Eine Bilanz der Repression und der Solidarität
Von ISABELLE AVRAN *
AN einem Berghang nördlich der Altstadt von Jerusalem liegt das palästinensische Flüchtlingslager Schufat in der von Israel annektierten Zone. Hier leben auf engstem Raum dreißigtausend Menschen, Familien, die 1967 aus dem „marokkanischen Viertel“ nahe der Klagemauer vertrieben wurden. Vom Lager aus konnten sie beobachten, wie die israelische Besiedlung voranschritt. In den letzten Jahren erlebten sie den Ausbau des Siedlungsgürtels und die Gründung neuer Kolonien auf Land, das man den palästinensischen Bauern weggenommen hat.
Für die Flüchtlinge in Schufat, wo jede moderne Infrastruktur fehlt und das Abwasser durch die Lagergassen fließt, ist es dagegen ein fast aussichtsloses Unterfangen, Baugenehmigungen von den Behörden der Besatzungsmacht zu erhalten. Manchmal werden Häuser um eine Etage aufgestockt, um der jungen Generation Raum zu schaffen. Einige Bewohner riskieren sogar, ohne Erlaubnis zu bauen – was zur Folge haben kann, dass irgendwann eine Abrissverfügung der Armee an der Hauswand klebt. Dann rücken hier – wie überall, wo die Familien sich nicht fügen – die israelischen Planierraupen an.
Anfang 2002 sah Walid sein Haus im Geiste schon in Trümmern. Doch an jenem Tage kreiste nur ein Militärhubschrauber über dem Lager, die Soldaten mit ihrer Abrissmaschinerie kamen nicht. Im Rahmen der Kampagne „Zivile Missionen zum Schutz des palästinensischen Volkes“ waren Freiwillige aus verschiedenen Ländern ins Lager gekommen. Daniel aus Saint-Nazaire, Vertreter der Association France-Palestine Solidarité, fragte gleich zu Anfang: „Wie lange wird der Aufschub dauern?“
Seit Beginn der zweiten Intifada haben an solchen Missionen mehrere tausend Freiwillige aus Italien, Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Großbritannien, Frankreich, Kanada, den Vereinigten Staaten und anderen Ländern teilgenommmen – darunter Bauern, Journalisten, Sozialarbeiter, Ärzte, Jugendliche aus den Vorstadtsiedlungen, Künstler, Rechtsanwälte, Gemeinderatsmitglieder, Aktivisten der Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung, Gewerkschafter und Kirchenvertreter.
Sie alle kamen, um zu beobachten sowie konkrete Solidarität und einen Beitrag zum Schutz der Palästinenser zu leisten. Etwa indem sie Kranke durch Militärsperren ins Hospital bringen oder den Bauern gegen die ständigen Bedrohungen durch die Siedler beistehen und ihnen bei der Olivenernte helfen. Die Freiwilligen nehmen auch an friedlichen palästinensischen – manchmal auch israelisch-palästinensischen – Kundgebungen teil, die das Ende der Besatzung und die Entsendung einer internationalen Schutztruppe fordern.
Nach Angaben des Palästinensischen Rates für Frieden und Gerechtigkeit (PCJP) hatten die Palästinenser von September 2000 bis Januar 2002 949 Tote zu beklagen, darunter 225 Kinder. Unter den 33 349 Verletzten waren 217 Kinder; 2 950 Menschen werden ihr Leben lang behindert bleiben.
Am 18. Oktober 2001, kurz nach der Ermordung des zurückgetretenen israelischen Tourismusministers Rechawam Seewi,1 besetzten israelische Truppen die autonomen Gebiete von Bethlehem und Beit Dschala samt den umliegenden Flüchtlingslagern. Innerhalb einer Woche wurden fünfzehn Palästinenser getötet, ausnahmslos unbewaffnete Zivilpersonen. Die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem, die das Vorgehen scharf verurteilte, sieht darin die „Verletzung eines der grundlegenden Prinzipien des internationalen Rechts“ und kritisiert, dass die Militärs „sich dafür nicht verantworten müssen“ – dies komme einer Aufforderung gleich, „völlig straflos die Menschenrechte der Palästinenser zu verletzen“.
Eine Schutztruppe von freiwilligen Zivilisten
ALLEIN im Januar 2002 verzeichnet die Statistik des PCJP 34 Palästinenser, die von israelischen Soldaten oder Siedlern getötet wurden – darunter 6 Kinder – und 786 Verwundete, davon wiederum 250 Kinder. Innerhalb dieses einen Monats wurden außerdem 357 Personen verhaftet. Laut PCJP wurden im selben Zeitraum 3 621 dunum2 palästinensischer Boden beschlagnahmt, auf weiteren 357 dunum wurden Anpflanzungen zerstört; 2 644 Bäume wurden entwurzelt, 423 Häuser zerstört.
Die Bevölkerung muss eine Wirtschaftsblockade und immer wieder die Abriegelung der Autonomiegebiete erdulden; die wachsende Zahl von Straßensperren, die den Waren- und Personenverkehr fast vollständig zum Erliegen bringen, hatte einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Folge.
Einrichtungen der palästinensischen Infrastruktur werden ständig weiter zerstört, der Alltag ist geprägt von den endlosen Wartezeiten an den Sperren, vom Lärm der Hubschrauber und der F-16-Kampfflugzeuge. „Diese alltägliche Gewalt muss ein Ende haben“ sagt eine palästinensische Menschenrechtsaktivistin. „Sie erzeugt Verbitterung, Verzweiflung, Radikalisierung – oder gar die gefährliche Vorstellung, dass der Schrecken für uns ein Ende hätte, wenn die israelische Gesellschaft eine verschärfte Form des Terrors zu spüren bekäme.“
Es ist höchste Zeit, die palästinensische Bevölkerung zu schützen, um sie gegen Verletzungen ihrer elementaren Rechte zu verteidigen, aber auch um den für beide Gesellschaften tödlichen Kreislauf von Terror, Anschlägen und Repression zu durchbrechen und endlich zu einer politischen Lösung zu kommen.
Am 14. Dezember 2001 wurde der Antrag Tunesiens, eine internationale Schutztruppe nach Palästina zu entsenden, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen abgelehnt. Die USA legten ihr Veto ein, die europäische Haltung war uneinheitlich: Während sich Großbritannien und Norwegen der Stimme enthielten, stimmten Frankreich und Irland für den Vorschlag. Wo die Staaten nicht eingreifen wollten, wurden zivile Gruppen tätig – allerdings macht sich niemand Illusionen über die Möglichkeiten ziviler Freiwilliger, etwas gegen eine Armee auszurichten. „Wir wollen die Staaten dazu bringen, sich ihrer Verantwortung zu stellen“, meint Nahla Schahal von der Internationalen zivilen Kampagne für den Schutz des palästinensischen Volkes (CCIPPP).
In Palästina werden diese Missionen seit dem Beginn des Aufstands von der kleinen Organisation „Rapprochement“ unter der Leitung von Hassan Andoni betreut, die ihren Sitz in Beit Sahur bei Bethlehem hat. Bereits während der ersten Intifada 1987–1993 hatte sich die Ortschaft durch ihren gewaltlosen Widerstand, vor allem in Gestalt eines Steuerstreiks, gegen die Besatzung hervorgetan. An dieser Haltung konnten auch Gegenmaßnahmen wie die Zerstörung von Häusern und Verhaftungen nichts ändern.
Im Lauf des Jahres 2001 kam die Mehrheit der palästinensischen Nichtregierungsorganisationen überein, die Missionen gemeinsam zu fördern und zu betreuen. Am Einsatz der internationalen Freiwilligen schätzten die NGOs nicht nur die unmittelbare und konkrete Wirkung, sondern auch das aktive Durchbrechen der Isolation, in die sich die Palästinenser nicht nur physisch – durch Ausgangssperren und weitere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit –, sondern auch moralisch gedrängt sehen. Im Namen der Solidarität wenden sich die Missionen gegen die Vorstellung einer zweigeteilten Welt und gegen die Tendenz der Gemeinschaften, sich aus kulturellen oder religiösen Gründen gegeneinander abzuschotten.
Wenige Tage nachdem Israel am 24. Oktober Beit Rima mit Panzern und Hubschraubern angegriffen hatte, trafen Freiwillige einer zivilen Mission der CCIPPP in der Ortschaft ein. „Das Erste, was wir bei unserem Besuch im ‚Dorf der Märtyrer‘ sahen“ erzählt Olivier, Journalist und einer der Teilnehmer, „war eine Hausruine mit rußgeschwärzten Mauern; überall lagen Glassplitter und verkohlte Stoffreste. Der Eigentümer meinte, er habe Glück gehabt – die Familie war nicht zu Hause, als die israelischen Soldaten einen Brandsatz durch ein Fenster warfen.“
Olivier berichtet auch vom Zusammentreffen mit den Einwohnern von al-Mauassi im Gaza-Streifen, die nun in Zelten leben müssen, nachdem ihre Häuser zerstört wurden, und von der Lage der Bevölkerung in Hebron, die nicht nur seit vielen Monaten mit einer nahezu permanenten Ausgangssperre lebt, sondern auch die Übergriffe fanatischer jüdischer Siedler in der Altstadt hinnehmen muss.
Eine Gruppe von Freiwilligen aus der Gegend von Rennes besuchte am 29. Oktober 2001 das Flüchtlingslager Aida. „Die Brunnen zerstört, Einschusslöcher an fast jedem Haus, die Mädchenschule der UNRWA3 in traurigem Zustand.“ Die Teilnehmer haben mit Familien gesprochen, die Opfer zu beklagen hatten – den Vater, die Mutter … Und sie haben beschlossen, in Flüchtlingslagern oder Dörfern gemeinsam mit den Palästinensern zu arbeiten: „Wir wollen die Solidarität festigen und den Palästinensern im Alltag beistehen“, erklärt ein Teilnehmer. „Dass trotz aller Gefahren die Ernte eingebracht wird, Bäume auf beschlagnahmtem Land gepflanzt werden, dafür interessieren sich die Medien natürlich nicht so sehr wie für die Auseinandersetzungen mit der Armee. Aber diese alltägliche Entschlossenheit ist nötig, um zu bleiben, um an dem Land festzuhalten.“
Als besonders ausdauernd bei diesen Einsätzen haben sich unter den Freiwilligen die Schafzüchter aus Millau und die Bauern aus der Bretagne erwiesen. Dominique und Samira erinnern sich an ihren Aufenthalt in Deir Istia; „Man musste die Felder vorbereiten, umgraben, Steine entfernen, dann die Pflanzen setzen und die Erde festklopfen – nicht zu stark, um die Wurzelbildung nicht zu behindern. Um die jungen Pflanzen wurde ein Geflecht von dornigen Zweigen angelegt, zum Schutz gegen die Gazellen, aber auch um sie vor den Blicken der Siedler zu verbergen […]. In der Nachbarschaft gibt es sieben Siedlungen, die auf enteignetem Land erbaut worden sind, von dreien hat man einen direkten Blick auf diese Felder.“
Dass sie sich wiederholt an verschiedenen Checkpoints der Armee zeigten, hat den Freiwilligen die Aufmerksamkeit der lokalen Presse eingebracht und auch die Palästinenser ermutigt – denen ist allerdings klar, dass sie nach der Abreise der „Internationalisten“ wieder auf sich gestellt sein werden. Die israelische Armee war über solche Aktionen offenbar verärgert und ging einige Male gewaltsam gegen die Freiwilligen vor, die gelegentlich auch als „Terrortouristen“ bezeichnet wurden.
In Europa nimmt die Zahl der Teilnehmer an solchen Missionen zu – ein Zeichen dafür, dass die Öffentlichkeit aufmerksam geworden ist. Dazu hat in Frankreich vor allem die CCIPPP beigetragen, die im Juni 2001 erstmals eine Gruppe bekannter Persönlichkeiten, vor allem aus sozialen Bewegungen und Anti-Globalisierungs-Organisationen,4 entsandte. Der Bauerngewerkschaftler José Bové sprach bei dieser Gelegenheit von der „Internationalen Solidarität der Landlosen“.
Nahla Schahal von der CCIPPP ist überzeugt, dass die Begegnung von Aktivisten aus arabischen Ländern mit den Kindern arabischer Emigranten, die Diskussionen über den politischen Rahmen der Missionen und der Austausch zwischen Franzosen arabischer und jüdischer Herkunft auch in den Vorstadtsiedlungen der französischen Städte positive Auswirkungen haben werden. Schließlich haben sich schon viele beurs, also Kinder der Einwanderer aus Nordafrika, für die Solidaritätseinsätze in Palästina gemeldet. Bei diesen sind übrigens die Frauen gegenüber den Männern in großer Überzahl.
dt. Edgar Peinelt
* Journalistin