12.04.2002

Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

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Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

DIE ehemaligen Guerilleros der FMLN sitzen nun in zahlreichen Gemeinderäten El Salvadors. Auch in der Hauptstadt San Salvador stellen sie die Mehrheit im Stadtrat – und den Bürgermeister. Die Stadt hat mit vielen Problemen zu kämpfen, und Bürgermeister Héctor Silva muss sie unter erschwerten Bedingungen lösen: Seine Wählerklientel darf er nicht verprellen, und auf konstruktive Zusammenarbeit mit der Landesregierung der Arena-Partei kann er nicht bauen. Nicht einmal die Kompetenzen der Polizei sind geklärt.

Von KARIM BOURTEL *

Vor der Hauptstadt San Salvador steht ein Denkmal zu Ehren des wiedererlangten Friedens. Doch nirgendwo in der Stadt wird der 75 000 Opfer des zwölfjährigen Bürgerkriegs gedacht, der von 1980 bis 1992 das Land verwüstete. Andererseits haben die salvadorianischen Behörden dafür gesorgt, dass allen im World Trade Center umgekommenen Salvadorianern die letzte Ehre erwiesen wurde: 100 geschmückte Kreuze säumten den Asphalt der Calle Primera Poniente. Zum Zeichen der Solidarität mit den trauernden amerikanischen Angehörigen wurden auch die Gedenkfeiern zum 180. Jahrestag der Unabhängigkeit El Salvadors am 15. September abgesagt.

Graffiti, die wie aus fernen Zeiten anmuten, überziehen die Mauern: „Die Revolution geht weiter!“ Die ideologischen Grabenkriege ganz offenbar ebenso. „Ja zum Vaterland, nein zum Kommunismus!“ kann man noch immer bei jeder Zusammenkunft der Republikanisch-Nationalistischen Allianz (Arena) hören. Diese Partei hat sich in Etappen von einer rechtsextremen zu einer mehr und mehr vorzeigbaren rechtsliberalen Partei entwickelt und regiert das Land durchgehend seit 1989, ohne Unterbrechung.

Doch auch den ehemaligen Guerilleros der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) ist in dieser Zeit ein schwieriger Wechsel gelungen: Man kämpft nicht mehr mit Waffen, sondern an den Urnen. Aus einer Geheimorganisation ist eine politische Partei geworden, die am 12. März 2000 bei den Kommunalwahlen triumphierte und zur stärksten politischen Kraft im Parlament wurde.1

Bei diesen Wahlen eroberte die „Front“, wie sie gewöhnlich genannt wird, achtzig Rathäuser, davon zwölf in Regierungskoalitionen mit anderen Parteien. Das sind immerhin fünfundzwanzig mehr als nach den Wahlen von 1997. Sieben der vierzehn größten Städte des Landes werden heute von der Front regiert. Im Ballungsgebiet von San Salvador hält die Front in zwölf von neunzehn Gemeinden die Mehrheit. Mit 56 Prozent der Stimmen wurde Héctor Silva, der gemeinsame Kandidat von FMLN und Christlich-Sozialer Union (USC), amtierender Bürgermeister seit März 1997, in seinem Amt bestätigt. Die Gemeinderäte der FMLN glauben fest daran, dass die demokratische Revolution schließlich dort siegen wird, wo die sozialistische Revolution gescheitert ist.

Die Calle Rubén Darío ist eine der wichtigsten Verkehrsadern von San Salvador. Feuchte, mörderische Hitze, viel Elend. Die Händler mit Waren für das tägliche Überleben – las rebuscas – haben die Straße fest im Griff. Alles wird hier verkauft, mit allem gedealt. Ob Kleidung oder Elektrogeräte, ob Bier oder cochebomba (ein Methylalkohol, mit dem sich die Arbeitslosen den Rest geben), ob Crack oder Koks. Francisco Altschul, Stadtradt für die Sanierung des historischen Zentrums, beschreibt das Ausmaß dieses Handels: „Es gibt zur Zeit 8 000 Straßenhändler im Zentrum von San Salvador und mehr als 12 000 im gesamten Stadtgebiet. Als Folge des zwölfjährigen Bürgerkriegs und der sieben Jahre Rezession versinkt die Stadt in Armut. Die frühere Stadtverwaltung hatte jegliche Autorität verloren. Der öffentliche Raum gilt als Niemandsland.“ Wie viele Bewohner des Ballungsgebiets setzt auch Rosa keinen Fuß mehr in die Innenstadt, die in den letzten Jahren „zu apokalyptisch“ geworden sei. Sie geht lieber in die Einkaufszentren nach amerikanischem Vorbild, die rund die Stadt aus dem Boden schießen.

Noch im November 1989 hatte die FMLN versucht, San Salvador militärisch einzunehmen. Nachdem die Stadt nun auf demokratischem Wege in ihre Hände gefallen ist, bemüht sich die Front, das alltägliche Leben erträglicher zu gestalten. Als Héctor Silva 1998 einen Sanierungsplan vorlegte, klang der Slogan allerdings etwas surrealistisch: „Die Parks und Straßen den Fußgängern, nicht den Händlern!“ Die rebuscas mit ihrem Ramsch, der die Gehsteige verstopft, vertreiben? Niemand glaubte daran, vor allem, weil der informelle Sektor der Wirtschaft meistens FMLN wählt. „Das hieße ja, sich an der eigenen Wählerschaft vergreifen“, meint dazu einer der Händler.

Die Initiative ist politisch riskant und wurde scharf kritisiert, doch die seit drei Jahren geführten Verhandlungen zwischen dem Rathaus und den Berufsverbänden der Straßenhändler um neue Standorte nähern sich dem Abschluss. Im Austausch gegen einen Platz auf den Märkten der Stadt oder in einer eigens zu diesem Zweck erbauten Wellblechhalle im Stadtzentrum haben mehrere hundert Händler zugesichert, ihren Platz auf den Bürgersteigen zu räumen. In sanitärer und finanzieller Hinsicht, ebenso im Hinblick auf die Sicherheit, sind die neuen Arbeitsbedingungen unvergleichbar besser als auf der Straße. Die von der Stadtverwaltung vorgeschlagene Lösung ist überzeugend. Mit jenen rebuscas, die den Verlust ihrer spärlichen Kundschaft fürchten und ihren Standort nicht wechseln wollen, steht das Rathaus noch in Verhandlung. Was nicht ausschließt, dass die Verweigerer mit Gewalt vertrieben werden, sollten die Gespräche scheitern. Allmählich gehören die großen Plätze und Straßen wieder den Bürgern der Stadt. Private Unternehmen werden pragmatisch in die Sanierung des öffentlichen Raums einbezogen.2

„Héctor Silva hat Fortschritte gemacht, wo es niemand für möglich gehalten hätte: er hat es geschafft, manchen Vierteln der Innenstadt wieder ein menschliches Gesicht zu geben“, erklärt Tomas, ein gebürtiger San Salvadorianer. „Die Veränderung ist deutlich zu spüren. Aber der Stadtrat kann nicht die nationalen Probleme lösen – ob es nun um die Schattenwirtschaft oder um den Straßenverkehr geht. Diese Dinge liegen außerhalb seiner Möglichkeiten und Kompetenzen. Da muss endlich die Regierung etwas tun.“ „Aber“, meint Fabio Castillo, der ehemalige Oberste Koordinator der FMLN, „die Amtsführung in der Hauptstadt wird bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004 eine entscheidende Rolle spielen.“ Das Amt des Bürgermeisters von San Salvador gilt traditionell als Sprungbrett für die Präsidentschaft. Und damit ist auch klar, warum die Arena-Partei Héctor Silva jede Untrstützung verweigert.

„Die FMLN hat in San Salvador nicht gerade rote Räte eingesetzt“, spöttelt Eugenio Martinez, Abgeordneter im Zentralamerikanischen Parlament. Bürgermeister Héctor Silva ist Gynäkologe von Beruf, in den Vereinigten Staaten geboren und Absolvent von Harvard. Er war erst Abgeordneter des Mitte-links-Bündnisses „Demokratische Konvergenz“, das auch auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs enge (und gelegentlich überstrapazierte) Verbindungen zur Guerilla unterhielt. Doch Silva hat nie auf Seiten der FMLN agitiert oder gar gekämpft. So konnte er, neben den Anhängern der ehemals bewaffneten Opposition, auch andere Wähler für seine „Politik der Öffnung“ gewinnen. Außerdem sind im derzeitigen Rathaus noch andere politische Strömungen vertreten.

Im Dezember 1998 brannte der wichtigste Markt im Zentrum von San Salvador zur Hälfte ab. 2 700 Händler standen auf der Straße. Der Wiederaufbau der Halle soll 8 842 000 Euro kosten. 6 000 rebuscas könnten darin Platz finden. Während die Central American Bank of Economic Integration (CABEI) die Vergabe eines Kredits zur Finanzierung des Bauvorhabens bereits abgesegnet hat, weigert sich das Finanzministerium seit Juni 2001, die Akte zu bearbeiten. Da ohne Zustimmung und Bürgschaft des Ministeriums nichts entschieden werden kann, geschieht eben bis auf weiteres gar nichts. Roberto d‘Aubuisson ist Delegierter der Arena-Partei im Ausschuss für öffentliche Bauvorhaben. „Es gibt keinen Widerstand von Seiten der Regierung“, behauptet er. Gleich darauf beschimpft er allerdings den Bürgermeister und seinen Stadtrat, der sich „aus lauter unfähigen und schlechten Führungskräften“ zusammensetze. D‘Aubuisson beginnt zu schäumen, sobald die Namen Héctor Silva oder FMLN fallen. Als Sohn des „Erzengels der Todesschwadronen“ macht er seinem Familiennamen alle Ehre.3

San Salvador wird unterdessen nicht nur von seinen Straßenhändlern gepeinigt, sondern auch von seinen öffentlichen Verkehrsmitteln: 9 000 Busse durchqueren Tag für Tag auf 137 Linien die Stadt.4 Die Abgase verdüstern die Aussicht, zerfressen Bausubstanz und Lungen. Private Betreiber jagen sich in einem beinharten Wettbewerb gegenseitig die Fahrgäste ab. „Gewinner der Jagd ist, wer die meisten Leute einsammelt, wer jederzeit überall und ohne Rücksicht anhält“, beschwert sich eine Kundin. „Seit Monaten verhandelt Hector Silva wegen einer Neuordnung des Verkehrswesens, aber die Feindseligkeit der Regierung gegenüber dem Rathaus ist so stark, dass sie das Projekt hintertreibt“, schimpft ein junger Salvadorianer.

Nachdem der Stadtrat eines Sanierungsplan für die Innenstadt vorgelegt und darin Vorschläge zu einer Neuordnung des Straßenverkehrs gemacht hatte, präsentierte das Transportministerium einen eigenen Entwurf. Der Plan der Stadtverwaltung sieht vor, die Hauptverkehrsadern zu entlasten und die Durchfahrt von Omnibussen und Microbussen zu beschränken. Doch das Ministerium ignorierte diese Ansätze ebenso souverän wie die Ergebnisse der Gespräche mit den Transportunternehmern. Der Verkehrsplan des Ministeriums sieht unter anderem vor, die Omnibusse aus dem Stadtzentrum zu verbannen, nicht aber die Microbusse. „Das Ministerium hält Konzessionen die Microbusse“, erläutert Genaro Ramirez, Vorsitzender des Verbandes der Autobusunternehmer, „und bevorzugt sie deshalb bei der Zuteilung von Routen und Haltestellen in der Stadt.“

Auf halbem Weg zwischen Apopa und Nejapa, zwei Vororten im Norden von San Salvador, säumen Müllhalden die Straße, so weit das Auge reicht. Das Ministerium für Umwelt und Natürliche Ressourcen hat vor kurzem die Genehmigung zum Bau einer Deponie und Wiederverwertungsanlage in Apopa verweigert. Das Vorhaben, von Héctor Silva und neun weiteren FMLN-regierten Stadtverwaltungen initiiert, wurde von der Regierung als „nicht machbar“ bezeichnet. Die staatliche Verwaltung für Wasserleitungen und Abwässer (ANDA) verweist auf das Risiko der Grundwasserverschmutzung. Mit diesem letzten Bescheid widerspricht die Behörde nicht nur ihren früheren Eigengutachten, sondern auch der von der Stadtverwaltung bei der kanadischen Firma Cintec-Mides in Auftrag gegebenen Expertise.

Juan Estrada ist Bürgermeister der FMLN-regierten Stadt Apopa. Seiner Ansicht nach geht es in dieser Frage „nicht um Umweltverschmutzung, sondern um den Mehrwert des Bodens“. Dazu meint Silvas Umweltberater Facundo Guardado: „Die Beweggründe sind politischer und wirtschaftlicher Natur. Nach den Erdbeben im Januar und Februar vorigen Jahres haben die gefährdeten Gebiete am südlichen Stadtrand San Salvadors an Wert verloren. Die Nachfrage nach Bauland hat sich in den Norden verlagert, vor allem nach Apopa. Mit Hilfe der Regierung sperrt sich der Eigentümer des Geländes gegen den Bau der Anlage, weil er jetzt einen besseren Preis erzielen kann.“ Norman Quijano, Arena-Abgeordneter im parlamentarischen Ausschuss für städtische Angelegenheiten, leugnet selbstverständlich „jedes Eigeninteresse“. Er wiederum behauptet, Cintec-Mides unterhalte Kontakte zu kanadischen Gewerkschaften, die ihrerseits die FMLN während des Bürgerkriegs unterstützt hätten.

Beatriz de Carillo ist Leiterin des Menschenrechtsbüros, einer Institution, die zeitgleich mit den Friedensvereinbarungen entstand. Sie hat versucht, die Regierung zum Einlenken zu bewegen. Ohne Erfolg. Wie alle, die sich mit der Materie beschäftigt haben, meint sie: „Nichts spricht gegen den Bau der Anlage. Am allerwenigsten der Untersuchungsbericht der ANDA. Der besteht aus zwei Seiten voller Widersprüche.“ Die Investition von 15 Millionen Dollar würde 150 neue Arbeitsplätze schaffen. Bis auf weiteres häuft sich eben der Müll auf offenen Halden neben der Straße. Vermutlich, weil so das Grundwasser weniger gefährdet ist. Silvas Zorn darüber ist noch lange nicht verraucht: „Diese Weigerung ist ein Beispiel für die Blockadehaltung der Regierung. Sie entscheidet über ein Vorhaben nicht danach, ob sie gut für das Land ist, sondern nach der politischen Zugehörigkeit.“

An öffentlichen Plätzen in San Salvador sieht man überall Schilder: „No armas“ – keine Waffen. El Salvador gehört mit 6 000 bis 8 000 Morden (100 je 100 000 Einwohner) im Jahr zu den gewalttätigsten Ländern Amerikas.5 In den Friedensverträgen von 1992 wurde die Nationale Zivilpolizei (PNC) zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit gegründet. Doch es ist ihr nicht gelungen, die Gewalt einzudämmen, die die Gesellschaft zerrüttet.6 Die Stadtverwaltung von San Salvador hat deshalb ihr Städtisches Polizeikorps (CAM) mobilisiert – die „rote Armee des Magistrats“, wie es von der Rechten genannt wird.

Eduardo Linares ist ehemaliger Offizier und Abgeordneter der FMLN. Er wurde 1997 durch Silva beauftragt, die für Disziplinlosigkeit, Gewalttätigkeit und Machtmissbrauch berüchtigte Polizeieinheit zu übernehmen. Die schlimmsten Übeltäter wurden entlassen und das Niveau der Ausbildung deutlich angehoben. Seither besteht das CAM in der Mehrheit aus Zivilisten, die am Bürgerkrieg nicht beteiligt waren. Auf den Märkten, in den Straßen und Bars versucht diese Polizeitruppe, durch präventive Maßnahmen und Abschreckung die neuen Verordnungen zum Alkoholausschank durchzusetzen.7 Ohne entsprechende finanzielle Mittel und ohne die konkrete Unterstützung durch die PNC gelingt es ihr immerhin, wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung in der Stadt herzustellen.

„Laut Verfassung ist das CAM gar nicht befugt, für Sicherheit zu sorgen“, erklärt Miguel Varela, ein FMLN-Mitglied des Ausschusses der Stadträte. „Aber die 17 000 Polizisten der PNC können mit der hohen Kriminalitätsrate im Land nicht fertig werden. Sie können auch dem Sicherheitsbedürfnis der zwei Millionen Einwohner des Stadtgebiets nicht gerecht werden“, ergänzt Oscar Bonilla, Vorsitzender des Nationalen Rates für Öffentliche Sicherheit (CNSP).

Dies gilt umso mehr, als ernste Zweifel an der Professionalität der PNC bestehen. Im Jahr 2000 gingen 1 680 Beschwerden wegen Übergriffen, bewaffneten Angriffen, Freiheitsberaubungen und sogar Morden ein.8 Präsident Francisco Flores hat zwar versucht, mit einer internen Säuberung und der Entlassung von 1 500 PNC-Mitgliedern allein im Jahr 2000 eine gewisse Ordnung zu schaffen. Doch das Scheitern dieser Operation ist offenkundig. Die PNC ist, entsprechend den Gepflogenheiten der Mächtigen des Landes, durch und durch korrupt.

Fünfzehn Jahre Regierung der Arena-Partei „haben uns die wilde Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, Schwindel erregende Preiserhöhungen und eine dementsprechende Verarmung der Bevölkerung eingebracht“, klagt die Leiterin einer Nichtregierungsorganisation. „Innerhalb von drei Jahren sind die Rechnungen für Strom und Telefon dreimal so teuer geworden. Fehlen nur noch das Wasser, die Gesundheitsversorgung und das Bildungswesen.“ Der Soziologe Antonio Uribe erklärt: „Die Friedensverträge haben den großen Wert auf eine Reform der Institutionen gelegt. Anders als in Kolumbien, wo die Revolutionären Streitkräfte (FARC)9 bei den Verhandlungen immer wieder das Thema des künftigen Wirtschaftsmodells aufs Tapet bringen, wurde diese Frage in El Salvador vollkommen ausgeklammert.“

Zur Entlastung der ehemaligen salvadorianischen Guerilla sollte allerdings noch Folgendes gesagt werden: Die damalige internationale Lage und die Kräfteverhältnisse – vor allem durch das massive Eingreifen der Vereinigten Staaten in Mittelamerika – hätten nicht erlaubt, mit den Forderungen weiter als bis zur Schaffung eines demokratischen Rechtsstaates zu gehen. In El Salvador herrschten seit sehr langer Zeit rückständige Oligarchen und Militärs. Die einzige wirkliche Alternative wäre die Fortsetzung des brutalen Krieges über noch viele Jahre gewesen – und das ohne jede Aussicht auf einen militärischen Sieg.

Zehn Jahre nach den Friedensverträgen scheint selbst die Natur über den „Däumling“ Mittelamerikas herzufallen (El Salvador ist etwa so groß wie die Insel Sardinien). Auf die zwei großen Erdbeben, die Anfang des vergangenen Jahres die Hälfte des Landes verwüsteten, folgte eine monatelange und katastrophale Dürre. El Salvador liegt darnieder, und die internationale Hilfe kann nur die Wunden pflegen. Mehr als eine Million Salvadorianer leben im US-amerikanischen Exil. Ihre remesas – Geld, das die Emigranten ihren Familien schicken – retten bislang die Wirtschaft des Landes.10 Einstimmig verlangt die Bevölkerung nach einem „politischen Wandel“, und die FMLN bietet einen solchen an. Meinungsumfragen erklären Héctor Silva zum Favoriten der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004. Für viele Sympathisanten der Linken ist er der „akzeptabelste Kandidat der FMLN, nämlich der, der von Seiten der Rechten am wenigesten Widerstand zu erwarten hat“. Bleibt abzuwarten, ob sich der Name Silva in den politischen Auseinandersetzungen des Landes behaupten wird.

Denn die Hoffnung der Bevölkerung auf Veränderungen an der Spitze der Regierung bedeutet nicht unbedingt, dass ein Sieg der FMLN bevorsteht. Die Gemeinderats- und Parlamentswahlen des Jahres 2000 haben nicht nur Stimmengewinne für Héctor Silva, sondern vor allem einen Niedergang der Arena-Partei in der Wählergunst dokumentiert. Dieser Wandel zeichnet sich aber schon seit 1997 ab. Die Wahlabstinenz hat inzwischen 67 Prozent erreicht und beweist, wie groß die Kluft zwischen den Alltagsproblemen der Salvadorianer und der politischen Kaste ist. Insgesamt haben im Jahr 2000 nur 11,7 Prozent der Bevölkerung für die FMLN gestimmt.11 Noch absolviert die Front auf lokaler Ebene ihre Lehrjahre in Sachen demokratischen politischen Handelns. Ihre Amtsführung in den Gemeinden – vor allem in San Salvador –, ihre Fähigkeit zur Erneuerung und zum Überwinden von Widerständen auf Seiten der Rechten bieten der Front die Chance, ihre Regierungsfähigkeit auf nationaler Ebene unter Beweis zu stellen. Die Salvadorianer erwarten jedenfalls greifbare Ergebnisse, „damit 75 000 Menschen nicht umsonst gestorben sind“.

dt. Herwig Engelmann

* Sonderkorrespondent

Fußnoten: 1 Bei den Parlamentswahlen gewann die FMLN 31 Sitze, die Arena-Partei 29. Die restlichen 24 Sitze verteilten sich auf vier Kleinparteien. 2 Nach der Privatisierung der Telekommunikation und der Einführung einer Steuer auf jede Telefonzelle der Stadt waren die Gesellschaften Telefonica und Telecom (eine Tochter von France Télécom) bei der Stadt hoch verschuldet. Beide weigerten sich zunächst, ihre Schulden zu zahlen. Schließlich erklärten sie sich bereit, die Restaurierung je eines historischen Platzes in San Salvador zu übernehmen. 3 Roberto d‘Aubuisson, der Vater des Politikers, wurde im Jahr 1980 vom amerikanischen Botschafter in El Salvador, Robert White, als „psychopathischer Mörder“ eingestuft. Er war Anführer der Todesschwadronen und gilt als geistiger Urheber des tödlichen Attentats auf Oscar Romero, den Erzbischof von San Salvador. D‘Aubuisson starb 1992. 4 Laut einem Entwurf zur Neuorganisation des öffentlichen Transportwesens, den die israelische Gesellschaft Tahal Consulting Engineers im Auftrag des Transportministeriums 1997 ausgearbeitet hat. 5 Mehr als 400 000 Feuerwaffen sind in den Händen von Zivilisten, bei nur 6 Millionen Einwohnern. Siehe José Miguel Cruz, „El Salvador: Diagnóstico de las armas de fuego“. Instituto de opinión pública, Universidad centroamericana José Simeón Cañas, San Salvador, Juli 2000. 6 Die Friedensverträge sahen folgende Zusammensetzung der PNC vor: 60 Prozent Zivilisten, 20 Prozent Mitglieder bestehender Polizeikorps und 20 Prozent ehemalige Guerilleros. 7 Im September 2001 hat die Stadtverwaltung von San Salvador den Ausschank von Alkohol nach Mitternacht an öffentlichen Orten verboten (ley seca, das „trockene Gesetz“). Der Gesetzentwurf wurde von anderen Gemeinden übernommen, aber nach Protesten von Bar- und Clubbetreibern hat das Parlament die Sperrstunde auf 2 Uhr verschoben. 8 „El Estado actual de la seguridad pública y de la justicia penal en El Salvador“. Fundación de estudios para la aplicación del derecho, San Salvador, 2001. 9 Siehe Maurice Lemoine, „Kolombien, eine Nation, zwei Staaten“, Le Monde Diplomatique, Mai 2000. 10 Die Salvadorianische Zentralbank (BCR) schätzt den Wert der Geldsendungen aus dem Ausland – vor allem aus den Vereinigten Staaten – auf 1,9 Milliarden Dollar. Das entspricht 63 Prozent der salvadorianischen Exporte und deckt 85 Prozent des Haushaltsdefizits. (El Diario de Hoy, 15. September 2001.) 11 „Unos resultados electorales desafiantes“, in: „Estudios centroamericanos“, Universidad José Simeón Cañas, Nr. 617, März 2000.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von KARIM BOURTEL