15.03.2002

Mühe mit der Frauenquote

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Mühe mit der Frauenquote

DER Frauenanteil in der französischen Nationalversammlung hat sich von einer Legislaturperiode zur nächsten praktisch verdoppelt. Für die kommenden Parlamentswahlen gilt darüber hinaus das neue Gleichstellungsgesetz, das Frauen den Zugang zu politischen Mandaten erleichtert. Untersuchungen im nationalen und in kommunalen Parlamenten und Exekutiven zeigen aber, dass ein höherer Frauenanteil die repräsentative Demokratie mitnichten demokratisiert – praktisch nur Frauen aus den gesellschaftlich privilegiertesten Schichten erringen politische Mandate. Dennoch dürfte die Feminisierung der Parlamente in der politischen Agenda neue Akzente setzen.

Von MARIETTE SINEAU *

Die VerfechterInnen der Gleichstellung betonen häufig die Vorteile einer Eins-zu-eins-Abbildung der Gesellschaft gegenüber der repräsentativen Demokratie. Wenn die Politik in Frankreich so heftig in der Krise ist, argumentieren sie, dann liegt das an der zunehmenden Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Um die Verbindung zwischen beiden wieder herzustellen, müssen die Abgeordneten die Gesellschaft in ihrer Unterschiedlichkeit widerspiegeln. „Zwischen politischer Macht und Gesellschaft gibt es eine Wechselwirkung. Deshalb kämpfe ich dafür, die Frauen in die Politik zu bringen“, erklärte Roselyne Bachelot, ehemalige Berichterstatterin des Observatoire de la parité. Kurz, viele Fürsprecherinnen der Gleichstellung lassen durchblicken, dass der massive Eintritt der Frauen in die Politik die Kluft zwischen politischen Profis und Laien verringern wird. Nur – oder fast nur – die Aktivistinnen der extremen Linken sehen in der Reform lediglich ein Instrument, das den privilegierten Frauen nützt.

Werden die Frauen, wenn sie die res publica besetzen, die gesellschaftlichen Zugangsbedingungen zur Politik verändern und Eliten und Volk einander näher bringen? Anders gesagt, wird die Gleichstellung der Geschlechter in den politischen Institutionen die Politik demokratisieren? Eine Untersuchung unter den französischen Abgeordneten beiderlei Geschlechts während der elften Legislaturperiode (1997–2002) – gewählt also vor dem Gleichstellungsgesetz – zeigt, dass es noch ein weiter Weg bis dahin ist.1 Das Gleiche beweist die Untersuchung bei den Stadträten, die nach Verabschiedung des Gesetzes 2001 gewählt wurden.2 Dass die Frauen in den Stadträten der Städte mit über 3 500 EinwohnerInnen 47,5 Prozent erreichten, verjüngte diese Gremien. Und führte vor allem zu einer besseren Vertretung von Berufsgruppen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten (Angestellte, medizinische Berufe, Lehrerinnen), und von Hausfrauen. Das gilt zwar bei den Stadträtinnen, aber auf Bürgermeisterebene schon nicht mehr.3 Was kann man dann erst in der Nationalversammlung erwarten? Aus der Untersuchung erfahren wir, dass die im Mai/Juni 1997 gewählten Frauen ebenso oft wie die Männer oder sogar noch häufiger einem sehr privilegierten sozialen Milieu angehören. Und zwar unabhängig von den zugrunde gelegten Kriterien. Betrachtet man die familiäre Herkunft, so erklären 40 Prozent der gewählten Frauen, ihr Vater sei höherer Angestellter oder Akademiker gewesen. Geht man nach der Schulbildung, so haben zwei Drittel der weiblichen Abgeordneten einen höheren Schulabschluss (genau wie die Männer). Außerdem besitzen sie doppelt so oft wie die Männer ein Diplom einer bekannten Hochschule (10 gegenüber 5 Prozent).

Auf der Skala der individuellen Ressourcen, aus denen die Frauen auf der politischen Bühne Kapital schlagen können, steht zweifellos die Bildung „mit Markenzeichen“ an bevorzugter Stelle. Ein Diplom der ENA (École Nationale d’Administration) oder der ENS (École Normale Supérieure) bedeutet ein Mehr an Kompetenz und Autorität – ein Ausgleich für den Nachteil, nicht als Mann geboren zu sein.

Republik der Lehrer

DIE Nationalversammlung ist also kaum als Spiegel der Gesellschaft, auch nicht ihres weiblichen Bestandteils, zu betrachten. Um AbgeordneteR zu werden, sollte man besser ein Diplom haben. Es sei denn, man ist KommunistIn: Bei kommunistischen Abgeordneten ist elitäre Bildung nicht die Regel (37 Prozent besitzen allenfalls einen Haupt- oder Realschulabschluss gegenüber 10 Prozent aller Abgeordneten). Bei dem hohen Bildungsniveau der weiblichen Abgeordneten ist es nicht erstaunlich, wenn sie an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie stehen. Berücksichtigt man, welchen Beruf sie zum Zeitpunkt ihrer ersten Wahl in die Nationalversammlung ausübten, gehören 64 Prozent (52 Prozent der Männer) in die Kategorie „Oberes Kader/AkademikerInnen“, 24 Prozent in die mittleren Positionen (31 Prozent der Männer), aber nur 3 Prozent (4 Prozent der Männer) zur Kategorie „ArbeiterInnen und Angestellte“. Bemerkenswerterweise kommen sie in einer noch größeren Mehrheit als ihre männlichen Kollegen aus dem öffentlichen Dienst. Über die Hälfte von ihnen (52 Prozent) sind Beamte im Vergleich zu 43 Prozent bei den Männern.4 Da den Abgeordneten ein Status fehlt, der sie als Lohnempfängerinnen des privaten Sektors schützen würde, brauchen sie das Netz des öffentlichen Dienstes, um sich in das sehr unsichere „Metier“ der Politik zu stürzen. Nur wer diesem angehört, hat die Sicherheit, bei Verlust des Mandats seinen Arbeitsplatz wiederzubekommen.

Unter den BeamtInnen, die Abgeordnete geworden sind, gehört eine kleine Minderheit (11 Prozent der Frauen und 7 Prozent der Männer) den großen staatlichen Körperschaften an, zumeist als LehrerInnen, nämlich fast ein Drittel der Frauen und ein Viertel der Männer. Die Wahlverwandtschaft zwischen SozialistInnen und LehrerInnen bleibt groß: Letztere stellen 37 Prozent der Mitglieder der Fraktion der Sozialisten und der ihnen nahe stehenden Parteien. Mag die „Republik der Lehrer“ auch weniger omnipräsent5 sein als 1981 – in der überwiegend rosa gefärbten Kammer der 1997 gewählten Nationalversammlung ist sie immer noch sehr lebendig. Die Informationen über den Beruf des Partners bestätigen, falls es dessen bedürfte, den sehr privilegierten Charakter des sozialen Milieus der weiblichen Abgeordneten: Über 70 Prozent derjenigen, die in einer Paarbeziehung leben, haben einen Ehemann oder Lebensgefährten aus der Kategorie „leitende Angestellte – akademische Berufe“. Genau wie andere Frauen heiraten Politikerinnen gern unter Gleichen und suchen sich einen sozial gleichgestellten Partner.

Die Untersuchung liefert zwei weitere Elemente des Profils der Parlamentarierinnen. Einerseits sind die Frauen, obwohl in den Fünfzigern, etwas jünger als der Durchschnitt in der Nationalversammlung (50 Jahre und zwei Monate gegenüber 53 Jahren und sechs Monaten). Andererseits und vor allem unterscheidet sich auch das Familienleben. Während ein männlicher Abgeordneter „normalerweise“ verheiratet ist (84 Prozent), ist dies nur bei 56 Prozent der weiblichen Abgeordneten der Fall. Die Frauen leben etwas häufiger in Paarbeziehungen, ohne verheiratet zu sein, und viel häufiger allein (29 Prozent gegenüber 8 Prozent bei den Männern), als Ledige, Witwen oder vor allem Geschiedene. Denn Scheidung macht den wichtigsten Unterschied zwischen männlichen und weiblichen ParlamentarierInnen aus: 20 Prozent der Frauen haben sie erlebt, aber nur 4 Prozent der Männer. Diese Zahlen zeigen, was auch viele mündliche Aussagen belegen: Die Ehe gilt im Leben eines Politikers häufig als Trumpf, im Leben einer Politikerin dagegen als Hindernis.

Schließlich – und darin drückt sich aus, wie schwierig es die Abgeordneten finden, Mutterschaft und Politik miteinander zu vereinbaren – ist die Zahl derjenigen, die sich nicht fortgepflanzt haben, unter den Frauen größer als unter den Männern (19 gegenüber 10 Prozent). Zudem haben Mütter in der Nationalversammlung seltener kleine Kinder als Väter: Bei ihrem Eintritt ins Palais Bourbon 1997 hatten nur 15 Prozent ein oder mehrere Kinder unter zehn Jahren gegenüber fast 30 Prozent der Männer. Last, but not least stehen sie auch seltener einer kinderreichen Familie mit drei oder mehr Kindern vor (ein Drittel gegenüber 45 Prozent der Männer). Somit bringt der Zugang zur politischen Macht bei den Abgeordneten einen Geschlechterunterschied in der Form des Privatlebens mit sich. Während Ehe und (häufig mehrfache) Fortpflanzung den Männern gut bekommen, erweisen sich diese Entscheidungen mit der Karriere der Frauen als sehr viel weniger vereinbar. Sie sehen sich häufiger veranlasst, ihre Beziehungen abzubrechen, ihren Nachwuchs zu beschränken oder gar überhaupt keine Kinder zu bekommen. Das ist die Ungerechtigkeit, die den Frauen in der Politik widerfährt: Sie sehen sich im Dilemma „Privatleben oder Macht“ gefangen, während die Männer niemals zu einer solchen Entscheidung gezwungen sind.Tatsächlich hat die Feminisierung der Nationalversammlung keineswegs deren Rekrutierungsbasis erweitert, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse reproduziert.6 Die weiblichen Abgeordneten der 11. Legislaturperiode gehören mit großer Mehrheit einer sehr kleinen Elite an. In gewissem Sinn sind sie „Erbinnen“, die, nicht zufrieden mit ihrer gesellschaftlichen Mitgift, in manchen Fällen auch noch ein „politisches Erbe“ übernommen haben: Über 20 Prozent von ihnen wurden „im Palast“ großgezogen von einem Vater, der selbst politische Ämter ausgeübt hat. Die Volksvertreterinnen spiegeln also kaum das Bild der Frauen ihres Landes wider. Alles geht so vor sich, als hätten sie, um die Abgeordnetenwürde zu erlangen, das Handicap, das dem „zweiten Geschlecht“ anhaftet, durch Überakkumulation kultureller und gesellschaftlicher Ressourcen und durch Zahlen eines hohen persönlichen Preises für ihr politisches Engagement kompensieren müssen.

Man mag einwenden, dass sie im Juni 1997 nur 10,9 Prozent der 577 Sitze belegten. Selbst wenn sich ihre Zahl von einer Legislaturperiode zur nächsten fast verdoppelt hat (5,9 Prozent im Jahr 1993), stellen sie nur eine ganz kleine Minderheit dar, die ipso facto aus existenziellen Gründen Verhaltensweisen des Überlebens oder der Überkompensation annehmen musste.

Man könnte denken, das Gesetz vom 6. Juni 2000 – das so genannte Gleichstellungsgesetz – sei imstande, die Karten neu zu verteilen. Da es Frauen ermöglicht, sich unter weniger ungleichen Bedingungen um ein politisches Mandat zu bewerben, könnte es den gesellschaftlichen Preis für den Zugang zur Politik spürbar senken. Die Frauen bräuchten also nicht mehr so viel gesellschaftliches und kulturelles Kapital zu akkumulieren, um Abgeordnete zu werden, und hätten gleichzeitig die Freiheit, ein Privatleben zu führen, das besser mit Mutterschaft vereinbar wäre. Weil ihre Präsenz in den gewählten Gremien alltäglicher würde, könnte das neue Gesetz auch „gewöhnlicheren“ Frauen eine Chance geben. Politische Repräsentation wäre somit nicht länger ein Beinahemonopol der Hochschulabsolventinnen und Privilegierten. Die Nationalversammlung würde endlich zu einem getreueren Spiegelbild der Bürgerinnen des Landes. Von einem massenhaften Einzug von Frauen ins Parlament ist zu Recht eine Verjüngung zu erwarten, denn die Neugewählten träten an die Stelle von oftmals älteren ausscheidenden Abgeordneten, die schon zwei, drei oder gar vier Amtszeiten hinter sich haben. Zweifellos darf man auch hoffen, dass sich mehr Frauen aus den mittleren Schichten um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern werden. Diese Auswirkungen waren bei den Gemeindewahlen, den ersten Wahlen unter dem Gleichstellungsgesetz, zu beobachten. Doch dass sich das bis an die Spitze der politischen Hierarchie, in die Nationalversammlung, ausweitet, darf man allerdings bezweifeln. Die Rekrutierung des Parlaments wird durch die gemischtgeschlechtliche Zusammensetzung der beiden Kammern nichts von ihrem elitären Charakter verlieren. Denn die Ursachen für die politische Marginalisierung der unteren Bevölkerungsschichten, die sich in Europa seit den Sechzigerjahren noch verschärft hat, liegen tief. In allen Parlamenten sank der Anteil der Abgeordneten aus den „gefährlichen Schichten“ erheblich zugunsten von Vertretern der mittleren oder Großbourgeoisie mit einer Ausbildung an Universitäten oder Hochschulen.7 Wenn Wählbarkeit und Wahlverhalten immer weniger durch die Klassenzugehörigkeit bestimmt werden, so liegt das gleichermaßen am Niedergang der kommunistischen Parteien (die Kader aus dem Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu förderten) wie an der Verbürgerlichung der sozialdemokratischen Parteien. Muss man daran erinnern, dass unter den antretenden französischen Abgeordneten von 1997 allein die KommunistInnen dadurch auffielen, dass sie sich etwas mehr aus den unteren Bevölkerungsschichten rekrutierten (12 Prozent Angestellte oder Arbeiter). Die gewählten SozialistInnen dagegen waren kaum weniger bürgerlich als die Rechten.8 Selbst wenn in der Nationalversammlung, die im Juni 2002 gewählt wird, 20 Prozent oder mehr Frauen vertreten sein sollten, so wird doch deren Rekrutierungsbasis sich nicht radikal verändert haben; das Volk wird noch genauso „unauffindbar“ sein.

Trotzdem kann man wetten, dass die Feminisierung der Eliten – auch wenn sie die soziale Kluft zwischen Regierenden und Regierten nicht beseitigt – eine große Erneuerung der politischen Prioritäten wie der politischen Praxis nach sich ziehen wird. Weil die Frauen aufgrund ihrer bisherigen Zuständigkeit für Alltag und Familie eine andere Erfahrung haben, sind sie die Richtigen, um den Inhalt der politischen Programme zu ändern und die Lücken eines Gemeinwohls zu füllen, das ohne sie definiert wurde. Und weil sie eine andere Auffassung vom Verhältnis zwischen Privatleben und Politik haben, sind die Frauen auch prädestiniert, das politische Metier neu zu denken und die Trennung von Privatleben und Öffentlichkeit zu verringern. Sie könnten somit ein anderes, realitätsnäheres Handlungsmuster entwerfen. Wird die Feminisierung des Politischen das Ende des Polit-Bürokraten zur Folge haben, der, weil er von morgens bis abends Politik macht, von der Alltagsrealität abgeschnitten ist? Das ist es, was Franzosen und Französinnen von einer Ablösung durch die Frauen erwarten: Sie sollen der politischen Betätigung wieder Bedeutung und Glaubwürdigkeit geben, damit sich endlich alle gut vertreten fühlen.

dt. Sigrid Vagt

* Forschungsleiterin am CNRS (CEVIPOF-Sciences Politiques), Verfasserin von „Profession: femme politique. Sexe et pouvoir sous la Ve République“, Paris (Presses de Sciences-Po) 2001.

Fußnoten: 1 Vgl. Mariette Sineau, „Profession: femme politique. Sexe et pouvoir sous la cinquième République“, Paris (Presses de Science Po), 2001. 2 Vgl. Catherine Achin, „Démocratisation du personnel politique et parité: un premier bilan“, in Mouvements, Nr. 18, November/Dezember 2002; Mariette Sineau, „Parité an 1: un essai à transformer“, Revue politique et parlementaire, Nr. 111, März/April 2001. 3 Unter den BürgermeisterInnen der Städte mit über 3 500 Einwohnern fehlen ArbeiterInnen nahezu völlig: 0,5 Prozent bei den Bürgermeisterinnen und 0,3 Prozent bei den Männern; die Zahl der Angestellten liegt bei 4,8 beziehungsweise 2,3 Prozent; die der medizinischen Berufe bei 2,6 und 0,7 Prozent; die der LehrerInnen bei 4,8 und 2,6 Prozent. Insgesamt stellen diese Berufsgruppen 12,7 Prozent der Bürgermeisterinnen und 5,9 Prozent der Bürgermeister (Quelle: das französische Innenministerium). 4 Diese Prozentsätze wurden an Hand von Statistiken der Nationalversammlung errechnet. 5 Zu diesem Zeitpunkt war mehr als einer von drei Abgeordneten LehrerIn. Bemerkenswerterweise ist der LehrerInnenanteil an der Nationalversammlung stets höher, wenn die Mehrheit sozialistisch ist. So fiel er von 27 Prozent im Jahr 1988 (linke Mehrheit) auf 18 Prozent im Jahr 1993 (rechte Mehrheit) und stieg 1997 wieder auf 26 Prozent. 6 Ebenso hat die Feminisierung der Regierung die Rekrutierungswege unverändert gelassen, die weiterhin technokratisch sind und über die ENA führen. Wie die Männer folgen die Frauen dem obligaten Weg über die ENA in die Ministerien und von dort in die Regierung. 7 Vgl. Alain Gresh, „Représentant(e)s du peuple“, in Manière de voir, 44, März/April 1999. 8 Allenfalls weisen sie einen höheren Anteil von Abgeordneten aus den mittleren Laufbahnen auf, während die gewählten Abgeordneten der Rechten unter den „höheren Angestellten/Akademikern“ überrepräsentiert sind.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von MARIETTE SINEAU