichtslosesten und korruptesten Parteiflügel angehört hat. Aber leider ist das Wahlvolk wieder einem falschen Führer aufgesessen. Koizumis Politik beschränkt sich auf Reformen in Stilfragen statt in der Substanz, auf Reden statt Taten. So hat er fünf Frauen in sein Kabinett berufen – und diesen Fortschritt gleich wieder zurückgenommen, als er im Januar die aufmüpfige, aber sehr populäre Außenministerin Makiko Tanaka entließ, die ausgezeichnete Kontakte nach China unterhielt. Ihr Abgang aus dem Außenministerium wurde in Washington sicher freudig begrüßt.
Koizumi kann die Reformen, die Japan braucht, nicht wirklich zustande bringen. Und erst recht nicht kann er das Bankensystem sanieren, das unter der Last von 70 Milliarden Yen an verlorenen Krediten fast zusammenbricht. Der Zustand der japanischen Wirtschaft – wie die japanische Selbstachtung – benötigt mehr als ein neues Gesicht. Das Land wird erst dann zu sich selbst und zu einer tragenden Rolle im Gefüge der Staaten finden, wenn es eine legitime Regierung bekommt, die breite Unterstützung findet. Eine Regierung, die für eine faire und ausgeglichene Lastenverteilung sorgt und die Bedürfnisse des eigenen Landes und der Region über die Interessen der US-Militärstrategen stellt; die den wachsenden Wohlstand in anderen Regionen Ostasiens nicht fürchtet, sondern fördert. Eine solche Regierung ist allerdings nicht in Sicht.
aus dem Engl. von Niels Kadritzke
* Chalmers Johnson ist Präsident des Japan Policy Research Institute (JPRI) und Autor des Buches „Blowback, the Costs and Consequences of American Empire“, New York (Metropolitan Books) 2001.