Der große Mythos vom sauberen Krieg
VON abgereichertem Uran (DU) als Gefahrenquelle für die Gesundheit der Bevölkerung war bislang im Afghanistankrieg noch nicht die Rede. Nun hat ein britischer Experte erstmals auf die Möglichkeit einer Kontaminierung hingewiesen. Anders als beim Krieg um das Kosovo, wo DU in den gehärteten Köpfen der Massenmunition enthalten war, geht die Gefahr in Afghanistan von den schweren Lenkwaffen aus, die wie der „Bunker Buster“ GBU-28 von der US-Luftwaffe gegen die Höhlenstellungen der Taliban eingesetzt wurden. Der fortdauernde Krieg in Afghanistan eröffnet dem Pentagon damit auch ideale Testmöglichkeiten für DU-Waffen, die in künftigen Kriegen immer wichtiger werden.
Von ROBERT JAMES PARSONS *
„In Afghanistan haben die Vertreter humanitärer Hilfsorganisationen, das medizinische Personal sowie Leute, die Flüchtlinge beschäftigen, zur Zeit eine gemeinsame Sorge: die Gefahr einer weit reichenden Kontaminierung durch abgereichertes Uran.“ So heißt es dem Bericht des britischen Psychologen und unabhängigen Experten Dai Williams mit dem Titel „Mystery Metal Nightmare in Afghanistan“.1 Die Untersuchung ist das Ergebnis einer mehr als einjährigen Forschungsarbeit über die Eigenschaften von abgereichertem Uran (DU steht für depleted uranium) und dessen Auswirkungen auf den Menschen.
Williams durchforstete die Webseiten2 einschlägiger Institutionen und Waffenproduzenten und fand wertvolles Material. Er verglich die Informationen mit Verlautbarungen des Pentagon über die in Afghanistan eingesetzten Waffen – und enthüllte ein ebenso erstaunliches wie erschreckendes Bild vom modernen Krieg.
Seit 1997 sind die Vereinigten Staaten damit beschäftigt, ihr Arsenal an „intelligenten“ Lenkraketen und -bomben zu erneuern und zu „verbessern“. Einzelne Prototypen dieser Systeme wurden bereits 1999 in den Bergregionen des Kosovo getestet, aber erst in Afghanistan haben diese Waffen ihre Bewährungsprobe in größeren Mengen bestanden. Die „Verbesserung“ besteht darin, dass der konventionelle Sprengkopf durch Neuentwicklungen aus einem „Schwermetall hoher Dichte“3 ersetzt wurde. Berechnet man Gewicht und Volumen dieses Metalls, wird deutlich, dass es sich entweder um Tungsten oder um abgereichertes Uran handeln muss.
Gegen Tungsten sprechen gleich mehrere Gründe: Sein hoher Schmelzpunkt (3 422 °C) erschwert die Bearbeitung, das Metall ist teuer und nicht brennbar – und vor allem wird es nur in China gefördert. Abgereichertes Uran hingegen ist brennbar und entzündet sich beim Aufprall. Mit einem Schmelzpunkt von 1 132 °C ist es sehr viel leichter zu bearbeiten als Tungsten. Da es als Abfall der Atomindustrie entsteht, steht es den Rüstungsherstellern kostenlos zur Verfügung. Es eignet sich zur Verwendung in einer ganzen Reihe von Waffensystemen und reduziert unter anderem das Problem der Lagerung von Atomabfällen.
Munition mit einem Mantel aus abgereichertem Uran durchdringt in wenigen Sekunden dutzende Meter Beton oder Felsgestein. Mit einem computergesteuerten Sprengsatz versehen, explodiert das Geschoss entweder in einer vorprogrammierten Penetrationstiefe oder sobald es wieder ins Freie tritt. Was immer sich dort befindet, wird durch die Verbrennung des abgereicherten Urans innerhalb weniger Sekunden zu feinem schwarzem Staub. Gleichzeitig verwandelt sich das abgereicherte Uran selbst in Uranoxidpulver. Während der durchschlagende Kern eines 30-Millimeter-Geschosses nur zu 30 Prozent verbrennt, kann der DU-Mantel eines Raketensprengkopfs zu 100 Prozent verbrennen. Die meisten der dabei entstehenden Staubpartikel sind nur 1,5 Mikron groß – klein genug, um den Weg in menschliche Lungen zu finden.
Nach Auffassung kritischer Experten hat sich die Kritik an dem Einsatz von DU-Munition im Kosovokrieg auf einen Nebenschauplatz manövrieren lassen. Anstatt zu fragen, welche Waffen die Nato gegen die in den Bergen liegenden unterirdischen Ziele eingesetzt hat, konzentrierte sich die Diskussion auf die Panzer brechenden 30-Millimeter-Granaten, deren Einsatz die Nato zwar eingeräumt hat, die aber gegen gepanzerte Installationen unter der Erde wirkungslos sind. Damit aber beschränkte man sich auf Waffensysteme, deren schwerste Geschosse (120 Millimeter) nicht mehr als 5 Kilogramm wiegen. In Afganistan kamen jedoch Lenkbomben zum Einsatz, die bis zu anderthalb Tonnen abgereichertes Uran enthalten, etwa der „Bunker Buster“ GBU-28 der Firma Raytheon4 .
Im Genfer Hauptquartier der humanitären Hilfsorganisationen in Afghanistan löste Dai Williams’ Bericht unterschiedliche Reaktionen aus. Die Sprecher des UN-Flüchtlingskommissars (UNHCR) und des UN-Büros für die Koordination humanitärer Angelegenheiten (OCHA) haben den Bericht zwar verbreitet, doch scheint man sich an höchster Stelle keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Bislang äußern nur „Ärzte ohne Grenzen“ und das UN-Umweltprogramm (Unep) die Befürchtung, dass eine gesundheitliche und ökologische Katastrophe bevorstehen könnte.
Unep und Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben im März und April 2001 umfangreiche Berichte zum Thema veröffentlicht, die gewisse Instanzen gern im Zusammenhang mit der angeblichen Unschädlichkeit abgereicherten Urans zitieren – allen voran das Pentagon, das dabei auch die Unabhängigkeit der beiden Organisationen unterstreicht. Die Unep-Studie weist jedoch einige Ungenauigkeiten auf, während die WHO-Untersuchung im Grunde nicht ernst zu nehmen ist. Die Unep-Studie beruht auf einem Besuch im Kosovo, bei dem die Nato-Begleiter dafür sorgten, dass die Unep-Experten keine DU-Submunition zu Gesicht bekamen.
Wie seither bekannt wurde, hatte das Pentagon in den 16 Monaten vor dem Unep-Besuch mindestens zehn Kontrolltrupps vor Ort entsandt, um das Gebiet säubern zu lassen.5 Von den 8 112 Panzer brechenden „Penetrationgeschossen“, die über den besuchten Kriegsschauplätzen niedergingen, haben die Unep-Vertreter trotz des bekanntermaßen hohen Anteils an Blindgängern gerade einmal 11 Stück gefunden. Und knapp 20 Monate nach dem Einsatz wurden an den unmittelbaren Einschlagsorten dieser Waffen nur geringe Mengen Uranoxidstaub gemessen.
Die WHO wiederum unternahm keine epidemologische Untersuchung, sondern fertigte lediglich eine Literaturstudie an. Auf Druck der Internationalen Atomenergiebehörde beschränkte sie sich weitgehend auf den Aspekt der chemischen Kontamination. Erst als Le Monde diplomatique im Januar 2001 einen ausführlichen Beitrag zum Thema veröffentlichte und die Untätigkeit der WHO anprangerte,6 kündigte diese auf einer Pressekonferenz an, sie wolle 2 Millionen Dollar für Forschungsarbeiten in Sachen DU bereitstellen und den Fonds in absehbarer Zeit auf 20 Millionen Dollar aufstocken. Nach Auskunft von Dr. Michael Repacholi sollte der seit August 1999 in Arbeit befindliche Bericht des britischen Geologen Barry Smith auch die Frage radioaktiver Kontaminierung behandeln. In Voruntersuchungen sollten Urinproben von Menschen, die in Kontakt mit DU geraten waren, analysiert werden, um das Expositionsniveau zu ermitteln.
Verharmlosende WHO-Studien
DOCH die fragliche „Monografie“, die rund zehn Wochen später veröffentlicht wurde, gab lediglich einen selektiven Überblick über die bestehende Literatur. Zahllose Bücher sind seit Ende des Zweiten Weltkriegs zu dieser Thematik geschrieben worden und hätten durchforstet werden müssen, doch der WHO-Bericht bezog sich fast ausnahmslos nur auf Arbeiten zur chemischen Kontamination. Die wenigen Artikel, die sich mit der radioaktiver Kontamination befassen, stammen entweder aus dem Pentagon oder von der Rand Corporation, einem Think-Tank des Pentagon. Kein Wunder also, dass die WHO-Studie niemanden in die Bredouille brachte.
Was die beiden Berichte schließlich an Empfehlungen aussprachen, weicht kaum von den Ratschlägen ab, die von der WHO seit Ende des Krieges erteilt und von den humanitären Organisationen vor Ort ständig wiederholt werden: Man müsse erkannte Gefahrenzonen markieren, Blindgänger möglichst einsammeln, die Wasserqualität bestimmter Brunnen überwachen und Kinder sorgsam von den kontaminierten Gebieten fernhalten.
Im Wesentlichen lässt sich das Problem auf zwei Schlüsselbereiche reduzieren: Zum einen auf die Strahlungsgefährdung durch abgereichertes Uran, zum anderen auf die Problematik „verschmutztes Uran“. Was den ersten Punkt anbelangt, so entfaltet abgereichertes Uran sein radioaktives Gefahrenpotenzial erst nach dem Einatmen von Uranoxidstaub, so dass es sich hier um eine körperinterne Strahlungsquelle handelt. Die internationalen Strahlenschutzbestimmungen, auf die sich die „Experten“ beziehen, wenn sie die Unschädlichkeit von abgereichertem Uran versichern, beziehen sich aber nur auf körperexterne Strahlungsquellen.
Das Problem des „verschmutzten Urans“ wird im Unep-Bericht sogar angesprochen. Der atomare Abfall, der für die Munitionsherstellung aufbereitet wird, enthält eine Reihe hochgiftiger Substanzen, darunter auch Plutonium, von dem 1,6 Kilogramm ausreichen, um acht Milliarden Menschen zu töten.
Im Januar 20017 strahlte der französische Fernsehsender Canalg + den Bericht eines französischen Forscherteams über die Wiederaufbereitungsanlage in Paducah im US-Staat Kentucky aus. Rund 100 000 ehemalige und derzeitige Beschäftigte der Fabrik, die aufgrund der Missachtung elementarer Sicherheitsvorschriften kontaminiert wurden, haben vor Gericht Klage eingereicht. Nach Angaben ihres Anwalts ist die gesamte Produktionsanlage einschließlich der hergestellten Produkte für immer verseucht. Die französischen Forscher sind der Ansicht, dass die über Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak abgefeuerten DU-Geschosse mit abgereichertem Uran aus dieser Anlage produziert wurden.8
DU-Geschosse sind nicht einfach nur ein weiteres Mittel moderner Kriegsführung. Das von Ronald Reagan initiierte Aufrüstungsprogramm beruht vielmehr auf der Überzeugung, dass aus dem modernen Krieg als Sieger hervorgeht, wer die Befehls- und Kommunikationszentralen des Feindes am wirkungsvollsten zerstören kann. Und diese Schaltzentralen befinden sich in aller Regel in gepanzerten Bunkern unter der Erde.
Ein Atomsprengkopf wäre zwar auch imstande, den Stahlbeton zu knacken, aber die daraus entstehende Strahlung fürchtet selbst das Pentagon, ganz abgesehen davon, dass ein Atompilz in heutigen Zeiten ein denkbar schlechtes Bild abgeben würde. Damit verglichen ist ein DU-Sprengkörper eine saubere Sache: Er löst nur einen Brand aus und vermeidet die unerwünschten Nebenwirkungen einer Atomexplosion, wirkt aber genauso zerstörerisch.
Nach Informationen von Dai Williams testeten die Vereinigten Staaten die neue Munition erstmals bei der Bombardierung Bagdads 1991 (entsprechende Computersimulationen wurden seit 1987 durchgeführt9 ). Der Kosovokrieg bot die Gelegenheit, ein ganzes Arsenal an DU-Geschossen – Prototypen sowie Serienfertigungen – an außerordentlich hart gepanzerten Zielobjekten auszuprobieren. In Afghanistan schließlich wurde die Testserie fortgeführt und intensiviert.
Doch selbst im Pentagon regen sich Zweifel. Dai Williams zitiert mehrere Artikel aus der Presse von Anfang Dezember letzten Jahres,10 in denen von ABC-Einheiten die Rede ist, die das Gelände in Afghanistan auf Kontaminierung prüfen. Nach offizieller US-Version wird diese vermutete Kontaminierung den Taliban zugeschrieben. Doch schon im Oktober beschuldigten afghanische Ärzte die westliche Koalition, chemische Kampfstoffe einzusetzen, nachdem mehrere Menschen nach kurzer Krankheit, offenbar an inneren Funktionsstörungen, gestorben waren. Die Symptome – Blutungen, Atemnot, Erbrechen – könnten auch von radioaktiver Strahlung herrühren.
Als ein US-Bomber am 5. Dezember 2001 irrtümlich eine Bombe über eigenen Stellungen abwarf und zwei amerikanische Soldaten ums Leben kamen, wurden die anwesenden Medienvertreter umgehend in einen Hangar eingeschlossen. Nach Pentagon-Angaben handelte es sich um eine GBU-31, die mit einer Bombe vom Typ BLU-109 bestückt war. In dem erwähnten Fernsehbericht von Canal + wird ein Rüstungsvertreter gezeigt, der auf der internationalen Waffenschau in Dubai am 14. November 1999 die BLU-109 vorstellt. Die 1 000-Kilo-Bombe, so der Waffenhändler, könne unteriridisch gepanzerte Ziele durchbrechen – Tests unter Kriegsbedingungen hätten dies unlängst bewiesen. Kurz zuvor war der Kosovokrieg zu Ende gegangen.
Am 16. Januar dieses Jahres räumte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld ein, dass in Afghanistan Spuren von Radioaktivität gefunden wurden.11 Ursache hierfür seien DU-Sprengkörper, die laut Rumsfeld von der al-Qaida stammen. Eine Erklärung, wie die al-Qaida solche Sprengköpfe ohne Flugzeuge einsetzen konnte, blieb der US-Verteidigungsminister schuldig. Gesetzt den Fall, die westliche Koalition hätte tatsächlich keinerlei DU-Munition verwendet, so müssten nach Ansicht von Dai Williams allein die mutmaßlich von Bin Ladens Gruppe verwendenten DU-Waffen eine bedeutende Kontaminierungsquelle darstellen, vor allem wenn sie aus Russland stammen sollten: Russisches DU könnte noch stärker „verschmutzt“ sein als das abgereicherte Uran aus Paducah.
Das UN-Umweltprogramm hat im Anschluss an seine Untersuchungen auf dem Balkan eine „Post-Conflict Assessment Unit“ eingerichtet, deren Leiter Henrik Slotte sich bereit erklärt hat, in Afghanistan baldmöglichst Untersuchungen durchzuführen. Als Voraussetzungen nannte er die Sicherheit des Teams, den Zugang zu den Einschlagsorten und eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Mission. Die WHO hingegen hüllt sich eisern in Schweigen. Eine an Jon Lidon, den Sprecher der WHO-Generaldirektorin Gro Harlem Brundtland gerichtete Anfrage, wie weit der in Aussicht gestellte DU-Foschungsfonds inzwischen gediehen sei, blieb unbeantwortet. Dabei müsste man mit den epidemologischen Untersuchungen nach Ansicht von Dai Williams auf der Stelle beginnen, weil alle stark kontaminierten Opfer bald sterben werden und ihr Tod dann wahrscheinlich dem harten Winter zugeschrieben wird.
Im Kreis Jefferson im US-Bundesstaat Indiana hat das Pentagon einen rund 80 Hektar großen Schießplatz geschlossen, auf dem DU-Granaten getestet wurden. Die Sanierungskosten hätten sich auf mindestens 7,8 Milliarden Dollar belaufen, die Kosten für die unbefristete Lagerung der oberen 6 Meter des Bodens und der Vegetation nicht einberechnet. Die Armee fand diesen Preis zu hoch und suchte nach anderen Lösungen. Schließlich entschied man sich, die Einrichtung eines Naturreservats vorzuschlagen und das Gelände zu diesem Zweck der Nationalpark-Verwaltung anzubieten – was diese dankend ablehnte. Nun ist davon die Rede, den ehemaligen Schießplatz zur „nationalen Opferfläche“ zu erklären und den Zutritt für immer zu untersagen. Dieses Idee lässt ungefähr ahnen, was die verschiedenen Gebiete der Welt erwartet, auf denen die Vereinigten Staaten Waffen mit abgereichertem Uran eingesetzt haben und noch einsetzen werden.
dt. Bodo Schulze
* Journalist, Genf.