15.03.2002

Kriegsszenarien und Rüstungsboom

zurück

Kriegsszenarien und Rüstungsboom

DIE Kriegsrhetorik des George W. Bush bereitet atmosphärisch einen Feldzug gegen Staaten vor, die angeblich eine „Achse des Bösen“ bilden. Darin konkretisiert sich aber auch die im Januar 2002 formulierte neue Militärdoktrin, wonach die USA in der Lage sein sollen, vier und nicht nur zwei begrenzte Kriege gleichzeitig zu führen. Diese neuen Ziele der US-Verteidigungspolitik rechtfertigen nicht nur global erhöhte Militärausgaben. Die angestrebte „strategische Kontrolle über die Problemstaaten“ steht außerdem im Zusammenhang mit dem nationalen Raketenabwehrsystem (NMD), das die Unverwundbarkeit des US-amerikanischen Territoriums garantieren soll.

Von PAUL-MARIE DE LA GORCE *

Am 31. Januar 2002 legte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor Offizieren an der „National Defense University“ in Washington die neue Militärdoktrin der Vereinigten Staaten dar: „Wir müssen jetzt handeln, um auf vier größeren Kriegsschauplätzen die Fähigkeit zur Abschreckung zu erreichen.“ Zudem müsse man in der Lage sein, „zwei Aggressoren gleichzeitig zu besiegen, und dabei die Möglichkeit haben, eine groß angelegte Gegenoffensive zu starten und die Hauptstadt eines Feindes zu besetzen, um dort ein neues Regime zu installieren“1 . Damit verkündete Rumsfeld eine erhebliche Änderung der geltenden Doktrin. In der bisherigen Entwicklung der US-Sicherheitspolitik lassen sich drei Etappen unterscheiden. Vor Beginn der Siebzigerjahre waren die Vereinigten Staaten auf „zweieinhalb Kriege“ vorbereitet. Als die kommunistischen Staaten noch als einheitlicher Block erschienen, wollte man gegen einen eventuellen Krieg mit der Sowjetunion gewappnet sein, einen weiteren Krieg gegen China einkalkulieren und eine regional begrenzte Militäroperation gegen einen Feindstaat mit schwächerem militärischem Potenzial (wie den Korea- und Vietnamkrieg oder die Militärexpeditionen gegen den Libanon, Guatemala und die Dominikanische Republik).

Nach dem Bruch zwischen der Sowjetunion und China verkündete US-Präsident Richard Nixon das „Anderthalb-Kriege-Konzept“, das einen größeren Konflikt mit der Sowjetunion oder mit China und wie bisher eine begrenzte Militäroperation vorsah. Kurz nach Ende des Kalten Kriegs veröffentlichte die alte Bush-Administration 1991 ein Papier mit dem Titel „Base Force Review“, das die neue Militärdoktrin skizzierte.

Jetzt sollten sich die Streitkräfte auf mindestens „zwei größere regionale Konflikte“ („Major Regional Conflicts“) vorbereiten. Die Clinton-Administration schrieb diese Zielsetzung in ihrem „Bottom-up-Review“ (Bestandsaufnahme) von 1993 und im „Quadriennal Defense Review“ von 1997 fort, wo jetzt von „Major Theater Wars“2 die Rede ist.

Schlüsselwort „strategische Kontrolle“

DONALD RUMSFELD erhöhte die Zahl der „begrenzten Kriege“ nicht nur von zwei auf vier, sondern suchte am 31. Januar auch genauer zu umreißen, auf welche Bedrohungen die Vereinigten Staaten künftig gefasst sein müssen. Zum feindlichen Lager zählte er dabei sowohl terroristische Organisationen mit „weltweiten Ambitionen“, als auch die Staaten, die ihnen Unterstützung gewähren, insbesondere diejenigen, die alles tun, um ABC-Massenvernichtungswaffen zu entwickeln und herzustellen. Rumsfelds Definition der Bedrohung hebt nicht mehr nur auf die Herkunft, sondern auch auf die Art der Bedrohung ab: „Wir müssen uns auf neue Formen des Terrorismus vorbereiten, aber auch auf Angriffe gegen das amerikanische Weltraumpotenzial, auf Cyber-Attacken gegen unsere Kommunikationssysteme und nicht zuletzt auf die Bedrohung durch Marschflugkörper, ballistische Raketen, chemische und biologische Waffen.“

Wie zur Rechtfertigung für die erhebliche Aufstockung des Verteidigungshaushalts durch die Bush-Administration nannte Rumsfeld sechs Hauptziele der neuen US-Verteidigungspolitik: den Schutz des nationalen Territoriums und der US-Basen im Ausland, den Transport von Streitkräften an entfernte Kriegsschauplätze, die Zerstörung der Schaltzentralen des Feindes, die Sicherheit der Informations- und Kommunikationssysteme, die Weiterentwicklung der Fähigkeit zu kombinierten Einsätzen von Heer, Luftwaffe und Marine sowie die Sicherung des Zugangs zum Weltraum und des dort befindlichen Materials der Vereinigten Staaten.

Die angekündigten Veränderungen beziehen sich jedoch nicht auf die Einsatzdoktrin der Streitkräfte. Die ergibt sich vielmehr aus der „Revolution in Military Affairs“ im Zusammenhang der Einführung moderner Digitaltechnik, die eine präzise Zielfindung über sehr weite Entfernungen und Echtzeitinformationen über die feindlichen Stellungen und potenzielle Zielobjekte ermöglicht. Das zentrale Konzept lautet hier „strategische Kontrolle“. Gemeint ist die Fähigkeit, die Verfassung des Gegners in jedem Augenblick exakt zu bestimmen, dessen Schlagkraft durch planmäßige Zerstörung der militärischen, industriellen und politischen Kapazitäten zu reduzieren oder nötigenfalls zu vernichten, um ihn zu Rückzug oder Kapitulation zu zwingen. Zumindest in der ersten Phase des Konflikts ist damit nicht unbedingt eine Besetzung des umkämpften oder feindlichen Territoriums vorausgesetzt. Die Zielbestimmung für die Bodentruppen soll der politischen Führung vorbehalten bleiben. Die Strategen haben von Anfang an betont, dass die Doktrin der „strategischen Kontrolle“ auf alle möglichen Konfliktszenarien anwendbar ist. Die konkrete Umsetzung habe sich nach der Art des Feindstaates zu richten, nach seiner Einwohnerzahl, seinen industriellen Kapazitäten, seiner Infrastruktur und der Bedeutung seiner urbanen Zentren, vor allem aber nach dem politischen Regime und den Mitteln, mit denen man es am ehesten stürzen oder unschädlich machen kann.

Was ihre konkrete Anwendung betrifft, ist die Doktrin also denkbar flexibel formuliert. Die Militärexperten in der US-Administration und in den von ihr beauftragten Denkfabriken haben denn auch aufmerksam verfolgt, wie diese Einsatzdoktrin im Golfkrieg, in Bosnien und im Kosovo umgesetzt wurde. Im Golfkrieg dauerte die amerikanische Luftoffensive 43 Tage, der anschließende Bodeneinsatz nur 4 Tage. In Bosnien zerstörte die US-Luftwaffe wie geplant 300 Ziele, die Verluste beschränkten sich auf zwei Flugzeuge und zwei Soldaten; der Bodeneinsatz blieb den Verbündeten vorbehalten. Im Kosovo dauerten die Luftangriffe 78 Tage, waren wirksam aber nur gegen zivile Ziele in Serbien, Montenegro und dem Kosovo. Nach Pentagon-Angaben verloren die USA dabei ein Kampfflugzeug vom Typ F 117 und 15 Drohnen. Die Angriffe auf die jugoslawische Armee waren hingegen – wie die US-Experten einräumen – ein fast kompletter Misserfolg. Nur 12 oder 13 Panzer wurden zerstört, exakt wie es das jugoslawische Oberkommando behauptet hatte, also sehr viel weniger als von der Nato-Propaganda während des Krieges bejubelt wurden. Dieselben Experten verbreiten gleichwohl die Ansicht, dass sich die Zielgenauigkeit von Krieg zu Krieg verbessert habe.

Auch in Afghanistan kam besagte Einsatzdoktrin zur Geltung, wie immer abgestimmt auf die besonderen landschaftlichen Gegebenheiten und das Militärpotenzial des Gegners. In der ersten Phase, als das oberste Ziel die Bildung einer Ersatzregierung war, richteten sich die Luftangriffe gegen das militärische Potenzial der Taliban, also Flugplätze, Panzer, Waffenlager, Munitionsdepots. Zur Unterstützung der Luftwaffe wurden Marschflugkörper eingesetzt, die von Flugzeugen oder Kriegsschiffen aus mit hoher Präzision ihr Ziel fanden.

In der zweiten Phase, während der Besetzung des Territoriums durch die Nordallianz und später auch durch vor Ort rekrutierte Paschtunen-Milizen, begannen die Flächenbombardements. Dank dieser Bombenteppiche konnten die von den USA unterstützten oder rekrutierten Bodentruppen mit Hilfe einiger weniger US-Spezialeinheiten ohne größere Gefechte vormaschieren. Weder bei der Einnahme von Masar-i Scharif noch von Kabul kam es zu nennenswerten Kampfhandlungen, was regelrechte Massaker jedoch nicht verhindern konnte. Als die Taliban nach Kandahar zurückwichen und sich auflösten, wurde gleich die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt. Die Zahl der Bombenopfer wurde nie veröffentlicht.

Alles in allem kann die US-Militärführung also mit gutem Grund annehmen, dass sich das Konzept der „strategischen Kontrolle“ bewährt hat und in so unterschiedlichen Kriegen wie in Afghanistan, Irak, Bosnien und Kosovo ziemlich erfolgreich umgesetzt werden konnte: Die politischen Ziele wurden mit kaum nennenswerten Verlusten im Wesentlichen erreicht.

Die Befürworter und Architekten der US-Militärdoktrin ziehen völlig selbstverständlich eine Verbindungslinie vom Konzept der „strategischen Kontrolle“ zu den aktuellen Plänen für ein Raketenabwehrsystem. Auch Staaten mit begrenzter Militärkapazität seien eine Bedrohung, wenn sie über Mittel- oder Langstreckenraketen verfügen, die amerikanisches Territorium erreichen können.3 Die Sicherung des US-Weltraumpotenzials setze die Unverwundbarkeit des eigenen Territoriums voraus, und dabei könne die im Ausland oder auf Schiffen installierte Raketenabwehr nur unterstützend eingreifen. So steht das Konzept der „strategischen Kontrolle“ in einem viel unmittelbareren Zusammenhang mit den neuen Raketenabwehrplänen, als offzielle Verlautbarungen einräumen wollen.

Anfangs stieß das geplante Raketenabwehrsystem auf US-Territorium (deshalb inzwischen National Missile Defense oder NMD genannt) vielerorts auf Widerstand, doch die Entschlossenheit der Amerikaner brachte alle Zweifler zur Räson. Als die Bush-Administration den ABM-Vertrag von 1972 aufkündigte, regte sich kein Widerspruch mehr. Und als die USA unter Missachtung der für solche Fälle vorgesehenen sechsmonatigen Sperrfrist kurze Zeit später erfolgreich eine Raketenabwehrrakete testeten, schien dies niemanden mehr zu wundern.

Die Problemstaaten

DIE strategische Analyse, mit der das NMD-Programm begründet wird, geht von der absoluten Überlegenheit der USA in allen sicherheitspolitischen Bereichen aus. Die Strategen der NMD-Kommission unter Leitung von Donald Rumsfeld ebenso wie US-Außenminister Colin Powell leiteten daraus ab, dass die für den Kalten Krieg bestimmenden Konzepte von gegenseitiger Abschreckung und nuklearem Gleichgewicht nicht mehr zeitgemäß sind. Die Atomwaffenarsenale seien weitgehend abzubauen, wobei die Vereinigten Staaten und Russland ihr Abschreckungspotenzial behalten müssten. Gleichzeitig sei ein Raketenabwehrsystem zu installieren, um das amerikanische Territorium, die Zonen von vitalem Interesse auf dem Staatsgebiet der Verbündeten sowie die im Ausland befindlichen Luft- und Marinestützpunkte zu schützen.

Als potenzielle Feinde, deren Offensivkapazitäten einen Raketenabwehrschild unschädlich machen würde, sehen manche Strategen die so genannten Schurkenstaaten, die von der US-Diplomatie unentwegt an den Pranger gestellt werden. Andere halten natürlich China für den Feind. Doch diese Diskussion ist Schnee von gestern. Heute gelten als mögliche Feinde die „Sorgen- oder Problemstaaten“ (states of concern), die die Dislozierung von Massenvernichtungswaffen planen, und dazu gehört auch China. In einem Dokument des Vereinigten Generalstabs mit dem Titel „Joint Vision 2020“ wird China ganz unverblümt als potenzieller Gegner bezeichnet. Ein wenig netter formuliert es eine im Juni 2000 veröffentlichte Version, die China als „ebenbürtigen Rivalen“ (peer competitor) einstuft. Ganz oben auf der Liste der zu schützenden Auslandsterritorien steht natürlich Taiwan, das vor einem Zugriff durch China zu bewahren ist. Gleiches gilt für die US-Militärbasen in Kirgisistan und Usbekistan, die laut US-Verteidigungsminister Rumsfeld „auf Dauer“ eingerichtet wurden. Um glaubwürdig zu bleiben, sieht sich China im Gegenzug gezwungen, sein Raketenarsenal in Umfang und Leistungsfähigkeit drastisch aufzustocken. Nach glaubwürdigen US-Informationen könnte China in weniger als zwölf Jahren über rund 100 Boden-Boden-Raketen mit Atomsprengkopf verfügen, die amerikanisches Territorium erreichen könnten und aufgrund ihrer mobilen Abschussrampen gegen präventive US-Schläge geschützt wären.

Andererseits käme als Feind auch einer der Staaten in Frage, die George W. Bush in seiner Rede vom 29. Januar 2002 als „Achse des Bösen“ bezeichnet hat: Nordkorea, der Iran und der Irak. Offensichtlich hat jedoch keiner dieser Staaten etwas mit der Terrororganisation zu tun, die für die Anschläge vom 11. September verantwortlich ist. Überdies verfügen weder Nordkorea noch der Iran oder der Irak über Massenvernichtungswaffen – die irakischen etwa wurden zerstört. Was diese drei Ziele betrifft, so kommen die Strategen der neuen Doktrin auf das Konzept konventioneller Militärschläge zurück, wobei sie jeweils unterschiedliche Szenarien studieren. So kommen im Fall Irak gezielte Luftangriffe nur in Frage, wenn vor Ort rekrutierte Bodentruppen zur Unterstützung einer groß angelegten Gesamtoffensive bereitstehen, die erst mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein beendet wäre.

Dagegen scheint ein konventioneller Krieg gegen den Iran aufgrund der geographischen, demografischen, wirtschaftlichen und militärischen Gegebenheiten des Landes eher unwahrscheinlich. Hier reichen die Szenarien von einer partiellen Blockade des Landes, die eine nur schwer zu realisierende Koalition voraussetzt, bis hin zu gezielten Schlägen gegen Industrie- und Militäranlagen, wo Massenvernichtungswaffen hergestellt werden könnten. Keines dieser Szenarien kann jedoch eine iranische Gegenwehr und eine Eskalation mit unabsehbaren Folgen ausschließen.

Luftangriffe oder kombinierte Luft- und Bodeneinsätze gegen Nordkorea sind zwar nicht undenkbar, wegen der Nachbarschaft zu China jedoch unwahrscheinlich. Zudem denkt man in Washington über Verhandlungen mit Pjöngjang nach, um die Produktion, Entwicklung und Ausfuhr nordkoreanischer Raketen zu begrenzen, so wie man bereits hinsichtlich der befürchteten Produktion von Atomwaffen eine vertragliche Einigung erzielt hat.

Dass die Bush-Administration entschlossen ist, sich auf sämtliche Konfliktszenarien mit diesen drei Ländern vorzubereiten und auch alle sonstigen Krisenszenarien abzudecken, lässt schon das neue US-Verteidigungsbudget erkennen. Die drastische Erhöhung der Militärausgaben begann zwar bereits unter der Clinton-Administration, und zwar von 259 Milliarden Dollar in 1998 über 279 Milliarden in 1999 und 290 Milliarden in 2000 auf 301 Milliarden im Budgetjahr 2000/2001.5 Doch Bush legt jetzt noch einmal kräftig drauf: für 2001/2002 sind 328 Milliarden Dollar, für das darauf folgende Budgetjahr 379 Milliarden Dollar vorgesehen, und bis 2007 werden 450 Milliarden Dollar anvisiert. Unter dem Schock der Attentate sind manche Etatposten förmlich explodiert: So stieg der Haushalt zur Bekämpfung des Bioterrorismus von 1,4 Milliarden auf 3,7 Milliarden Dollar.6 Die Zahlen enthalten eine klare Botschaft: Nachdem die US-Administration verkündet hat, dass sie den Einsatz von militärischen Mitteln zur Durchsetzung ihrer Ziele für notwendig und legitim hält, beschafft sie sich nun die dafür nötigen Mittel.

dt. Bodo Schulze

* Journalist, Autor von „Dernier Empire. Le XXIe siècle sera-t-il américain?“, Paris (Grasset) 1996.

Fußnoten: 1 AFP, 31. Januar 2002. 2 Dazu Paul-Marie de la Gorce, „Comment l’alliance atlantique tente d’adapter son système de sécurité“, Le Monde diplomatique, Dezember 1993; Michael T. Klare, „Der nächste Kalte Krieg beginnt in den Köpfen“, Le Monde diplomatique, November 1997; Paul-Marie de la Gorce, „USA: Verstärkter Rüstungswettlauf“, Le Monde diplomatique, Dezember 1999. 3 Amiral Marcel Duval, „Le projet de bouclier anti-missiles américain“, Géopolitique 7, Paris, Januar–März 2002. 4 „Intelligence et Sécurité“, Paris Januar 2002. 5 Office of Management and Budget. Congressional Budget Office. 6 Judith Miller, „Bush to Request Big Spending Push on Bio-terrorims“, New York Times, 4. Februar 2002.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von PAUL-MARIE DE LA GORCE