15.03.2002

Wenn Soldaten endlich Nein sagen

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Wenn Soldaten endlich Nein sagen

SEIT im Januar die Resolution der Reserveoffiziere gegen die israelische Besatzungspolitik publik wurde, werden die gewaltsamen Übergriffe der israelischen Armee auch im eigenen Lande zunehmend kritisch gesehen. Die Risse in der Gesellschaft werden damit immer deutlicher sichtbar. Nach langer Zeit kam es wieder zu Friedensdemonstrationen, und die Israelisch-Palästinensische Koalition für den Frieden findet zunehmend Anhänger. Die Weigerung von Offizieren und Soldaten, sich in den besetzten Gebieten einsetzen zu lassen, findet bei vielen Israelis Verständnis. Und sie beunruhigt das politische Establishment, das sich fragen muss, ob seine militärische Logik langfristig durchzuhalten ist.

Von JOSEPH ALGAZY *

Am 25. Januar 2002 erschien in der israelischen Zeitung Ha’aretz eine Anzeige mit folgendem Text:

„Wir, Offiziere und Soldaten der Reserve in kämpfenden Einheiten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), die erzogen wurden nach den Grundsätzen des Zionismus, dem Staat und dem Volk Israel zu dienen und Opfer zu bringen, die stets in vorderster Front kämpften und bereit waren, jede Aufgabe, ob leicht oder schwer, zu erfüllen, um den Staat Israel zu schützen und zu stärken; […] wir, die gespürt haben, wie die Befehle, die uns in den Gebieten erteilt wurden, alle Werte zerstörten, die wir übernommen haben, als wir in diesem Land aufwuchsen; wir, die wir nun begriffen haben, dass der Preis für die Besetzung darin besteht, dass die Armee jede Menschlichkeit verliert und die gesamte israelische Gesellschaft moralisch zersetzt wird; wir, die wir wissen, dass die Gebiete nicht zu Israel gehören und dass alle Siedlungen am Ende geräumt werden müssen; wir erklären hiermit, dass wir diesen Krieg um die Siedlungen nicht länger führen werden. Wir werden nicht länger jenseits der Grenzen von 1967 kämpfen, um ein ganzes Volk zu beherrschen, zu vertreiben, auszuhungern und zu erniedrigen. Wir erklären hiermit, dass wir unseren Dienst in den Streitkräften fortsetzen und jede Aufgabe erfüllen werden, die der Verteidigung Israels dient. Besetzung und Unterdrückung dienen diesem Zweck nicht – und an solchen Operationen werden wir nicht teilnehmen.“

Diese Erklärung war unterzeichnet von 52 Offizieren und Soldaten der Reserve.1 Bis Ende Februar war die Zahl der Unterzeichner auf 300 gestiegen. Seit dem Ausbruch der Intifada im Oktober 2000 haben 500 Reservisten den Einsatz in den besetzten Gebieten verweigert, 46 Reservisten oder Wehrdienstverweigerer mussten dafür ins Gefängnis, 200 vor der Prüfungskommission der Armee erscheinen. Die Verweigerungsbewegung löst in allen Bereichen der israelischen Gesellschaft Unruhe aus, vor allem in der Armee. Auch in der Knesset wurde das Thema diskutiert.

Am selben 25. Januar waren in der Tageszeitung Jediot Aharonot Berichte mehrerer Reservisten über ihre Einsätze zu lesen. Der Artillerieunteroffizier Ariel Shatil berichtete, wie er Soldaten seiner Einheit beim Schießen auf Unbeteiligte erwischte. Fallschirmjägerleutnant David Zonshein musste erleben, wie seine Kameraden Wohnhäuser überfielen und zerstörten. Artillerieleutnant Ishai Sagi war ins Westjordanland abkommandiert – zum Schutz von Siedlern, die Palästinenser überfielen und deren Autos anzündeten. Shoki Sadé, Unteroffizier bei den Fallschirmjägern, hörte Soldaten aus seinem Bataillon mit gleichmütiger Stimme erzählen, wie sie in Chan Junis einen Jungen getötet hatten. Die vier überzeugten Zionisten, die sich in dieser Zeitung äußerten, hatten an Israels Feldzügen in den Libanon teilgenommen und wollten auch weiterhin als Reservisten dienen – aber nicht mehr in den besetzten Gebieten. Dort hätten sie „das Gefühl gehabt, ihre Menschlichkeit zu verlieren“, schrieb die Zeitung: „Nun wollen sie nicht länger schweigen. Ihr Ziel: eine breite Verweigerungsbewegung zu schaffen, um die politischen Ziele neu zu gewichten.“

Kaum jemand in Israel hatte je geglaubt, die Armee könne den Aufstand der Palästinenser unterdrücken, ohne Kriegsverbrechen zu begehen. Sogar Exbrigadegeneral Ephraim Sneh, damals Verkehrsminister, hatte sechs Monate nach Ausbruch der Intifada vor der Gefahr einer Eskalation gewarnt: „Scharon wird ohne mich vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag erscheinen müssen.“2 Aber es dauerte seine Zeit, bis die Öffentlichkeit das Ausmaß der Exzesse begriff, die sich die Armee in ihrem Krieg gegen die Palästinenser erlaubte. Jüngster Höhepunkt war Mitte Januar 2002 die Zerstörung dutzender Wohnhäuser in Rafah, im Süden des Gaza-Streifens. Die Dementis der Militärführung konnten niemand überzeugen.

Eine Woche zuvor hatte in Tel Aviv ein Gespräch zum Thema „Wie stehst du zu Den Haag?“ stattgefunden. Das Motto stammte von Igal Shohat – Arzt und ehemaliger Kampfpilot, der im August 1970, im „Abnutzungskrieg“ mit Ägypten, abgeschossen und in Kriegsgefangenschaft geraten war – und bezog sich auf ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH). Im Verfahren über das Massaker von Kfar Kassem (29. Oktober 1956) hatte der IGH einige der Verantwortlichen verurteilt und die Verweigerung gesetzwidriger Befehle legalisiert. „Die willentliche Tötung von Zivilpersonen ist ein Kriegsverbrechen“, erklärte Shohat, und er appellierte an die Soldaten, den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, an die Piloten, keine Angriffe auf Städte zu fliegen, an die Fahrer der Bulldozer, keine Häuser mehr zu zerstören. Man solle alle Befehle verweigern, die „unter der schwarzen Flagge der Illegalität“ erteilt werden. Aber manche Leute würden diese schwarze Flagge nie bemerken,„selbst dann nicht, wenn sie miterleben, wie ein gefesselter Araber ermordet wird. Andere sehen sie erst, wenn sie älter geworden sind. So wie ich: Als junger Pilot habe ich es mit der Wahl der Mittel nicht so genau genommen.“3

Im Laufe der Auseinandersetzung stellte Exgeneral Ami Ajalon – ehemals Befehlshaber der Kriegsmarine, aber auch Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth – verwundert fest, dass „nur so wenige Soldaten offensichtlich gesetzwidrige Befehle verweigern. Wenn sie unbewaffnete Kinder töten, handeln sie ja wohl nach einem illegalen Befehl.“4

Diese Äußerung brachte die politisch-militärische Führung in Harnisch und bewog sie zu dem Entschluss, die Bewegung der Verweigerer zu zerschlagen. General Schaul Mofaz, Chef des Generalstabs, ließ alle Unterzeichner der Erklärung vom Januar wissen, man werde sie vor ein Militärgericht stellen und bestrafen, sollten sie weiterhin den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern. Sein Vorgänger, General Amnon Lipkin-Schahak, sprach von einer tödlichen Bresche in den „Festungsmauern“ des Staates Israel.5

Die Verweigerungsbewegung begann in den späten Siebzigerjahren, als einzelne Soldaten ihren Dienst nicht mehr in den besetzten Gebieten leisten wollten; dasselbe geschah später im südlichen Libanon. Keiner von ihnen hätte damals geglaubt, dass noch seine Kinder eine ähnliche Situation erleben würden. Im April 1970, während des „Abnutzungs“-Kriegs zwischen Israel und Ägypten, hatte eine Gruppe von Gymnasiasten anlässlich ihrer Einberufung in einem offenen Brief an Ministerpräsidentin Golda Meir appelliert, nicht die letzten Chancen für einen Frieden zu verspielen. Im Sommer 1980 teilten 27 junge Israelis Verteidigungsminister Eser Weizman ihren Entschluss mit, den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern – einige wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Andere verweigerten den Dienst im Libanon und gründeten im Sommer 1983 die Organisation Jesch Gwul („Es gibt eine Grenze“), die bis heute aktiv ist.

Einer der Ersten, die diese Verweigerer unterstützten, war Professor Jeschajahu Leibowitz (1903–1994). Er hatte Israel bereits im März 1969 davor gewarnt, die arabischen Gebiete zu besetzen und hunderttausende von Arabern zu unterdrücken. Die Idee eines „Großisrael“ hielt er für ein „unheilvolles Monstrum“, das „den israelischen Menschen verderben und das jüdische Volk auslöschen“ sowie „die Erziehung vergiften“ und „die Freiheit des Denkens und der Kritik beeinträchtigen“ werde.6 Jahre später bezeichnet er die jungen Verweigerer als „die wahren Helden Israels, weil sie der Staatsmacht und der Armeeführung den Gehorsam verweigern – zwei rechtlichen Institutionen also, deren Maßgaben den Charakter des Staates Israel verändern, der ja nicht gegründet wurde, um ein anderes Volk zu unterdrücken. Die zivilen und militärischen Führer versuchen, das politische Instrument der nationalen Unabhängigkeit des jüdischen Volkes in einen Repressionsapparat jüdischer Macht zu verwandeln, die gewaltsam gegen ein anderes Volk eingesetzt wird – um mit amerikanisch gepanzerter eiserner Faust in allen Gebieten jenseits der ‚grünen Linie‘ zu herrschen.“7

Gegen die Verteidigung jüdischer Siedlungen

SEIT Beginn der Repressionsmaßnahmen gegen die Al-Aksa-Intifada unterstützt die Organisation Jesch Gwul Soldaten, die den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern. Das gilt erst recht, seit die Zahl der Verweigerer wächst und einige von ihnen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Die Vereinigung führt eine Kampagne unter dem Motto „Der Krieg zur Verteidigung der jüdischen Siedlungen und ihrer Schlägerbanden im Westjordanland und im Gaza-Streifen ist nicht unser Krieg“. Die Soldaten werden aufgefordert, eine Erklärung zu unterzeichnen, dass sie nicht bereit seien, sich an der Unterdrückung des palästinensischen Volkes und an Operationen zum Schutz der jüdischen Siedlungen zu beteiligen.8 Im Dezember 2001 gab Jesch Gwul den Soldaten zu bedenken: „Auf unbewaffnete Zivilisten zu schießen, Wohnviertel zu bombardieren, an ‚gezielten Tötungen‘ teilzunehmen, Wohnhäuser zu zerstören, der Bevölkerung Güter des täglichen Bedarfs, Nahrungsmittel und Medikamente vorzuenthalten, Gewerbebetriebe zu zerstören – all dies sind Kriegsverbrechen.“ Rekruten und Reservisten wurden aufgefordert, sich öffentlich mit einem klaren Nein von diesen Praktiken zu distanzieren.9

Eine neue Organisation, die sich „Neuer Entwurf für eine Zivilgesellschaft“ nennt, hat eine Petition verbreitet, die Gymnasiasten an den Ministerpräsidenten, den Verteidigungsminister und den Generalstabschef gerichtet haben. Darin verurteilen sie die aggressive und rassistische Politik der Regierung und der Armee und erklären, sie seien nicht bereit, an der Unterdrückung des palästinensischen Volkes mitzuwirken.10 Zwei der Unterzeichner wurden im Januar 2002 in Militärhaft genommen.

Die Verweigerung ist längst keine Randerscheinung mehr. Zum einen hat die Zahl der Verweigerer zugenommen, zum anderen ist diese Haltung inzwischen auch in regulären Armee-Einheiten und zumal unter den Soldaten und Offizieren anzutreffen, die als Reservisten regelmäßig zum Wehrdienst einberufen werden. Dabei handelt es sich nicht nur um junge Leute, die der extremen Linken, dem nichtzionistischen oder dem pazifistischen Lager angehören, sondern auch um Israelis, die sich als Zionisten verstehen und noch bis vor kurzem an die nationale Durchhalteparole „Right or wrong – my country“ glaubten.

Der Erfolg dieser Bewegung zeugt von einem allgemeinen Stimmungswandel in der israelischen Bevölkerung. Viele Bürger haben die Übergriffe auf die besetzten Gebieten satt, andere sind mit der Politik der jetzigen Regierung insgesamt nicht einverstanden, auch im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wieder andere haben einfach Angst – sie fürchten den bewaffneten Widerstand der Palästinenser, die Selbstmordattentate und Anschläge gegen die Zivilbevölkerung. Viele, die noch letztes Jahr für Ariel Scharon gestimmt haben, sind jetzt enttäuscht, weil sein Wahlversprechen – Frieden und Sicherheit – nicht eingelöst wurde und die Situation sich im Gegenteil weiter verschärft hat. Manche Wähler der Arbeitspartei fühlen sich verraten, weil ihre Führung in der Regierungskoalition sitzt und den gefährlichen Kurs von Ariel Scharon mit vollzieht. Einige empören sich über das Versagen der Linken, die nicht bereit oder nicht gewillt war, gegen die katastrophale Politik der jetzigen wie früherer Regierungen öffentlich mobil zu machen. Auch die Medien stehen in der Kritik, weil sie überwiegend regierungsfreundlich berichten und ihren Auftrag der unabhängigen Information vernachlässigen.11

Diese politische Lücke versucht eine Protestbewegung zu füllen, die sich vor allem aus Menschenrechtsvereinigungen zusammensetzt: „Ärzte für Menschenrechte“, „Rabbiner für Menschenrechte“, „Komitee gegen die Zerstörung von Häusern“, B’Tselem, „Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten“, „Gusch Schalom“. Dazugekommen ist auch eine arabisch-israelische Gruppierung namens Taajusch (arabisch für „Zusammenleben“).

Taajusch entstand gleich nach dem Ausbruch der Al-Aksa-Intifada und konnte rasch eine neue Generation von Aktivisten mobilisieren, die in Israel wie in den besetzten Gebieten auftraten. Die jungen Leute reagierten auf die tragischen Ereignissen im Oktober 2000, als dreizehn arabische Israelis (und ein Palästinenser aus den besetzten Gebieten, der gerade in Israel weilte) von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurden, und auf die Tatsache, dass keine jüdisch-arabische Gruppierung existierte, die entschlossen gegen die Politik des Rassismus und der Apartheid in Israel auftrat. Deshalb organisierte sie – mit Unterstützung vor Ort und an konkrete Probleme anknüpfend – gewaltlose Massenproteste, um ein neues jüdisch-arabisches Engagement zu begründen. Taajusch tritt der Verteufelung der Palästinenser entgegen und baut neue Brücken der Solidarität – in der Überzeugung, dass man Angst und Rassismus nur durch Zusammenarbeit an der Basis überwinden kann.

Bisher hat die Organisation in Zusammenarbeit mit lokalen palästinensischen Aktivisten acht Konvois von Lastwagen und privaten Fahrzeugen organisiert, die Lebensmittel in abgeriegelte palästinensische Dörfer brachten. Durch die Straßensperren der israelischen Armee zu kommen war nicht einfach; doch am Ende scheiterten alle Versuche, die Konvois aufzuhalten. Im Sommer 2001 trafen sich 400 jüdische und arabische Taajusch-Aktivisten zu einem dreitägigen Arbeitseinsatz in Dar al-Hanun, einem arabischen Dorf in Israel: Sie bauten einen Kinderspielplatz und besserten eine Straße aus.12

Viele Monate lang konnten Israels Regierung und Armee die Palästinenser in den besetzten Gebieten auf die übelste Weise behandeln, ohne in der israelischen Gesellschaft auf nennenswerten Widerspruch zu stoßen. Damit ist es nun offenbar endlich vorbei. Gegen diese Politik ist eine neue Friedensbewegung angetreten, die sich Gehör zu verschaffen weiß. Das gibt Anlass zu neuen Hoffnungen, die Israelis wie Palästinenser so dringend nötig haben.

dt. Edgar Peinelt

* Journalist in Tel Aviv.

Fußnoten: 1 www.seruv.org.il. 2 Yedioth Aharonot (Tel Aviv), 20. April 2001. 3 Ha’aretz (Tel Aviv), 18. Januar 2002. Falls nicht anders vermerkt, stammen alle Zitate aus Ha’aretz. 4 Im ersten Programm des israelischen Fernsehens, am 1. Februar 2002. 5 Im zweiten Fernsehprogramm, am 2. Februar 2002. 6 16. März 1969. 7 Jeschajahou Leibowitz, „La mauvaise conscience d’Israel. Entretiens avec Joseph Algazy“, Paris (Le Monde Éditions) 1994. 8 1. Dezember 2000. 9 9. Dezember 2001. 10 6. September 2001. 11 Siehe die Beilage in Le Monde, 10. und 11. Februar 2002. 12 Siehe www. taayush.tripod.com.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von JOSEPH ALGAZY