Wahlkampf mit Kokosnuss
ALS Junichiro Koizumi im Frühjahr 2001 zum neuen Premierminister gewählt wurde, erhoffte man sich in Japan frischen Wind – nachdem die „alte Garde“ der Liberaldemokraten fünfzig Jahre lang das politische System blockiert hatte. Doch der grundlegende Wandel steht noch aus, und nicht zuletzt die wirtschaftlichen Probleme sorgen dafür, dass der äußerst liberale Koizumi in der Gunst der Japaner sinkt. Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise und die hohen Lebenshaltungskosten suchen die Japaner – insbesondere die Generation, die in den Siebzigern zwanzig Jahre alt war – tiefere menschliche Beziehungen und ein andere Lebensweise.
Von ANNE GARRIGUE *
Ueda, eine Kleinstadt mit 60 000 Einwohnern in der Präfektur von Nagano, wo 1998 die Olympischen Spiele stattfanden: Es ist Sonntagmorgen. In der beinahe ausgestorbenen Hauptstraße sind die Rollläden heruntergelassen, die beiden großen Warenhäuser im Stadtzentrum haben ihre Tore geschlossen. Sogo hat Konkurs gemacht, und auch Daiei, der andere Handelsgigant, ist in Schwierigkeiten. Die Arbeitslosenrate liegt über dem Landesdurchschnitt.1 Die Zuliefererbetriebe der High-Tech-Giganten bekommen die chinesische Konkurrenz zu spüren und stellen niemanden mehr ein. Die Jugend geht nach Tokio – und die vielen noch existierenden Landwirte kämpfen ums Überleben und finden keine Nebenjobs mehr, um ihr Einkommen aufzubessern.
Hier wie in vielen Teilen des Landes regt sich der Unmut gegen die Führungsschicht der liberaldemokratischen Partei LDP, die seit einem knappen halben Jahrhundert an der Macht ist. Im Oktober 2000 wählten die Einwohner der Präfektur Yasuo Tanaka2 , einen Schriftsteller und Bürgerrechtler, zum Gouverneur und beendeten die vierzigjährige Herrschaft von Exbürokraten, die aus der Verwaltung in die Politik wechseln. Die Wähler – Intellektuelle und Landwirte – votierten für den Wandel. Unter der Führung eines lokalen Bankdirektors und einer Malerin verurteilten sie die bisherige Politik der Privilegiensicherung, die ungehemmte Ausdehnung der Stadt im Zuge der Olympischen Spiele wie das allgemeine Klima der Korruption. Das Unterstützungskomitee von Yasuo Tanaka trug durchaus Züge einer „grünen“ Bewegung, obgleich es diese Bezeichnung ablehnte. Da jedes Vertrauen in die Eliten verschwunden ist, haben die politischen Parteien durchweg eine schlechte Presse.3 Die Bewegung versteht sich eher als Zusammenschluss lokaler Gruppen, der so genannten katteren („wie man will“), deren Name bereits für den frischen Wind steht, der auch in Nagano zu spüren ist.
„Gouverneur Tanaka ist anders als seine Vorgänger. Er ist frei, er hat ein Ohr für die Probleme der Bevölkerung und trotzt den angestammten Politikern“, erklärt Fumio Tsuruta. Der 66-jährige Rentner hat 1951, in seiner Jugend, gegen den japanisch-amerikanischen Friedensvertrag protestiert und im Zuge des jüngsten Wahlkampfs sein Interesse für Politik wiederentdeckt. Andere Mitglieder der katteren, die in die „japanische Schweiz“ zurückgekehrt sind – Tokio ist mit dem Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen nur zwei Stunden entfernt –, wollten mit ihrer Stimme ökologische Ideen fördern: „Es geht nicht um eine politische Meinung, sondern um eine Lebensweise“, insistiert Yasuko Okamoto, ein etwa 50-jähriger Töpfer. Auch Kuroda Toshiko, eine 40 Jahre alte Hausfrau, die nach 18 Jahren aus Tokio in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, hat sich begeistert im Wahlkampf engagiert. Sie hat sogar eine Website namens Yashi no mi (Kokosnuss) aufgebaut: „Mein Mann hat gezeichnet, meine Töchter haben sie farblich gestaltet. Mehrere katteren haben Websites. Wir alle trafen uns in einem ‚Privathaus‘, dem ‚Nondori house‘, was im Kiotoer Dialekt so viel wie ‚Haus, in dem man sich Zeit nimmt‘ heißt.
Nach dem Erfolg in der eher ländlichen Präfektur Nagano fand im April 2001 auch in Chiba, einer großen Schlafstadt im Einzugsgebiet von Tokio, eine Wachablösung statt. Zur neuen Gouvernerin wurde Akiko Domoto gewählt. Die strahlende 68-Jährige hatte als Fernsehmoderatorin gearbeitet, bevor sie im Gefolge der Sozialistin Takako Doi, die für eine Stärkung der Stellung von Frauen in der Politik kämpft, politische Karriere machte. Seit 1989 sitzt Akiko Domoto im Senat, in den sie regelmäßig wiedergewählt wurde. 1996 gehörte sie der Koalitionsregierung von Ryutaro Hashimoto an. Die weltläufige Frau ohne Parteibuch hatte auf Bitten einer Gruppe von Bürgern, in der Mehrheit Frauen, kandidiert. „Nach dem Fall der Berliner Mauer“, meint Akiko Domoto, „hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Unglücklicherweise konnten die alten Strukturen überdauern, obwohl es Versuche gab, sie aufzubrechen, wie etwa das Gesetz über die Nichtregierungsorganisationen aus dem Jahre 1998 und die Anpassung des Gesetzes über die Gleichheit der Geschlechter von 1999. In der politischen Landschaft gab es noch keine tief greifenden Veränderungen, denn das Wahlsystem wurde nicht wirklich modifiziert.“
Domoto betont ihre Unabhängigkeit: „Nach den Wahlen im April 2001 konnte ich mit Unterstützung der Frauen und der ökologischen NGOs Bürgerpositionen vertreten. Niemand hatte gedacht, ich könnte es auch ohne große Finanzmittel mit der LDP aufnehmen. Als ich 19 000 Stimmen Vorsprung hatte, jubelten die Menschen. Im Allgemeinen folgen die Wähler in Japan dem Rat der Partei oder der Familie, doch diesmal haben die Frauen anders gewählt als ihre Männer.“
Seither reist Akiko Domoto durch die Präfektur und diskutiert mit Bürgergruppen. „Ich glaube, dass es Zeit ist, das Land zu dezentralisieren. Wir müssen uns auf lokaler Ebene um unsere Kultur, um das Wirtschaftswachstum, um unsere soziale Absicherung kümmern. Wir sind zu einer reinen Schlafstadt geworden. Wir müssen Arbeitsplätze in unmittelbarer Nähe unserer Wohnorte schaffen.“
Für Domoto liegt die Zukunft ihres Landes gleichermaßen in der globalen wie in der lokalen Entwicklung. „Unser Erfolg im 20. Jahrhundert grenzte an ein Wunder, aber dabei ist viel Gutes verloren gegangen. Im 21. Jahrhundert müssen wir unsere Identität wiederfinden und gleichzeitig gewisse Aspekte der Globalisierung akzeptieren. Die Existenz der Landwirte ist gefährdet, Klein- und Mittelbetriebe schließen, und die Löhne sind sehr niedrig. Viele Menschen verlieren ihre Arbeit, und das ohne angemessene soziale Absicherung.“ Und weiter: „Wir müssen uns auf kulturelle Systeme zurückbesinnen, die die Artenvielfalt respektieren, und ausgehend von unseren traditionellen Fähigkeiten neue Arbeitsplätze schaffen.“
Wie wichtig ökologische Themen sind, hat man in Tokio wie in der Provinz erkannt. Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise und die hohen Lebenshaltungskosten suchen die Japaner – insbesondere die Generation, die in den Siebzigern zwanzig Jahre alt war – tiefere menschliche Beziehungen und andere Lebensweisen. Hidehiko Sekizawa, Chef des Think-Tanks von Hakuhodo, der zweitgrößten PR-Agentur des Landes, sieht in diesem wachsenden Bewusstsein für Umweltthemen4 eine der drei Hauptkomponenten der Krise – neben dem zunehmenden Pessimismus und einer stärkeren Artikulation individueller Wünsche und Bedürfnisse.
Träume vom kleinen Garten
DIE Ära des „Primats der Wirtschaft“, die beinahe ausschließlich auf steigenden Wohlstand setzte, sei vorbei, meint Sekizawa: „Die Japaner möchten mit weniger Stress leben. Diese Verlangsamung hat auch damit zu tun, dass die Bevölkerung älter wird (17 Prozent der Bevölkerung sind über 65, im Jahr 2015 wird dieser Anteil bei 25,5 Prozent liegen). Dieses Streben nach Lebensqualität gewinnt zunehmend an Gewicht. Viele Japaner träumen von der Rückkehr der Edo-Ära5 , die in ihren Augen ein Synonym für Stabilität darstellt. An den Fortschritt glauben sie immer weniger. Sie träumen von einem kleinen Garten, vom persönlichen Glück.“ Die Reize des „japanischen Way of Life“ – Universitätsdiplom und feste Anstellung – haben ihre verlockende Kraft eingebüßt: Im Jahr 2000 nannten nur mehr 19 Prozent der Japaner einen Hochschulabschluss als höchstes Ziel (gegenüber 46 Prozent im Jahr 1999); 45 Prozent wollten lieber weniger verdienen und mehr Zeit haben (im Jahr davor 40 Prozent).
Doch die Suche nach den Wurzeln Japans bezieht sich ideologisch nicht nur auf die Edo-Ära. Am rechten Ende des politischen Spektrums gibt es eine markante revisionistische Strömung,6 die zwar viel Wind macht, aber bei der Bevölkerung derzeit wenig Resonanz findet. Sie sucht ihre Bezüge bevorzugt in der Eroberungszeit der Meji-Ära.7 Mizuho Ishikawa, Leitartikler bei Sankei Shimbun und aktiver Befürworter der Wahl des Neonationalisten Shintaro Ishihara zum Gouverneur von Tokio, ist federführend in der Kampagne zur Revision der Schulbücher.8 Besonders gern erinnert er an „den Russisch-Japanischen und den chinesisch-japanischen Krieg, in denen es Japan gelungen ist, seine Rolle gegenüber dem Westen zu stärken“. Der Kreuzzug für einen „gesunden und rationalen“ Nationalismus ist sein Lebenselixier: „Die Japaner sollen wieder stolz auf ihre Geschichte und Kultur sein können. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde uns eingehämmert, das Vorkriegs-Japan sei eine Diktatur gewesen. Jetzt, endlich, können wir wieder denken.“ Auch Mizuho Ishikawa verwirft das „Primat der Wirtschaft“, allerdings aus ganz anderen Gründen als die Umweltschützer: „Wir haben der Wirtschaft eine zu große Bedeutung beigemessen. Es gibt wichtigere Werte als das Geld: Ehre, Disziplin, Kultur, Patriotismus, Liebe zu den Menschen oder internationale Verantwortung.“
Diese Strömung findet vorerst nur wenige Anhänger. Manche sehen darin jedoch eine Gefahr, falls sich die Wirtschaftskrise zuspitzt. Diese These vertritt Shin Sugo, eine Koreanerin der dritten Generation (der so genannten Zainichi), die bei ihren häufigen Fernsehauftritten den Gouverneur von Tokio scharf attackiert. „Shintaro Ishihara sucht nach Sündenböcken, um den Pluralismus im Lande zu beenden. Seine Popularität macht ihn umso gefährlicher.“
Bedingt durch die Krise kam es auch zu einem tiefen Vertrauensverlust, dem sich immer weniger Japaner entziehen können. Die Verschlechterung des sozialen Klimas ist mit den Händen zu greifen. Jüngste Umfragen belegen, dass das Gefühl der „finanziellen Sicherheit“ stark zurückgegangen ist, von 36 Prozent im Jahr 1999 auf 22 Prozent im Jahr 2001, und künftig zwischen 23 und 14 Prozent liegen wird. Angesichts der schwindenden Zukunftsaussichten schnallen die Japaner den Gürtel enger. Viele geben an, sie seien von der Gesellschaft angewidert oder enttäuscht (46 Prozent bis 77 Prozent) oder sie seien verzweifelt (28 Prozent bis 65 Prozent). Sie haben ihren Glauben an die großen kollektiven Institutionen verloren: die Familie, die Firma, die Schule. Scheidungen werden eher akzeptiert (nur mehr 31 Prozent lehnen sie radikal ab, gegenüber 47 Prozent in der Vergangenheit). Immer weniger Menschen möchten ihre Freizeit mit der Familie verbringen (45 Prozent gegenüber 69 Prozent).9
Ein Teil der Bevölkerung lebt in höchst unsicheren Verhältnissen. Miwa Takeuchi, 52 Jahre alt und allein erziehende Mutter, hat einen Teilzeitjob an der Universität. Ihre Lebensumstände werden zusehends schwieriger. Als sie im Zuge einer Entlassungswelle ihre Vollzeitarbeitsstelle in einem Verlag verlor, verbrachte sie ein halbes Jahr in den USA. Danach fand sie einen Job in einer Sprachschule, die jedoch in Konkurs ging. Gegenwärtig arbeitet sie an der Universität, aber hier droht ihr die Marginalisierung. „Zahlreiche Forscher und Mitglieder des Lehrkörpers wurden durch Aushilfskräfte ersetzt. Ich arbeite 28 Stunden in der Woche. Mein Stundenlohn wurde im Zuge des Sparens auf 1 220 Yen [1 000 Yen entsprechen etwa 10 Euro] reduziert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich unter diesen Voraussetzungen weiter an der Universität arbeiten kann. Mit meinem Geld komme ich nicht aus, trotz der Beihilfe für allein erziehende Mütter, die der Gesundheitsminister auch noch zu reduzieren droht.“ Die Sorgen von Frau Takeuchi sind umso begründeter, als der Arbeitsvermittlungsdienst „Hallo Work“ Arbeitskräften über 45 Jahren nur frühmorgendliche Putzjobs anbietet.
In diesem Land, wo der Gesellschaftsvertrag jahrzehntelang auf der Arbeitsplatzgarantie basierte, steigt die Angst vor der Arbeitslosigkeit von Monat zu Monat. Die meisten Japaner wissen, dass die Talsohle nicht erreicht ist. Hoshino Ryoichi, Direktor der Arbeitsvermittlungsfirma von Lidabashi, spricht es aus: „Wenn die Banken bei den säumigen Schuldnern härter durchgreifen, wird die Arbeitslosenrate drastisch ansteigen. Am härtesten wird es die über 45-Jährigen treffen. Die Regierung hat das Problem erkannt und empfiehlt Unternehmen, bei Stellenausschreibungen keine Altersgrenze anzugeben.“
Das Land ist im Umbruch begriffen. Die Rolle, die Japan zu Zeiten des Kalten Krieges spielte und seine bestimmenden Werte unterliegen einer Revision. Und das neu erwachte Interesse am Gemeinwohl bezeugt den tiefen Wunsch nach einer Demokratisierung der Gesellschaft. Es wird sich zeigen, ob sich dies auch in einem echten politischen Wandel äußern wird.
dt. Andrea Marenzeller
* Mitautorin (mit Pierre-Antoine Donnet) von „Japon, la fin d‘une économie“, Paris (Gallimard) 2000, und Autorin von „Japonaises, la révolution douce“, Arles (Philippe Picquier) 1999, Neuauflage 2000.