15.03.2002

Jedem sein eigener Geldautomat

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Jedem sein eigener Geldautomat

NACH zehn Jahren permanenten Wachstums steckt die amerikanische Wirtschaft derzeit erstmals wieder in einer Rezession. In den Neunzigerjahren, als die Wachstumsraten stabil waren, nahm die durchschnittliche Arbeitszeit der Beschäftigten deutlich zu, außerdem erlebten sie eine Neubestimmung ihres Verhältnisses zur Unternehmensführung. Von „Ausbeutung“ war nicht mehr die Rede – „Zusammenwirken“ lautete die neue Parole. Lohnerhöhungen gab es nicht, dafür wurde jeder Mitarbeiter zum „Manager“ befördert. Und heute halten sich die amerikanischen Großunternehmen zugute, dass sie – vom Platz im Theater über den Hemdendienst bis hin zur Trauerberatung – eine Rundumversorgung anbieten, damit ihre Mitarbeiter Höchstleistungen erbringen.

Von IBRAHIM WARDE *

Glaubt man den jüngsten statistischen Angaben des Internationalen Arbeitsamtes, dann wird nur in Südkorea und Tschechien noch mehr gearbeitet als in den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2000 verbrachte ein US-amerikanischer Arbeitnehmer durchschnittlich 1 979 Stunden an seinem Arbeitsplatz, 36 Stunden mehr als 1990.1 Das widerspricht der von bedeutenden Soziologen vertretenen Weisheit, dass zunehmender Reichtum und wirtschaftlicher Erfolg mit einer Verringerung der Arbeitszeit einhergehen – ein Trend, der in der Tat fast überall in der Welt zu beobachten ist.2

Benjamin Hunnicutt, Historiker an der Universität Iowa, beschäftigt sich seit langem mit der Geschichte von Arbeit und Freizeit. Sein Befund: „Arbeit ist zu einer neuen Ideologie, einer neuen Religion geworden.“ Und die Wirtschaftswissenschaftlerin Juliet Schor kommt zu dem Schluss, dass immer mehr gearbeitet werden muss, um einen Ausgleich für die ständig sinkende Kaufkraft zu schaffen. Man will sich schließlich etwas leisten können – dafür sorgen die Werbung, die sozialen Konventionen und der Blick auf den Lebensstandard der Nachbarn.3

Für Familie, Freizeit oder soziales Engagement bleibt bei diesem Dauerstress kaum noch Zeit. Aber inzwischen kümmern sich die Unternehmen darum, dass kein Gefühl der Leere aufkommt. Wie der Soziologe Arlie Hothschild festgestellt hat, ist für eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern der Arbeitsplatz zum eigentlichen Zuhause geworden. Es geht dort eben – wohl gemerkt: die Rede ist hier nicht von Fabriken – geselliger und freundlicher zu als in den eigenen vier Wänden.4

Den neuen Umgang mit der so genannten human ressource haben die Branchenriesen der New Economy eingeführt (Microsoft, Oracle, Cisco, Apple, Amazon u. a.), die in den Augen der globalisierungsbegeisterten Eliten die Speerspitze des technologischen und sozialen Fortschritts bilden. Ihr Prinzip ist, dass das Unternehmen sich um die materiellen, psychischen und affektiven Bedürfnisse seiner Mitarbeiter zu kümmern hat.

Soziales Zentrum dieser Unternehmen ist der Campus – der Begriff suggeriert zugleich ein jugendlich-lockeres Ambiente und einen abgeschiedenen Ort, an dem man sich zu Hause fühlen kann. Tatsächlich bietet der Campus fast alles: Kindertagesstätten, Fitnessstudios, Sportanlagen, Cafés, Therapeuten und „Trauerberater“ (grief counsellors), weiterhin eine Wäscherei, ein Postamt, „Pausenräume“, in denen nach Bedarf Getränke oder Aspirin zu haben sind, es gibt sogar einen „Hausservice“, der Theaterkarten bestellt oder Blumen schickt. Zweck des Ganzen ist nicht etwa, die Angestellten zu entlasten, schon gar nicht die mittleren und oberen Führungskräfte, sondern ihnen optimale Bedingungen für die völlige Verausgabung zu bieten: Wohlbefinden soll bekanntlich produktivitätssteigernd wirken.

Die Wirtschaftspresse veröffentlicht regelmäßig Ranglisten der Unternehmen, in denen „gute Arbeitsbedingungen“ herrschen – an der Spitze stehen nicht etwa die Firmen, die ihren Mitarbeitern Vorteile der traditionellen Art bieten (gute Bezahlung, soziale Leistungen, Aufstiegsmöglichkeiten oder Arbeitsplatzgarantien), sondern jene, die ein „angenehmes Arbeitsklima“ geschaffen haben.

Nach einer unlängst vom Wirtschaftsmagazin Fortune durchgeführten Umfrage sind dabei drei Faktoren entscheidend: das Gefühl, an einer großen Aufgabe mitzuwirken, eine Unternehmensführung, die sich darauf versteht, die Mitarbeiter zu motivieren, und – das Angebot auf dem Campus.5

Dave Arnott, Professor für Managementtheorie an der Dallas Baptist University, verweist auf die Parallele zu den drei entscheidenden Merkmalen von Religionsgemeinschaften: gläubige Hingabe, Führung durch eine charismatische Person und die Abkehr von der Gesellschaft. In den Unternehmen, die von qualifizierten Arbeitskräften besonders geschätzt werden, gibt es zwei Begründungszusammenhänge für die obsessive Vertiefung in die Arbeitsaufgaben. Zum einen ist man überzeugt, an einer bedeutenden und großartigen Unternehmung mitzuwirken (der Gestaltung der Zukunft, der Veränderung der Welt), zum anderen hat die gnadenlose Konkurrenz in den Neunzigerjahren eine Stimmung entstehen lassen, in der sich alle wie im heiligen Krieg fühlen konnten – gegen andere Firmen, gegen die Regierung, gegen überholte Vorstellungen.

Hinzu kamen hohe finanzielle Anreize. „Es geht nicht um Geld, sondern um die Zukunft“ lautete die programmatische Erklärung von John Doerr, der Nummer eins im amerikanischen Geschäft mit dem Risikokapital.6 Ein Grund mehr, sich erst einmal völlig zu verausgaben, denn reich wurde man ja nicht durch das Monatsgehalt, sondern durch seine Aktienanteile, deren Kurs im Rahmen der New Economy keine Obergrenze zu kennen schien.7

Die gewissermaßen kultische Verehrung der Bosse tut ein Übriges. Als charismatische Unternehmensführer gelten zum Beispiel Steve Jobs (Apple), Bill Gates (Microsoft), Larry Ellison (Oracle), Jack Welch (General Electric) und Herb Kelleher (Southwest Airlines). Ihnen ist die blinde Gefolgschaft ihrer Angestellten ebenso sicher wie die Aufmerksamkeit einer Öffentlichkeit, die jede ihrer neuen Entscheidungen und Großtaten begeistert verfolgt.8 Und was die Abkehr solcher Gemeinschaften von der Gesellschaft angeht – sie funktioniert, weil die Arbeitnehmer eigentlich keinen Grund mehr haben, das Betriebsgelände zu verlassen (außer vielleicht, um zu schlafen) und sich auf die Welt draußen einzulassen. Dank der neuen Technologien (Magnetkarten, Überwachungskameras, Mobiltelefon, E-Mail usw.) kann man die Leute bequem an der „elektronischer Leine“ führen, sie jederzeit ausfindig machen und mit ihnen in Verbindung treten.

Die Firma als Club der einsamen Herzen

BARBARA BECK, Personalchefin bei Cisco – die Firma hat kürzlich erklärt, sie erwarte von ihren Mitarbeitern eine Produktivitätssteigerung um 50 Prozent9 – ist der Ansicht, dass es heute nicht mehr darum gehe, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Familie und Beruf herzustellen, vielmehr seien die beiden Bereiche zu „integrieren“. Noch deutlicher zeigt sich die wechselseitige Durchdringung von beruflichem und privatem Bereich bei Southwest Airlines, einem viel gerühmten Unternehmen, das unter anderem dafür bekannt ist, dass es „Beziehungen“ zwischen seinen Mitarbeitern fördert: Es gibt unter den Angestellten nicht weniger als 821 Ehepaare, und die Firma unterhält einen eigenen „Club der einsamen Herzen“, die gern eine „verwandte Seele“ finden möchten.10 Bedauerlicherweise ist dieser neue „Gesellschaftsvertrag“ nicht für beide Seiten bindend. Während sich die Arbeitnehmer mit Leib und Seele hingeben sollen, hat der Arbeitgeber keine Skrupel, ihnen den Job mitsamt Familie und Gemeinschaft wegzunehmen, wenn der nächste Rationalisierungsschub oder Personalabbau ansteht.

Ähnlich wie in religiösen Gemeinschaften findet eine ständige Indoktrinierung statt: Seminare zum Zweck der Weiterbildung, Veranstaltung zur Erholung oder inneren Sammlung und Mitarbeiterversammlungen – all das dient dazu, den Teamgeist zu fördern und jede Kritik im Keim zu ersticken. Wie ein Katechismus werden die Grundwerte des Unternehmens (seine Mission, seine Ziele) immer wieder heruntergebetet, begeistert singt man Werkshymnen und skandiert Parolen, gespickt mit Metaphern aus Krieg und sportlichem Wettkampf. Selbst in der Kleiderordnung wird die Ergebenheit gegenüber dem Unternehmen deutlich: Häufig sind die Angestellten gehalten, das Firmenlogo sichtbar zu tragen. Beim Sportschuhgiganten Nike gehört es zum guten Ton, sich das berühmte Logo aufs Fußgelenk tätowieren zu lassen.

Zweifelhafte Theorien müssen hier zur Begründung höchst sonderbarer Praktiken herhalten. So beschäftigen die Firmen inzwischen unzählige Animateure, Lebenshelfer und sonstige Coaches, die den Mitarbeitern die „Kunst der Selbstfindung“ nahe bringen sollen. Und die Angestellten werden angehalten, nach dem Modell mancher Talkshows (und dem Vorbild der Religionen) ihre intimsten Geheimnisse preiszugeben.

Bei der Firma Health Care and Retirement Corporation ist man überzeugt, dass Umarmungen (hugs) unter Mitarbeitern einen wichtigen Beitrag zur Erzeugung eines ständigen Hochgefühls leisten. Folglich sind alle Beschäftigten verpflichtet, an einem elfstündigen Seminar zu diesem Thema teilzunehmen. Harley King, der Personalchef des Unternehmens, erklärt: „Jeder Mensch braucht acht bis zehn Umarmungen am Tag – vier sollten es mindestens sein.“ Allerdings gilt es, zwei wichtige Einschränkungen zu beachten, damit kein Verfahren wegen sexueller Belästigung droht: Vor jeder Umarmung muss der oder die Umarmte sich einverstanden erklären, und die Mitarbeiter dürfen ihre Gunstbezeugungen nicht auf die besonders attraktive Kolleginnen und Kollegen beschränken.

Die neue Ära der Überausbeutung ging einher mit einem radikalen Wandel in der Personalpolitik. Seit die Arbeitsplätze nicht mehr sicher sind und die Beschäftigten immer häufiger ihren Job wechseln, ist eine neue Diskussion über individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung aufgekommen. Das „Newspeak“ der Unternehmen verhilft den Angestellten, die nicht so gut verdienen, zumindest zu einer „psychischen Belohnung“ – das sinkende Einkommen wird durch die ständig aufgewerteten Berufsbezeichnungen ausgeglichen. In der Fast-Food-Branche beispielsweise gibt es eigentlich nur noch Manager – fast jeder darf sich so nennen. Schule gemacht hat auch ein Einfall der markbeherrschenden Supermarktkette Wal-Mart: Alle ihre Angestellten, die mehrheitlich nur den gesetzlichen Mindestlohn beziehen, dürfen sich als „Anteilseigner“ fühlen, weil sie als Teil ihrer Rentenversicherung einen winzigen Aktienanteil an Wal-Mart erhalten. Parallel zur Zentralisierung der Großunternehmen wird die Strategie der „Einbindung“ (empowerment) der Beschäftigten betrieben.

Bis Ende 2000, als die Aussichten an der Börse noch glänzend schienen, überboten sich die Unternehmen mit Ideen, wie man Kostensenkung und Selbstverwirklichung der zu „Teilhabern“ avancierten Mitarbeiter gleichzeitig haben kann. Eine der verwegensten Neuerungen auf diesem Gebiet kam von der Bank of America. Im Dezember 1999, nachdem sie rund zehntausend Entlassungen angekündigt hatte, bekamen die Beschäftigten eine Broschüre in die Hand gedrückt, die ihnen nahe legte, die persönliche Verantwortung für einen Geldautomaten (Automatic Teller Machine/ATM) zu übernehmen. Auf freiwilliger Basis, auf eigene Kosten und natürlich außerhalb der normalen Arbeitszeit sollten sich die Angestellten einmal pro Woche um „ihren“ Geldautomaten irgendwo in der Stadt oder auf dem Land kümmern. In der Broschüre wurde erklärt, wie die Angestellten „ihren Automaten auf Erfolgskurs halten“ konnten – zum Beispiel durch „Beseitigung von Abfällen“, „Austausch defekter Glühbirnen“ und „Entfernen von Gestrüpp“. Das Ganze war nach dem Modell der so genannten win-win solutions aufgemacht (Initiativen zum Vorteil aller Beteiligten), die in der New Economy gern angeführt werden. Für die Kunden sollte der Vorteil darin bestehen, einen blitzblanken Geldautomaten vorzufinden, für die Bankangestellten darin, mit Hingabe und Stolz (und ganz ohne Bereicherungsabsichten) eine Aufgabe zu erfüllen – und für die Aktionäre in einem satten Gewinn.

Allerdings schaltete sich der Staat Kalifornien ein: Das Arbeitsministerium hielt die arbeitsrechtlichen Auffassungen der Bank für ziemlich „naiv“ und teilte ihr mit, sie sei verpflichtet, ihre Mitarbeiter für solche Tätigkeiten wie die Reinigung der Automaten und Gärtnerarbeiten zu entlohnen, ihnen die nötigen Arbeitsmittel zur Verfügung zu stellen und die Kosten für die Anfahrt zu „ihrem“ Bankautomaten zu erstatten. Über eine solche Einmischung in ihre Angelegenheiten zeigte sich die Bank erstaunt und empört – die staatlichen Stellen hätten „nichts begriffen“, hieß es. Dass diesem innovativen Ansatz Kostenersparnis oder Erpressung der Angestellten als Motiv unterstellt werden konnte, empfand die Unternehmensleitung als Unverschämtheit – und versicherte, dass niemals daran gedacht gewesen sei, mit Hilfe der Überwachungskameras an den Automaten die Arbeit der freiwilligen Helfer zu kontrollieren. Das Programm der „persönlichen Verantwortung“ für die Geldautomaten solle angeblich nur die „Unternehmensmoral“ stärken und den „Teamgeist“ fördern.11

Damals erreichte auch die Arbeitswut in den Unternehmen, die vom Boom der Internetgeschäfte profitierten, ihren Höhepunkt. Alle arbeiteten bis zur Erschöpfung – und fühlten sich großartig dabei. In manchen Start-up-Firmen waren die besonders Eifrigen richtig stolz darauf, dass sie im Büro übernachteten. Sechzehn oder achtzehn Stunden arbeiten – das schien kein Problem, es gehörte zur allgemeinen euphorischen Stimmung. Jederzeit konnte man Spaß haben, Tischfußball, Frisbee, Basketball und andere Spiele waren Bestandteil der Unternehmenskultur. Organisierter Frohsinn war angesagt, jeder Anlass zum Feiern kam recht, und dabei war man immer unter sich: bei den Häppchen am Nachmittag, beim abendlichen Absacker oder beim obligatorischen Besäufnis am Freitagabend.

Der Kursverfall der Technologiewerte an der Börse, und vor allem der Beginn der allgemeinen wirtschaftlichen Rezession haben diesen Höhenflügen ein jähes Ende bereitet, aber das Gefühl, aus dem sie einst entstanden sind, ist nach wie vor ungebrochen. Heute gibt es pink slip parties, benannt nach dem rosafarbenen Entlassungsbescheid – rauschende Feste, auf denen die frisch Gekündigten zwangslos mit den Headhuntern zusammenkommen sollen. Nur: Die Headhunter machen sich neuerdings bei solchen Anlässen ziemlich rar.

dt. Edgar Peinelt

* Professor an der University of California, Berkeley. Zuletzt erschien „Islamic Finance in the Global Economy“, Edinburgh (Edinburgh University Press) 2000.

Fußnoten: 1 Zit. n. Washington Post, 4. September 2001. 2 Daniel Bell, „Die nachindustrielle Gesellschaft“, Frankfurt/Main (Campus) 1996. 3 Siehe dazu: Marc Hunter, „Les salariés veulent le temps de vivre“, Manière de voir, Nr. 53, („L’Amérique dans les têtes“), Juliet Schor, „The Overspent American : Why We Want What We Don’t Need“, New York (Basic Books) 1999. 4 Arlie Hochschild, „The Time Bind: When Work Becomes Home and Home Becomes Work“, New York (Metropolitan Books) 1998. 5 Fortune, New York, 12. Januar 1998. 6 In dem Dokumentarspielfilm „Secrets of Silicon Valley“ (2001), von Alan Snitow und Deborah Kaufman. 7 Ibrahim Warde, „Die nächste Bruchlandung kommt bestimmt“, Le Monde diplomatique, Oktober 1999. 8 Siehe dazu Alan Deutschman, „The Second Coming of Steve Jobs“, New York (Broadway Books) 2000; Mike Wilson, „The Difference Between God and Larry Ellison“, New York (William Morrow) 1998; Jack Welch, „Jack: Straight From the Gut“, New York (Warner Books) 2001. 9 The Wall Street Journal, 30. November 2001. 10 Fortune, Januar 2000. 11 The San Francisco Examiner, 23. Dezember 1999, und The San Francisco Chronicle, 23. Dezember 1999.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von IBRAHIM WARDE