12.04.2002

China an der Leine der Welthandelsorganisation

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China an der Leine der Welthandelsorganisation

Von FRANÇOISE LEMOINE *

IM Dezember letzten Jahres wurden in Doha die Beitrittsverhandlungen Chinas mit der Welthandelsorganisation (WTO) erfolgreich abgeschlossen. Seit Beginn der Gespräche mit der WTO-Vorgängerorganisation GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) im Jahr 1986 ist China zur siebtgrößten Exportnation und achtgrößten Importnation der Welt aufgerückt. Der chinesische Anteil am Welthandel hat sich seit Mitte der Achtzigerjahre verdreifacht und liegt nun bei über 3,5 Prozent. In Doha verpflichtete sich das Reich der Mitte zur allgemeinen Öffnung seiner Märkte, obwohl dies schmerzliche soziale Konsequenzen haben wird.

Der WTO-Beitritt Chinas markiert keinen Bruch, sondern eine neue Etappe der handelspolitischen Liberalisierung, die Ende der Siebzigerjahre eingesetzt hat. Damals konzentrierte sich China auf ausgewählte Exportindustrien, schottete wichtige Branchen wie die Automobil-, die Lebensmittel- und die Konsumgüterindustrie aber weiterhin gegen die internationale Konkurrenz ab. Die selektive Liberalisierung des Waren- und Kapitalverkehrs orientierte sich an den Prioritäten der binnenwirtschaftlichen Entwicklung.

Im Laufe der vergangenen zehn Jahre hat China seine Einfuhrzölle erheblich reduziert. Von durchschnittlich 42,9 Prozent im Jahr 1992 sanken sie auf 36,3 Prozent 1994 und 17,5 Prozent 1997. In den geschützten Sektoren galten zwar weiterhin Spitzenzölle, teils auch Quoten- und Lizenzregelungen, aber Zwischenfabrikate, die nach der Montage oder Weiterverarbeitung wieder exportiert werden sollten, durften zollfrei eingeführt werden, um die Exportindustrie zu fördern. Dieses Präferenzsystem ließ entlang der Küste dynamische Industriezentren entstehen, die gänzlich auf den Weltmarkt ausgerichtet sind. Die Abwicklung von Zuliefer- und Montageverträgen macht derzeit rund die Hälfte des chinesischen Außenhandels aus.1

Seit 1979 genehmigt die Regierung auch Auslandsdirektinvestitionen, die einerseits strengen Auflagen unterliegen, andererseits aber zahlreiche Privilegien, zumal steuerlicher Art, genießen. Die Kapitalien wurden in Sektoren gelenkt, die teils für den Export arbeiten, teils importsubstitutive Güter herstellen (Autos, Telekommunikation, Nahrungsmittel).2

Mit dem Beitritt zur WTO verpflichtete sich China, seinen Binnenmarkt ohne Wenn und Aber zu öffnen. Hierbei geht es vor allem um den Abbau der tarifären (zollrechtlichen) und nichttarifären (Lizenz- und Mengenbeschränkungen) Handelshemmnisse und die Zulassung von Auslandsinvestitionen im Dienstleistungsbereich. Mit der Umsetzung dieser Maßnahmen hat China je nach Sektor bis 2005/2006 Zeit.

Der durchschnittliche Zollsatz von derzeit 17 Prozent muss bis 2005 auf 9,8 Prozent sinken. Bei den Spitzenzöllen sind drastische Schnitte fällig. Der Zoll für Autoimporte soll von derzeit 80–100 Prozent auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Quoten- und Lizenzregelungen bei Industriegütern werden abgeschafft, die Importquoten für Agrarerzeugnisse erhöht.

Die für ausländische Investoren bisher verschlossen gebliebenen Dienstleistungsmärkte müssen schrittweise geöffnet werden, wobei ausländische Kapitalbeteiligungen gewissen Beschränkungen unterliegen. Im Vertrieb werden innerhalb der nächsten fünf Jahre alle Investitionsbeschränkungen fallen, der Groß- und Einzelhandel wird vollständig liberalisiert. Ausländische Unternehmen erhalten das Recht, inländische sowie Importerzeugnisse zu vermarkten und Dienstleistungen in den Bereichen Service und Support, Leasing, Vermietung, Lagerung und dergleichen mehr anzubieten.

Auch Telekommunikations-Dienstleistungen dürfen Auslandsinvestoren in zwei bis sechs Jahren erbringen. Je nach Service liegt die maximal zulässige Kapitalbeteiligung bei 49 oder 50 Prozent. Binnen fünf Jahren erhalten ausländische Banken das Recht, in der Landeswährung sämtliche Geldgeschäfte zu tätigen. Im Versicherungswesen ist die Kapitalbeteiligung auf höchstens 51 Prozent festgelegt, bei den Lebensversicherungen auf 49 Prozent.

Die Exportsubventionen werden abgeschafft. Die staatlichen Agrarbeihilfen dürfen maximal 8,5 Prozent des Erzeugerpreises erreichen, ein recht theoretischer Höchstsatz, wenn man bedenkt, dass die Subventionen derzeit bei 2,5 Prozent liegen und die finanziellen Mittel der öffentlichen Hand durchaus beschränkt sind. Darüber hinaus tritt China dem WTO-Abkommen über geistige Eigentumsrechte bei und verpflichtet sich, die patent-, marken- und urheberrechtlichen Regelungen in nationales Recht zu überführen.

Durch den Beitritt zur WTO gilt für die chinesischen Exporte automatisch die Meistbegüngstigungklausel aller WTO-Mitgliedstaaten. Faktisch genoss China dieses Privileg bei den meisten Haupthandelspartnern schon bisher. Einige Länder, darunter Malaysia, Thailand, Polen, Ungarn, die Türkei und Argentinien, werden ihre Zölle allerdings senken müssen. Ihre Befürchtung, die chinesische Konkurrenz werde ihre arbeitsintensiven Industrien (Textil und Leder) in die Enge treiben, ist wohl nicht ganz unbegründet.

Viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang aber, dass das Welttextilabkommen, das die Textilexporte der Entwicklungsländer in Richtung Europa und USA durch Quotenregelungen beschränkt, im Jahr 2005 auslaufen soll. Gegenüber China behalten sich die WTO-Mitgliedstaaten allerdings das Recht vor, noch bis 2008 Importbeschränkungen aufrechtzuerhalten, falls die chinesische Textilausfuhr das Marktgleichgewicht stört.

Die chinesische Regierung versteht die gegenüber der WTO eingegangenen Verpflichtungen als wirtschaftspolitisches Instrument, um den Reformprozess durch „äußeren“ Druck zu beschleunigen. Die Liberalisierung bei Warenimporten und Auslandsdirektinvestitionen wird den Konkurrenzdruck auf dem Binnenmarkt verstärken und die großteils sehr heterogene und zerplitterte Industrie zu weiterer Rationalisierung und Umstrukturierung zwingen.

Die Beschäftigungskrise, die seit Mitte der Neunzigerjahre in den Städten herrscht, kann sich dadurch nur verschärfen. Viele Industrieunternehmen haben ihre Belegschaft in den letzten Jahren abgebaut, um die Produktivität zu erhöhen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Zwischen 1995 und 1999 fiel die Zahl der Industriebeschäftigten in den Städten von 66 Millionen auf 44 Millionen. Ein gut Teil der Staatsbetriebe wurde privatisiert, die Beschäftigtenzahl im Staatssektor sank von 113 Millionen auf 86 Millionen.3 Die über 100 Kleinunternehmen der Automobilindustrie, dank kommunaler Beihilfen entstanden, werden verschwinden, weil sie unterhalb der kritischen Größe geblieben sind. Dass die Umsetzung der WTO-Beitrittsverpflichtungen auf Widerstand stoßen wird, scheint gewiss. Außer Frage steht freilich auch, dass damit nur der Widerstand gegen die vor einigen Jahren begonnene Reform des Staatssektors weitergeführt wird.4

Insgesamt steht zu erwarten, dass sich China mit der Liberalisierung des Handelsverkehrs zunehmend auf wettbewerbsfähige Sektoren spezialisieren wird, das heißt auf arbeitsintensive Gewerbezweige, in denen das Land im Vergleich mit der Konkurrenz auf dem Weltmarkt Kostenvorteile hat. Alle Untersuchungen stimmen darin überein, dass die Textilindustrie der große Gewinner dieser Entwicklung sein wird. Manchen Schätzungen zufolge könnte sich der Anteil Chinas am weltweiten Bekleidungsexport, der schon jetzt bei 15–20 Prozent liegt, bis 2005 verdoppeln. Dies würde der chinesischen Textil- und Bekleidungsindustrie starke Impulse verleihen und den Sektor in den kommenden Jahren zum wichtigsten industriellen Arbeitsplatzbeschaffer machen. Freilich wird China seine Position auf dem Welttextilmarkt nur zu Lasten anderer Entwicklungsländer ausbauen können.

Zu den Verlierern des WTO-Beitritts gehören die landwirtschaftlichen Großbetriebe (Weizen, Reis und Mais) sowie die kapital- und technologieintensiven Industrien, die der Konkurrenz der wettbewerbsfähigeren Auslandserzeugnisse wohl nicht werden standhalten können. Der Beitrag dieser Sektoren zum Sozialprodukt und zur Beschäftigung wird voraussichtlich sinken. In der Landwirtschaft mit ihren derzeit 340 Millionen Erwerbstätigen könnten 10 Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren. Am stärksten bedroht ist die Automobilindustrie, die sich im Schutz der Einfuhrbeschränkungen entwickelt hat. Die mit Auslandskapital arbeitenden Firmen, die im Pkw-Bereich führend sind – sie unterstützten bei den WTO-Verhandlungen die chinesische Forderung nach Aufrechterhaltung eines gewissen Außenschutzes –, werden ihre Kosten und Preise reduzieren müssen, wenn sie der Importkonkurrenz standhalten wollen.

Eine Spezialisierung auf arbeitsintensive Industrien wird die Beschäftigungseffekte des Wirtschaftswachstums erhöhen, was angesichts der Massenarbeitslosigkeit positiv zu bewerten ist. Dadurch stehen jedoch weniger Ressourcen für kapital- und technologieintensive Sektoren zur Verfügung, was die industrielle Entwicklung bremsen könnte. China mit seinem dank seiner schieren Größe riesigen Binnenmarkt hätte aber durchaus die Möglichkeit, gleichzeitig High-Tech-Industrien5 aufzubauen und die Spezialisierung auf traditionelle Industriezweige mit hoher Arbeitsintensivität voranzutreiben.

Die Anpassungsprozesse im Zuge der Liberalisierung des Waren- und Kapitalverkehrs werden die schon jetzt Besorgnis erregend hohe Arbeitslosigkeit zumindest vorübergehend ansteigen lassen, da die in der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräfte nicht von heute auf morgen in der Industrie unterkommen können. Die amtliche Statistik weist zwar eine Arbeitslosenquote von nur 3,5 Prozent aus, in Wirklichkeit aber liegt sie in den Städten bei mindestens 10 Prozent; weitere 10 Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeiten im informellen Sektor.6

Abgesehen von den negativen Beschäftigungseffekten des WTO-Beitritts hat China auch mit hausgemachten strukturellen Arbeitsmarktproblemen zu kämpfen. In den kommenden zehn Jahren wird die Erwerbsbevölkerung jährlich um 1 Prozent wachsen (10 Millionen Personen), in der Landwirtschaft werden 100 Millionen Menschen ihre Arbeit verlieren, und die Industrie visiert möglichst hohe Produktivitätszuwächse an. Bedingt durch den Übergang zur Marktwirtschaft, werden Massenarbeitslosigkeit und informelle Arbeit wohl auf absehbare Zeit zum chinesischen Alltag gehören.

Der Beitritt zur WTO ist Teil einer langfristig angelegten Entwicklungsstrategie. Die dadurch bedingten Strukturanpassungsprozesse erfordern staatliche Transferleistungen, vor allem einen Ausbau des erst rudimentär vorhandenen sozialen Sicherungssystems, um die sozialen Konsequenzen in Grenzen zu halten.7 Dass der WTO-Beitritt die Position Chinas im internationalen Handel stärken wird, steht außer Zweifel. Ungewiss ist hingegen die innenpolitische Entwicklung. Ob die Regierung wie bisher fähig sein wird, die starken Spannungen unter Kontrolle zu halten, die der soziale und wirtschaftliche Wandel mit sich bringt, wird sich zeigen.

dt. Bodo Schulze

* Ökonomin am Centre d‘Études Prospectives et d‘Information Internationales (CEPII), Paris.

Fußnoten: 1 „Les délocalisations au coeur de l‘expansion du commerce extérieur chinois“, Économie et Statistiques 326/327, Juni/Juli 1999 2 United Nations Conference on Trade and Development, „World Investment Report 2001: Promoting Linkages“, New York und Genf, 2001. In den Neunzigerjahren hat sich China unter den Entwicklungsländern zum Hauptempfängerland ausländischer Direktinvestitionen entwickelt. Insgesamt flossen über 300 Milliarden Dollar ins Land. 3 „Le bol de riz en fer est cassé“, La Lettre du CEPII 202, Paris, Juni 2001. 4 K. J. De Woskin, „The WTO and the Telecommunication Sector in China“, The China Quarterly 167, Oxford, September 2001. 5 J. Dahlman u. J. E. Auber, „China and the Knowledge Economy“, World Bank Institute, Washington, D. C., 2001. 6 D. J. Solinger, „Why We Cannot Count the Unemployed“, The China Quarterly 167, Oxford, September 2001. 7 Bislang existiert kein staatliches Sicherungssystem; für die Gesundheitsversorgung der Angestellten waren die Staatsunternehmen zuständig.

Le Monde diplomatique vom 12.04.2002, von FRANÇOISE LEMOINE