15.03.2002

Das Reich des Bösen im Kaukasus

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Das Reich des Bösen im Kaukasus

ERST kürzlich, am 20. Februar dieses Jahres, hat General Wladimir Moltenskoi, Chefkommandant der russischen Streitkräfte, erneut erklärt, die russische Armee werde ihre Operationen in Tschetschenien fortsetzen – „bis zum endgültigen Sieg über den Terrorismus, der nach wie vor eine Rückkehr der Republik in die Normalität verhindert“. Auch mit derart martialischen Erklärungen wird es Moskau nicht gelingen, sich aus dem tschetschenischen Sumpf zu ziehen: Die Gräueltaten der Armee verhindern derzeit jegliche mögliche Zusammenarbeit. Doch früher oder später wird man an den Verhandlungstisch zurückkehren müssen.

Von VICKEN CHETERIAN *

Ein Tag wie jeder andere in Tschetschenien. Eine russische Militärpatrouille fährt auf eine Mine auf und wird unter Raketen- und MG-Beschuss genommen. Junge Soldaten sacken zusammen. Ihre Lkws und Panzer gehen in Flammen auf. Die tschetschenischen Angreifer ziehen sich zurück. Ein paar Stunden später durchkämmt russisches Militär die Dörfer der Umgebung. Sie verhaften Männer, vereinzelt auch Frauen. Einige der Verhafteten „verschwinden“; andere, für die die Familien bezahlt haben, werden zwar misshandelt, kommen aber später frei.

Die im Sommer 1999 angelaufene „Anti-Terror-Operation“ sollte, so die russische Regierung, bis Ende März 2000 abgeschlossen sein; sie dauert bis heute an. Dieser Zermürbungskrieg hat bereits mehrere zehntausend Zivilisten das Leben gekostet, sie hat verheerende Zerstörungen in der Kaukasusrepublik angerichtet und die Bevölkerung zur Massenflucht gezwungen: Laut offiziellen Angaben ist die Einwohnerzahl von 1,2 Millionen Menschen zu Zeiten der Sowjetunion auf heute 400 000 geschrumpft.1 Die Verluste auf russischer Seite erreichen ein nicht mehr erträgliches Ausmaß.2 So kamen beim Abschuss eines Hubschraubers am 17. September 2001 zwei Generäle, acht Oberste und drei einfache Soldaten ums Leben; am 27. Januar dieses Jahres wurden bei einem weiteren Hubschrauberabschuss der stellvertretende russische Innenminister, Michail Rudschenko, und dreizehn ranghohe Offiziere getötet. Russland sitzt in der Falle, und seine Politiker wissen nicht, wie sich das Land daraus befreien kann.

Und doch war die Sackgasse vorauszusehen. 1999 stellte der Nordkaukasus tatsächlich ein Sicherheitsproblem dar. Selbst wenn man von den Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau und anderen russischen Großstädten absieht, die einige Beobachter dem russischen Geheimdienst zuschrieben, so erforderte der Überfall mehrerer hundert meist tschetschenischer Rebellen auf Dagestan tatsächlich dringend eine Reaktion. Aber jede nicht militärische Option auszuschließen und einen bedingungslosen Krieg zu erklären zeigt einmal mehr, dass die russischen Politiker ihre eigene Geschichte nicht kennen. Offenbar haben sie weder Lermontow noch Tolstoi3 gelesen noch eine Lehre aus dem „ersten“ Tschetschenienkrieg (1994 bis 1996) gezogen.

Der „zweite“ Krieg, hört man oft, sei ein weiteres Glied in der endlosen Kette russisch-tschetschenischer Feindseligkeiten, die seit mindestens zweihundert Jahren nicht abgerissen sei. Diese Einschätzung zeugt von einer deterministischen Geschichtsauffassung, der zufolge sich Russen und Tschetschenen im permanenten Krieg befinden. Im 19. Jahrhundert sah sich das Zarenreich einer Widerstandsfront aller kaukasischen Völker gegenüber, deren Symbolfigur der Imam Schamil, ein aus Dagestan stammender Aware war. Die Awaren haben ihren Kampfgeist bis heute ebenso bewahrt wie die Tschetschenen, doch seit Anfang der 1990er-Jahre haben sie nicht mehr gegen Moskau rebelliert. So wenig wie andere muslimische Kaukasusvölker, ob Kabardiner, Tscherkessen, Inguschen oder Lesgier – und auch Tschetschenien hätte ein Einvernehmen mit den neuen Machthabern in Moskau finden können.

Folgenreiche Fehleinschätzungen

EBENSO ungerechtfertigt erscheint das russische Argument, eine Abspaltung Tschetscheniens zöge ein Auseinanderbrechen Russlands nach sich, so wie nach den ersten Unabhängigkeitserklärungen die UdSSR auseinander gebrochen war. Seit Tatarstan und die Föderalregierung im Februar 1994 ihre Machtbefugnisse und Kompetenzbereiche vertraglich geregelt haben, ist Tschetschenien das einzige „Subjekt“ der Russischen Föderation, das die volle staatliche Souveränität einfordert.4 Was Moskaus Autorität im Kaukasus vor allem schmälert, sind die massiven Menschenrechtsverletzungen, gepaart mit militärischer und politischer Inkompetenz.

Kurz, ein festgefahrener Konflikt im Kaukasus liegt keineswegs im Interesse Moskaus. Dennoch haben russische Machthaber nun schon zweimal in zehn Jahren versucht, die explosive Situation im Nordkaukasus für die politische Auseinandersetzung im Kreml zu instrumentalisieren. Der Einmarsch in Tschetschenien im Dezember 1994 sollte die Chancen von Boris Jelzin im Präsidentschaftswahlkampf 1996 erhöhen. Und die Krise des Jahres 1999 verschaffte Wladimir Putin, der damals noch eine unbekannte Größe war, einen soliden Rückhalt in der Bevölkerung. Der Vorstoß tschetschenischer Truppen nach Dagestan unter der Führung des berühmten Kommandanten Schamil Bassajew und seines Verbündeten Chattab (eines wahhabitischen Jordaniers) stellte unzweifelhaft eine ernste Bedrohung dar.

Die russischen Generäle hatten aus der Niederlage von 1996 keine dauerhaften Lehren ziehen wollen. Vielmehr glaubten sie 1999 erneut, durch einen massiven Truppenaufmarsch endlich die tschetschenische Separatistenbewegung zerschlagen zu können. 1994 waren 35 000 Soldaten nach Tschetschenien entsandt worden, 1999 waren es bereits 90 000 – ebenso viele wie seinerzeit in Afghanistan. Zudem brachte die Regierung die kritischen Medien zum Verstummen. Nach der „feindlichen Übernahme“ des unabhängigen (kritischen) Fernsehsenders NTW und nach dem Aufkauf der Wochenzeitung Itogi durch den Unternehmensgiganten Gasprom erfolgte diesen Januar ein weiterer skandalöser Eingriff in die Pressefreiheit: Ein Gericht ordnete die Schließung von TW 6 an, dem letzten landesweiten Fernsehsender, der noch nicht vom Kreml kontrolliert wurde.5

Auch im Hinblick auf die verschiedenen Lager innerhalb Tschetscheniens haben die russischen Generäle die Situation falsch eingeschätzt. 1999 wie bereits 1994 herrschte in der Kaukasusrepublik tatsächlich eine Bürgerkriegssituation. 1994 hatte die Macht des damaligen Präsidenten Dschochar Dudajew jenseits der Mauern seines Amtssitzes geendet. Was die Tschetschenen nicht davon abhielt, ihre inneren Zwistigkeiten zu überwinden, um gemeinsam dem Eroberer entgegenzutreten, den sie noch immer mit den Massendeportationen von 1944 in Verbindung bringen.

Die „Anti-Terror-Aktion“ hat die Führung des tschetschenischen Widerstands nicht ausschalten können. Bassajew und Chattab organisieren nach wie vor Militäraktionen gegen die russischen Streitkräfte. Zwar ist es den Russen gelungen, Achmed Kadyrow, den ehemaligen Mufti von Tschetschenien, zum Verbündeten zu gewinnen, doch ihrem Versuch, eine „Regierung“ mit diesem Anhänger des traditionellen Tariqat-Sufismus (und Gegner des Wahhabismus) auf die Beine zu stellen, dürfte wenig Erfolg beschieden sein: Diese Regierung würde einen russischen Truppenabzug nicht überdauern. Gegen den früheren Mufti wurden schon mehrere Attentatsversuche unternommen, und sein engster Mitarbeiter, Adam Denijew, kam im April 2001 bei einem Bombenanschlag durch die Separatisten ums Leben.

1999, nach den Jahren des Chaos und der inneren Auseinandersetzungen, hätte die tschetschenische Öffentlichkeit jeden Stabilisierungsversuch, also selbst einen russischen, begrüßt. Mittlerweile haben die von der russischen Armee begangenen Gräueltaten jede Zusammenarbeit mit Moskau undenkbar gemacht. Aber die Meinung der tschetschenischen Bevölkerung spielt im Kalkül der russischen Entscheidungsträger offensichtlich keine Rolle. In der Tat lässt sich fragen, wie Russland behaupten kann, die Tschetschenen seien Bürger der Föderation, während sich die Armee vor Ort wie eine Okkupationsmacht aufführt.

Gewiss hat der Waffenlärm zunächst den Wechsel an der Staatsspitze in Moskau erleichtert, doch inzwischen macht der sich hinziehende Konflikt fortwährend auf die Schwäche Russlands aufmerksam. Es läge also im Interesse Moskaus, den Tschetschenienkonflikt zu beenden. Ein erstes Treffen zwischen Achmed Sakajew, Chefunterhändler des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow6 , und Wiktor Kasanzew, dem Tschetschenien-Beauftragten des russischen Präsidenten, am 18. November 2001 auf dem Moskauer Flughafen blieb ohne Fortsetzung; vielmehr wurden die militärischen Operationen trotz der Härten des Winters wieder verstärkt. Die Verhandlungen werden sich auf zwei schwierige Fragenkomplexe konzentrieren müssen: die politische Repräsentation und die militärische Kontrolle der Kaukasusrepublik. Werden die Separatistengruppen entwaffnet oder in die lokale Polizei integriert? Wie erfolgt der Abzug der russischen Streitkräfte? Die heikle Frage des politischen Status für Tschetschenien kann in einem ersten Vertrag wohl offen bleiben, doch sicher muss man bereits eine Grundsatzerklärung vereinbaren.

Laut russischen Quellen hat Präsident Putin seinem tschetschenischen Amtskollegen Aslan Maschadow zwei Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen übermittelt: „Entwaffnung sowie erkennbare Bereitschaft zum Frieden“.7 Maschadow hat sich zu Verhandlungen mit Moskau bereit erklärt und sich klar von den tschetschenischen Hardlinern distanziert: „Mit seinem Überfall auf Dagestan hat Bassajew den Krieg mit Russland provoziert“, erklärte er in einem Rundfunkgespräch der Deutschen Welle.

Dank ihres Kampfgeistes konnten die Tschetschenen trotz großer zahlenmäßiger Unterlegenheit zwar beachtliche Erfolge erringen, doch für die Bevölkerung hatte dies tragische Folgen. Während der Kämpfe 1994 bis 1996 hat es nie eine einheitliche Kommandozentrale der Separatisten gegeben. So konnten die verschiedenen Warlords den Menschen ihr Gesetz aufzwingen. Die Folge waren permanente Instabilität und Chaos. Tschetschenien war nach dem russischen Truppenabzug zwischen 1996 und 1999 zwar ein de facto unabhängiges, aber zugleich ein zerrüttetes Land. Eine regelrechte Industrie der Geiselnahme gedieh ebenso wie der illegale Waffenhandel und die Erdölpiraterie entlang der Pipeline Baku–Noworossisk.

In Unkenntnis der russischen Absichten und um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, hatte Präsident Maschadow seinerzeit nicht einmal den Versuch unternommen, den verschiedenen bewaffneten Gruppierungen, den wahhabitischen Revolutionären und anderen kriminellen Banden Einhalt zu gebieten.8 Die Mehrheit der Tschetschenen jedoch hatte nach Jahren des Krieges und der Unruhen auf eine Normalisierung der Lage gehofft. Aber diese Unabhängigkeit mit einem Präsidenten ohne Macht und mit Warlords, die ihnen ihre Gesetze diktierten, wurde für sie zu einer bitteren Enttäuschung. Heute ist ihr Widerstand nur noch ein Kampf gegen die russische Invasion und nicht mehr um irgendwelche politischen Ziele.

Der „Anti-Terror-Krieg“ der Vereinigten Staaten macht die schwierige Position Russlands noch unbequemer. Präsident Putin verweist zwar auf die Beziehungen zwischen den fundamentalistischen Fraktionen in Tschetschenien und dem Al-Qaida-Netzwerk und will damit eine Parallele zwischen dem Tschetschenienkrieg und der amerikanischen Militäroffensive herstellen. Aber im Kreml weiß man, dass sich nach Beendigung des Afghanistanfeldzugs in dem „Unterbauch“, der Zentralasien für Russland darstellt, ein neues geopolitisches Kräfteverhältnis herausbilden wird. Daher misst man der kaukasischen Frage größte Dringlichkeit bei.9 Während der Präsident sich ausschweigt, lehnt eine Reihe von russischen Politikern eine langfristige Stationierung US-amerikanischer Truppen in Mittelasien ganz offen ab, und die Medien spekulieren über ein Wiederaufflammen der russisch-amerikanischen Rivalität in Transkaukasien. Der Honeymoon ist vorbei, wie es ein Kommentator im Januar in der Moscow Times formulierte.10

Der Druck auf Moskau, den Krieg zu beenden, wächst. Der Konflikt kostet nicht nur unzählige Menschenleben, er blockiert auch die Militärreform, die Wladimir Putin versprochen hatte, ganz abgesehen davon, dass er sämtliche Ressourcen der russischen Streitkräfte verschlingt.

Für Moskau ist der einzige Ausweg ein erneuter Truppenabzug. Doch hier liegt auch das Dilemma. Ein Nachkriegs-Tschetschenien würde aller Wahrscheinlichkeit nach dem Vorkriegs-Tschetschenien gleichen, in dem Ungewissheit und Chaos herrschten. Und für den russischen Präsidenten, der mit dem Versprechen des militärischen Sieges in den Wahlkampf gezogen war, würde dieser Rückzug eine schwere Schlappe bedeuten. Im Verlauf dieser zehn Jahre, die der Tschetschenienkonflikt nun andauert, hat keine russische Regierung eine alternative politische Lösung erarbeitet. Dennoch kann nur der Truppenabzug ein größeres Blutvergießen verhindern.

dt. Passet/Petschner

* Journalist, Eriwan.

Fußnoten: 1 Nach Zahlen von Human Rights Watch haben 260 000 Menschen ihren Aufenthaltsort innerhalb Tschetscheniens gewechselt, 170 000 Menschen leben als Flüchtlinge in Inguschetien. Siehe http://www.hrw.org/campaigns/russia/chechnya/. 2 Die Neue Zürcher Zeitung vom 3./4. November 2001 zitiert russische Quellen, die von 15 000 Opfern in Tschetschenien seit dem Beginn der Militäroperation im Jahre 1999 sprechen: 11 000 tschetschenischen Rebellen und 3 438 russischen Soldaten. Nicht erfasst sind dabei die zivilen Opfer. 3 Vergleiche: Michail Lermontow, „Ein Held unserer Zeit“, Stuttgart (Reclam) 1968 sowie Zürich (Diogenes) 1996; Leo Tolstoi, „Die Kosaken“, Zürich (Diogenes) 1985 sowie Frankfurt am Main (Insel) 1993. 4 Zu den Parallelen zwischen Tatarstan und Tschetschenien siehe „Tatarstan als Modell?“, Le Monde diplomatique, September 1995. 5 NTW und Itogi waren Unternehmen im Besitz des Oligarchen Wladimir Gussinski, TW 6 gehörte Boris Beresowski. 6 Er setzte sich bei den Wahlen 1997 durch, die unter OSZE-Aufsicht durchgeführt wurden. 7 Nesawissimaja Gaseta, Moskau, 17. Januar 2001. 8 Vergleiche dazu das Interview von Anne Nivat mit Aslan Maschadow in „Chienne de guerre“, Paris (Fayard) 2000. 9 Siehe Gilbert Achcar, „Machtdreieck Washington, Moskau und Peking“, Le Monde diplomatique, Dezember 2001. 10 Pavel Felgenhauer, „U.S. Is a Demanding Spouse“, in The Moscow Times, 24. Januar 2002.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von VICKEN CHETERIAN