15.03.2002

Container Istanbul

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Container Istanbul

Gameshows nach westlichem Vorbild beherrschen die türkische Fernsehlandschaft. Auf den Bildschirmen sind flotte junge Akademiker aus dem urbanen Westen des Landes zu sehen, die vor rund um die Uhr laufenden Kameras versuchen, vom staatlichen Mindestlohn zu leben. Das Fernsehpublikum im armen Anatolien sieht zu und zieht seine Schlüsse.

Von NICOLAS MONCEAU *

DIE Welle des „Reality-TV“, die durch alle westlichen Länder rollte, hat die Türkei nicht verschont. Im Jahr 2001 brachten derartige Sendungen auf rund einem Dutzend privater Fernsehkanäle höchste Einschaltquoten – und gaben Anlass zu heftigen Kontroversen. Besonders spannend waren die Reaktionen vor dem Hintergrund der schweren Wirtschafts- und Währungskrise, unter der die Türkei seit Februar 2001 leidet.

In einem Jahr ist die Zahl der Arbeitslosen um über eine Million gestiegen, die Inflationsrate beträgt 80 Prozent, und 40 Prozent der Bevölkerung müssen von etwa 1,50 Dollar am Tag leben. Diese aktuellen Zahlen aus dem türkischen Arbeitsministerium zeugen von einer explosiven Situation. Zugleich mehren sich im Fernsehen Gameshows mit hohen Gewinnchancen. Shows wie „Wer will 125 Milliarden?“ („Kim 125 milyar ister?“) (nach der Abwertung der türkischen Lira umgetauft in „Wer will 500 Milliarden?“), „Halt die Hand drauf!“ („Dokun bana“) und „Küsschen am Abend“ („Iyi geceler opucugu“) konnten sich kaum retten vor Kandidaten, die zu allem bereit waren, um mit einem Auftritt schnelles Geld zu machen.1 Als unangefochtene Spitzenreiter erwiesen sich 2001 die Serien „102 Millionen“ und „Wir werden beobachtet“ – türkische Versionen des „Big Brother“-Konzepts.2

„102 Millionen“ (102 Milyon), im Juni 2001 vom privaten Kanal D gestartet, bot eine Art Bühnenfassung der Wirtschafts- und Finanzkrise: Zwei Kandidaten traten gegeneinander an mit dem Ziel, von 102 Mio. Lira (etwa 100 Euro, dem gesetzlichen Mindestlohn also) einen Monat lang in Istanbul zu (über)leben. Rund um die Uhr von einem Dutzend Kameras verfolgt, sollten sie alle Ausgaben des täglichen Lebens (Essen, Freizeitvergnügen, laufende Kosten – ausgenommen die Miete) aus diesem Budget bestreiten. Dem Gewinner winkten die Summe von 25 Mio. Lira (etwa 25.000 Euro) und ein Auto.

Auf dem Bildschirm sieht man, wie der Druck durch die Krise wächst: Die Kandidaten haben alle Mühe, ihre Kosten für Nahrungsmittel auf das absolute Minimum zu beschränken (jede Woche werden die Liste ihrer Einkäufe und die aktuelle Summe ihrer Ausgaben gezeigt). Sie gehen zu Fuß zur Arbeit, um Fahrtkosten zu sparen, und lassen sich tausend Tricks einfallen. Dabei entdecken sie eine bislang offenbar unbekannte Wirklichkeit: den Alltag von Millionen ihrer Landsleute.

Diese Version von „Big Brother“ führt den Opfern der Wirtschaftskrise ein Überlebensmodell vor. Angeblich in solidarischer Absicht. Doch man muss sich die Modalitäten – und die Natur dieses Wettkampfs – genauer ansehen. Jeweils ein Mann und eine Frau treten gegeneinander an, beide um die zwanzig, unverheiratet, Studenten oder Berufstätige mit abgeschlossener Ausbildung. Die realen Empfänger des garantierten Mindestlohns gehören in der Regel einer anderen Generation und anderen sozialen Schichten an: Es sind ungelernte Arbeiter oder Mütter mit vielen Kindern. Dass der Fernsehproduzent ausgerechnet zwei Kandidaten ohne familiäre Belastungen, die zudem keine Miete bezahlen müssen, antreten lässt, um zu beweisen, dass man mit diesem Einkommen in der heutigen Türkei leben kann, ist also nicht gerade realistisch.

Die im Februar 2001 von Show TV – einem stark am Massengeschmack orientierten Privatsender – gestartete Serie „Wir werden beobachtet“ („Biri bizi gözetliyor“; auch „Haus BBG“ genannt) hielt bis zum 19. Mai die ganze Nation in Atem. Das Konzept ist angelehnt an westliche Vorbilder: Fünfzehn junge Leute, eingeschlossen in einem Haus und von Kameras überwacht, sollen sich vor dem Publikum bewähren, das per Ausschlussverfahren bestimmt, wer übrig bleibt und das Preisgeld von 100 Milliarden Lira gewinnt. Die heftigen Reaktionen auf „Big Brother“ zeigten – mehr als in jedem anderen Land – die Widersprüche und Spannungen, mit denen junge Menschen heutzutage leben.

In der politischen und gesellschaftlichen Diskussion ist immer häufiger vom Prinzip der „kulturellen Vielfalt“ die Rede, das die Türkei seit den Zeiten des Osmanischen Reichs kennt; doch im „Haus BBG“ gibt es keine Kurden und keine Alewiten, die jungen Leute stammen vielmehr ausnahmslos aus dem Westen der Türkei und sind typische Vertreter eines urbanen westlichen Lebensstils. Auch ihr sozialer Status – alle mit Universitätsabschluss oder mit der Möglichkeit dazu – liegt deutlich über dem Durchschnitt eines Landes, in dem – nach einer kürzlich veröffentlichten Studie der Weltbank3 – 16 Prozent der Erwachsenen Analphabeten sind (bei Frauen sind es 25 Prozent) und nur 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung weiterführende Schulen besucht haben. Indem sie von der „Menschenlandschaft der Türkei“ nur deren „westlichen“ Teil zeigt, liefert die Serie ein völlig unausgewogenes Bild der Jugend – das von einer Mehrheit der Zuschauer, die aus Anatolien kommt, noch dazu idealisiert wird. Beim „Haus BBG“ bestaunt also der arme, traditionelle „Osten“ des Landes den Reichtum und die Modernität des „Westens“. Mit Kritik an den Ungereimtheiten einer Gesellschaft der zwei Geschwindigkeiten hat die „Big Brother“-Serie nichts im Sinn.

Die Art, wie der Wettbewerb durchgeführt, und insbesondere das System, nach dem das Ausscheiden von Kandidaten bestimmt wird, machen deutlich, welches Gewicht moralische und religiöse Grundsätze in diesem Land muslimischer Tradition noch immer besitzen. Anders als in anderen Ländern wird hier erotisches Geplänkel nicht von den Kameras übertragen, und wer sich nicht an Moral und geltende Sitten hält, hat das Nachsehen. So musste Hülya, eine 36-jährige Hausfrau und Mutter, früh ausscheiden, weil sie bereitwillig das Zimmer mit dem Konkurrenten Melih teilte, der kaum älter als ihre Kinder war. Die meisten Zuschauer begrüßten den Rausschmiss, weil Hülyas Verhalten mit „dem Schutz der türkischen Familie und der öffentlichen Moral nicht vereinbar“ sei. Beim Obersten Rat für Rundfunk und Fernsehen (RTÜK), einer ebenso mächtigen wie umstrittenen Kontrollinstanz, gingen innerhalb eines Monats fast 3 000 Beschwerden ein. Der RTÜK untersagte daraufhin für einen Tag die Ausstrahlung der Programme von Show TV. Mehr als zwei Drittel der Beschwerdeführer waren Männer, darunter hundert Parlamentarier und fünf Minister.

Obwohl schon die Auswahl der Kandidaten und die Kriterien für ihr Ausscheiden kritisch gesehen wurden, ging es bei den Kontroversen im Kern um das durch die Sendung vermittelte Bild der Jugend. Die jungen Leute im „Haus BBG“ betrachten sich selbst als unpolitisch, das politische Leben des Landes finden sie „korrupt“ oder schlicht „dreckig“. Gleichzeitig sind sie über die soziale Wirklichkeit nicht auf dem Laufenden und stehen aktuellen Problemen völlig gleichgültig gegenüber. Ihre Grundhaltung ist radikal individualistisch: Sie sind darauf aus, schnelles Geld zu machen und sich über die Sendung einen Platz im Medienzirkus zu sichern. Steht man erst einmal im Scheinwerferlicht, kann man auch ein Star werden: Tarik zum Beispiel, der als Musiker ein paar Hits landete, oder Melih und Eray, die in irgendwelchen Seifenopern auftraten. Sie wurden von hysterischen Fans umlagert, wo immer sie sich zeigten. Letztlich besteht ihre kulturelle Relevanz darin, dass sie das allmähliche Absterben traditioneller Wurzeln zugunsten der „Fernsehkultur“ illustrieren. Die Mehrheit der Zuschauer hielt die Teilnehmer am Verdrängungswettbewerb im „Haus BBG“ jedenfalls für „oberflächlich“ und „beeinflussbar“, „kalt und gleichgültig“, wenn nicht gar für „verdorben“ durch ihre kulturelle Orientierung am Westen.

In gewisser Weise sind die jungen Leute im „Haus BBG“ typische Vertreter der „Generation Özal“. Sie wurden zur Zeit des Militärputschs vom 12. September 1980 geboren und wuchsen im System der Reformpolitik des damaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal auf – das im Zeichen der Öffnung und liberalen Orientierung stand und in der Türkei tief greifende Veränderungen im Denken der Menschen bewirkt hat. Die zehn Jahre von 1980 bis 1990 waren geprägt vom Wirtschaftsliberalismus und der Amerikanisierung des Alltagslebens. In dieser Zeit wurde das Geld zum Wert an sich, zu dem man sich bekannte wie zu einer neuen Religion.

Dass der Start der „Big Brother“-Serie im Februar letzten Jahres zufällig mit dem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise in der Türkei zusammenfiel, sorgte für eine Art Vergrößerungseffekt: Im Lauf der Monate wurde die Diskrepanz zwischen der dramatischen Entwicklung im Lande und der ignoranten Selbstbezogenheit der Kandidaten überdeutlich sichtbar. Damit offenbarte sich die kulturelle Identitätskrise und moralische Orientierungslosigkeit der jungen Türken von heute – auf dem holprigen Weg in jene westliche Moderne, die einst von den kemalistischen Gründern der Republik zum einzig wahren Leitbild erklärt worden war.

dt. Edgar Peinelt

* Lehrbeauftragter an der Universität Galatasaray, Istanbul.

Fußnoten: 1 In der Serie „Halt die Hand drauf!“, die im Sommer 2001 lief, versucht ein Dutzend Bewerber, ein Auto zu gewinnen, indem jeder von ihnen eine Hand (in einem Spezialhandschuh) auf die Motorhaube legt und so lange wie möglich aushält. Im Rahmen dieser physischen und psychischen Belastungsprobe – der Rekord steht mittlerweile bei über 95 Stunden – kommt es natürlich immer wieder zu Ohnmachtsanfällen, zu Weinkrämpfen und Halluzinationen. Eine andere Version dieser Art von Wettbewerb orientiert sich an „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“, einem 1935 erschienenen Roman von Horace McCoy (1969 verfilmt von Sydney Pollack mit Jane Fonda und Gig Young), das einen Dauertanzwettbewerb in den Vereinigten Staaten zur Zeit der Depression beschreibt. Auch in der türkischen Fernsehshow treten zwanzig Paare gegeneinander an, die bis zur Erschöpfung tanzen müssen. „Küsschen am Abend“, eine weitere Show dieses Genres, spekuliert mit der Tabuisierung von Sexualität in der Türkei: Den Zuschauern werden während der Sendung, mit Hilfe spezieller Kameras auf der Bühne, intime Blicke auf die spärlich bekleideten Moderatorinnen gewährt. 2 Siehe Ignacio Ramonet, „Immer im Zimmer“, Le Monde diplomatique, Juni 2001. 3 The World Bank Group in Turkey, Washington, D. C., Februar 2001. Siehe http://www.worldbank.org/html/extdr/regions.htm.

Le Monde diplomatique vom 15.03.2002, von NICOLAS MONCEAU