15.03.2002

Die französische Ausnahme

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Die französische Ausnahme

VOR 50 Jahren wurden in Frankreich die Filmkunstkinos gegründet – les Cinémas d’Art et d’Essai. Diese Kinos waren es, die die Filme der Nouvelle Vague bekannt machten. Godard, Melville oder Truffaut fanden hier ihr Publikum ebenso wie Woody Allen, Michelangelo Antonioni oder Aki Kaurismäki – und nicht zuletzt arabische und iranische Filme. Zwar hat Frankreichs Kinowelt im letzten Jahr steigende Besucherzahlen zu verzeichnen, wobei auch die Filmkunstkinos zugelegt haben; doch der Kampf um die Marktanteile tobt, und die großen Ketten gefährden die auf kulturelle Vielfalt setzende Arbeit engagierter Filmtheatermacher. Ihr Kampf gegen das reine Konsumkino ist noch nicht gewonnen.

Von PHILIPPE LAFOSSE *

Seit einigen Monaten mehren sich die Meldungen und Berichte, der französische Film sei in Gefahr – ungeachtet der naiven Träume von Amélie und ungeachtet der jüngsten Erfolgszahlen: Denn in den ersten neun Monaten des Jahres 2001 stiegen die Besucherzahlen um 11 Prozent und zwischen 1994 und 2000 haben sich die Investitionen in dieser Branche verdoppelt.1 Mal wird als Beweis für die beschworene Gefahr der Erlass vom 9. Juli 2001 angeführt, in dem der „unabhängige Film“ neu definiert wurde, mal dienen die Entstehung des Branchenriesen Vivendi Universal Entertainment und die Verlautbarungen von Vivendi-Chef Jean-Marie Messier als Beleg. Alle Debatten und Kommentare konzentrieren sich auf Produktion und Verleih, das letzte Glied hingegen, die Verwertung, wird systematisch ausgeklammert.

Kino ist zuallererst ein Ort: Es gibt in Frankreich 2 164 Spielstätten mit 5 103 Sälen, von denen rund 1 200 als „Cinéma d’Art et d’Essai“2 anerkannt sind; mit anderen Worten: Fast ein Viertel aller Kinos sind Filmkunstkinos. Es gibt also ein Leben außerhalb der großen Ketten.

Natürlich haben die letztjährigen Höhepunkte des französischen Films etwas mit der staatlichen Unterstützung und der sorgfältigen Arbeit der unabhängigen Kinos zu tun. Patrick Brouiller, der Vorsitzende der „Association Française des Cinémas d’Art et d’Essai“ (A.F.C.A.E.), Kinobetreiber in mehreren Departements rund um Paris, sagt das mit aller Deutlichkeit: „Die Art-et-Essai-Kinos sind keine Randerscheinung, sondern leisten einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg des französischen Films. Alle reden von den vier Filmen, die eine Besucherzahl von fünf Millionen oder mehr erreichen, doch diverse Filme mit ihren hunderttausend bis zwei Millionen Besuchern haben mit Sicherheit sehr viel zu dieser Entwicklung beigetragen.“

Die Zahlen belegen das: Die vier französischen Filme, die an der Spitze lagen,3 hatten zusammen fünfundzwanzig Millionen Besucher bei einer Gesamtbesucherzahl im Jahr 2001 von 184,4 Millionen. „Dass die Zuschauerzahlen für den französischen Film derart gestiegen sind“, so Brouiller weiter, „liegt an der Vielfalt der Produktionen, die von Filmen für das breite Publikum bis zu verschiedensten ‚besonderen‘ Filmen reicht – Filme, die zum Nachdenken anregen und gleichzeitig im Rahmen ihrer Kalkulation echte kommerzielle Erfolge sind.“ Es ist die Gesamtheit von Filmproduktionen unterschiedlicher Machart, die eine gesunde Filmwirtschaft garantiert.

Um als „Cinéma d’Art et d’Essai“ anerkannt zu werden, reicht es nicht aus, einen bestimmten Prozentsatz an künstlerisch wertvollen oder experimentellen Filmen zu zeigen – in Städten unter 30 000 Einwohnern liegt die vorgeschriebene Prozentzahl bei mindestens 35 Prozent, in Großstädten bei mindestens 75 Prozent; als Kriterien gelten auch Angebote wie Filme in Originalversion, Diskussionsveranstaltungen, ermäßigte Eintrittspreise, Vorführung von Dokumentarfilmen, Zusammenstellung von Filmreihen und Retrospektiven, Filmarbeit mit Jugendlichen und Rentnern sowie die Herausgabe von Dokumentationen.

Wenn dieses Jahr die letzte Reform in Kraft tritt, die das Centre National de la Cinématographie (CNC – staatlicher Filmförderungsausschuss) in Zusammenarbeit mit seinen Branchenpartnern ausgearbeitet hat, wird die Qualität der Aktivitäten noch mehr Gewicht bei der Anerkennung haben. Ein Cinéma d’Art et d’Essai zu betreiben heißt nicht nur, Filme zu verwerten; es erfordert Motivation und Engagement.

Die vor über fünfzig Jahren aus der Initiative von Kritikern und unabhängigen Kinobetreibern entstandene A.F.C.A.E. umfasst praktisch alle Filmkunstkinos im Lande. Selbst in Paris unterhalten sie eine enge Beziehung zu ihrem Publikum.

Auch dies ist Teil der „französischen Ausnahme“: „All diese Verwerter arbeiten – ob mit oder ohne öffentliche Mittel – aus Freude am Filmezeigen; überall in Frankreich haben sich Kinobesitzer für eine unabhängige Programmgestaltung entschieden, die nicht am Konsum- und Rentabilitätsdenken orientiert ist“, kommentiert Xavier Blom, Betreiber von zwei Kinos im Pariser Umland und Programmgestalter von 15 Kinos in Paris. Diese Arbeit erfordert einen langen Atem, denn neben der Vorführung leistet man Bildungsarbeit – nicht nur hinsichtlich französischer Filme. „Es geht nicht um Autarkie oder Rückzug auf sich selbst, wie manche behaupten. Es geht vielmehr um Neugier und Entdeckungen“, sagt Patrick Brouiller. „Ohne die französische Ausnahme würde man weder Philippe Garrel noch Manuel Poirier oder François Ozon kennen. Aber sie kommt nicht nur den französischen Filmen zugute. Ohne dieses Netz gäbe es bei uns weder Michelangelo Antonioni noch Abbas Kiarostami, und wir hätten nie asiatische Filme zu sehen bekommen.“

Wo hätte man ohne das Netz der Art-et-Essai-Kinos – von denen jedes fünfte aufgrund der anspruchsvollen Arbeit sogar unter „Forschung“ läuft – einen Film wie „Little Sénégal“ von Rachid Bouchareb sehen können, der von Tadrart, einer kleinen Firma, verliehen wird? Dank der hervorragenden Arbeit der Filmkunstkinos hat der Film sein Publikum gefunden – 36 000 Besucher in der ersten Woche, 270 000 bis Ende Januar –, so dass selbst Kinos, die ihn zunächst nicht ins Programm hatten nehmen wollen, eine Woche nach dem Filmstart nachzogen. Der Programmgestalter Xavier Hirigoyen erzählt, dass er anschließend überall, wo es möglich war, mit den Unabhängigen weitergearbeitet hat, doch ohne die großen Ketten zu übergehen, denn: „Man kann deren Publikum einen Film nicht vorenthalten.“

Wenn solche ökonomisch heiklen Filme ihr Publikum finden, so ist das kein Zufall, sondern verdankt sich „einer Erziehung des Publikums, das seit Jahren zur Neugier angestachelt wird“, meint Marie-Louise Troadec-Le-Quéré, die sieben Kinos im Departement Côtes-d’Armor betreibt, in Kleinstädtchen mit weniger als 20 000 Einwohnern. „Das ist das Ergebnis einer gründlichen täglichen Arbeit“, ergänzt Colette Périnet, Betreiberin von zwei Kinos in Bron (Departement Rhône) und Vorsitzende des Groupement régional d’action cinématographique, eines Zusammenschlusses von zehn Kinos der Region. „Wir halten ständigen Kontakt zu Verbänden, Kulturhäusern, Sozialzentren und vielen Initiativen, wie zum Beispiel den Organisatoren von Fimfestivals.“ In der Region Lyon etwa gibt es ein Festival iberischer und lateinamerikanischer Filme (in Villeurbanne), ein Festival für Erstlingsfilme (in Annonay) und ein Kinderfilmfestival (in Bourg-en-Bresse).

Die unabhängigen Betreiber wissen um ihre „enorme Verantwortung für die Geschmacksbildung des Publikums“, wie es Xavier Blom ausdrückt; sie sind die Einzigen, die das ganze Jahr über eine kontinuierliche Entdeckungsarbeit mit Lehrern, Erziehern und dem jungen Publikum leisten. Ihr Ziel: Einsicht dafür zu wecken, dass der Film ein eigenes Medium ist, das einer spezifischen Wahrnehmung bedarf: „Beim Film geht es um kollektive Empfindungen, um den Zauber der Hypnose.“

„Und das beginnt schon beim Ort“, stellt Xavier Blom fest. „Man kann über den Kinosaal mathematische Aufgaben lösen, Achsen berechnen … Viele Kinder haben, wenn sie kommen, keine Ahnung, was ein Bildträger ist. Am Ende gehen sie mit einem Stück Filmmaterial nach Hause.“ Außerdem gibt es Vorführungen: „In Massy zeigen wir schon den Kleinen ab drei Jahren Filme von vierzig oder fünfundvierzig Minuten Länge, um ihre Fantasie zu wecken. Für die älteren Schüler arbeiten wir mit einer Gruppe von Lehrern, die Filme bei der Behandlung bestimmter Themen einsetzen.“

Colette Périnet hat eine Pädagogin gefunden, die, nachdem die Kinder einen Film im Kino gesehen haben, mit der Schnittkopie in die Klassen geht und die Schüler in Erzähltechnik, Bildaufbau und ganz allgemein in das Sehen einführt – manchmal in Zusammenarbeit mit Aktivitäten des CNC: Schule und Film, Gymnasium und Film usw. In Hérouville-Saint-Clair (Calvados) bietet Geneviève Troussier außerhalb des regulären Stundenplans den 8- bis 12-jährigen kindlichen Cineasten ein Abonnement an: Für 27,40 Euro können sie acht Filme im Jahr sehen – darunter ausländische Filme in Originalversion. Sie organisiert Veranstaltungen und Lehrgänge – sogar mit Imbiss. Diese Idee haben inzwischen auch andere Kinos in der Basse-Normandie übernommen.

Abonnements für kindliche Cineasten

WELCHES Risiko die Art-et-Essai-Kinos tragen, zeigt sich auch darin, dass sie jährlich rund 25 000 Filme herausbringen, die Erläuterungen benötigen „und für die wir dann begleitend eine Ausstellung in 200 bis 250 Sälen in ganz Frankreich organisieren“, sagt Xavier Blom; manche Filme laufen bis zu zwanzig Wochen. Ohne eine derartige Unterstützung gäbe es diese Filme nicht. In jeder Region organisiert ein Vertreter der Filmkunstkinos den Einsatz des Films, sogar – mit wohl einzigartigem Engagement – an winzigen Orten mit nicht mehr als 5 000 Einwohnern.

Denis Blum aus Epinal (Vogesen) präsentiert in sechs Kinos 125 Art-et-Essai-Filme pro Jahr, obwohl es, wie er sagt, „immer schwieriger wird“, denn der Geschmack des Publikums ist immer eingeschränkter. Im letzten Jahr verzeichnete er insgesamt 285 000 Besucher – ein Zuwachs um 8 Prozent, verglichen mit dem Jahr 2000. Die Veranstaltungen, die er initiiert, finden ihr Publikum, denn er hat es verstanden, seinen Filmtheatern einen besonderen Charakter zu geben.

Die A.F.C.A.E.-Kinos haben zwar verschiedene Profile, aber fast alle engagieren sich inhaltlich, um im allgemeinen Verdrängungswettbewerb ihren Veranstaltungsort zu behaupten. Jeder der Betreiber weiß um seine Aufgabe – eine Aufgabe, die er je nach Umfeld, Innovationsfähigkeit, eigenem Geschmack und Verbindung zu staatlichen Stellen ausfüllt. Einige veranstalten sogar Kolloquien, um das Nachdenken über das Kino zu beleben.

Diese kulturelle Widerstandsarbeit, deren Ziel es ist, mit Hilfe sehr unterschiedlicher Filme eine echte Erneuerung zustande zu bringen und das Kino als Ort sozialen und kulturellen Lebens zu erhalten, wird immer schwieriger und ist immer mehr gefährdet. Xavier Hirigoyen spricht von einer „katastrophalen Lage“.

Es vergeht zum Beispiel keine Woche, in der nicht die Schiedsstelle des staatlichen Filmförderungsausschusses angerufen wird, damit die unabhängigen Kinos den gesetzlich geregelten Zugang zu Filmen bekommen, die UGC und Gaumont mit Beschlag belegen wollen, weil ein Filmemacher, der früher allein von Art et Essai unterstützt wurde, inzwischen ein breites Publikum hat – Woody Allen ist dafür ein typisches Beispiel. Wenn man ein Multiplex mit fünfzehn oder zwanzig Kinos besitzt, kann man alles nehmen, auch Art-et-Essai-Filme, und sei es nur, um den unabhängigen Kinos in der Umgebung in die Quere zu kommen. Seit kurzem wird die Schiedsstelle auch von kleinen Verleihern angerufen, die in Paris keine Kinos für ihre Filme finden. Der Kampf um Marktanteile und Marktführerschaft tobt heftiger denn je. In Paris beherrscht die UGC, die Vivendi Universal Entertainment gehört, praktisch die Kinoszene der Stadt und kontrolliert alles. „Es gibt immer weniger unabhängige Kinos innerhalb des Stadtgebiets“, bestätigt Xavier Blom, „und diese Unabhängigen kommen nur gerade so über die Runden. Heute kann man in Paris gar kein unabhängiges Kino mehr eröffnen.“

In diesem Kampf sind alle Mittel recht: Es gilt das Recht des Stärkeren. Wer das Gesetz ignoriert, ist im Vorteil. Laut A.F.C.A.E. und nach einer Studie des CNC beträgt der Bruttogewinn pro Eintrittskarte – nach Einführung der Kinoausweise4 bei Ausweisinhabern durchschnittlich 0,20 Euro – schätzungsweise, denn es gibt keine wirkliche Transparenz: Das ist also in etwa die Summe, die bleibt, um Investitionen zu tätigen, das Personal – das oft aus Sicherheitsgründen verstärkt werden muss – und alles weiterzubezahlen. Bei den Unabhängigen liegt diese Spanne bei ungefähr 2,30 Euro. So viel ist nach gängigen Kalkulationen mindestens nötig, um einen normalen Betrieb zu gewährleisten. Offensichtlich machen die großen Kinobetreiber also Verlustgeschäfte, was gesetzlich verboten ist. Leisten können sie sich das nur, weil hinter diesen Verwertern große Finanzgruppen stehen – und weil man auf staatlicher Seite nicht gewillt war, solche Praktiken zu verhindern. Die Politiker haben sich der Macht des Geldes gebeugt, ihre Verbindungen zur ehemaligen Societé Générale des Eaux5 wiegt schwerer als die Aufrechterhaltung eines reichen, kreativen Schaffens. „Die Ausweise hätten niemals zugelassen werden dürfen“, kommentiert Patrick Brouiller, „nichts wurde unternommen, die Politiker haben dem Druck der Interessenverbände nachgegeben, obwohl sie genau wissen, dass die Rechtsmittel noch nicht ausgeschöpft sind. In der Tat ist die Rechtslage seit fast zwei Jahren klar, aber die Ausweise sich inzwischen durchgesetzt.“

Ist damit das Schlimmste unabwendbar? Sicher, Jean-Marie Messier von Vivendi „ist ein richtiges Raubtier“, sagt Patrick Brouiller: „Für ihn ist der Film lediglich eine Freizeitindustrie, die keine feinen Unterschiede gestattet. Aber wir sind doch keine Ajatollahs: Niemand behauptet, dass das Heil einzig und allein im schwierigen Film zu suchen ist; wir bestehen nur darauf, dass alles seine Existenzberechtigung hat, das Denken genauso wie die intelligente Unterhaltung.“

dt. Sigrid Vagt

* Journalist

Fußnoten: 1 Le Monde diplomatique (frz. Ausgabe), Juli 2001; Libération, 28. Dezember 2001; Télérama vom 29. Dezember, Les Cahiers du cinéma, Januar 2002. 2 Cinéma d’Art et d’Essai – auf künstlerisch wertvolle und experimentelle Filme spezialisiertes Kino, dt. etwa „Filmkunstkino“. Die in der Association Française des Cinémas d’Art et d’Essai (A.F.C.A.E.) zusammengeschlossenen Kinos erhalten staatliche Zuschüsse. 3 „Die fabelhafte Welt der Amélie“, „Die Wahrheit, die ich meine“, „Ein Mann sieht rosa“, „Der Pakt der Wölfe“. 4 UGC hat Ausweise eingeführt, deren Erwerb zu freiem Eintritt in alle UGC-Kinos berechtigt und sich ab einem Kinobesuch pro Woche rentiert (A. d. Ü.). 5 Société Générale des Eaux – früherer Name von Vivendi (A. d. Ü.).

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von PHILIPPE LAFOSSE